Liebe Festivalbesucher:innen!
Der Mensch ist ein seltsames, ein erschreckendes Tier. Es scheint sich gleichermaßen vorwärts wie im Krebsgang zu bewegen. Es ist das erzählende Tier, und seit Jahrtausenden sucht es nach seiner wahren Natur, scheint sie zwischenzeitlich entdeckt zu haben, nur um im nächsten Augenblick sich selbst nicht mehr zu trauen und sich zu wundern über die immense Zerstörung, die es anzurichten imstande ist. Es verschläft und verträumt ein Drittel seines ganzen Lebens und weiß bis heute nicht genau, was das zu bedeuten hat.
Wenn es sich nun dieser Tage umschaut, muss es feststellen, dass es offenbar bisher nicht in der Lage war, die Verantwortung zu übernehmen für den gesamten Planeten - den es ja nicht allein bevölkert. Nicht nur den Wissenschaften, auch den Künsten kam und kommt die Erforschung der eigenen Natur des Menschen zu, ebenso der Natur, die ihn umgibt. Aber Wissenschaft und Kunst haben nicht den gleichen Begriff von Wahrheit. Und sie arbeiten nicht nur einhellig nebeneinanderher.
Wer mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, wird von Schwindel erfasst. In den Krisen unserer Zeit ist es schwer auszumachen, worin genau das Projekt bestehen könnte, die Menschheit friedfertiger, gerechter, mitfühlender zu machen.
Offen zuzugeben, man sei überfordert angesichts der täglichen Meldungen über Krieg, Verwüstung, schwindende Ressourcen und soziale Ungleichheit, gleicht einem Eingeständnis von Schwäche. Die aber gehört sich nicht; Man muss stark sein, die Übersicht behalten, das Richtige tun - und vor allem beständig und mit Überzeugung jene zurechtweisen, die sich auf dem falschen Pfad befinden. Der Tonfall verschärft sich überall; Rede und Gegenrede folgen einander in Sekundenschnelle; man spricht von notwendigen Debatten, zettelt aber Polemiken und Kampagnen an, zelebriert öffentliche Schuldzuweisungen, klagt über die angebliche Inkompetenz des Gegenübers, das rasch und unaufwendig zum Gegner wird - den man dann wiederum schnellstens zum Feind hochstilisiert, damit die Dramatik stimmt.
Eine wichtige Rolle spielt die Scham, denn womöglich kann man nicht mithalten in dem überbordenden, misstönenden Konzert von gegenwärtigen Stimmen, Stimmungen, Meinungen, Haltungen, Überzeugungen - oder wie immer man das nennen will, was einem zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu Gebote stehen sollte.
Wo aber ist der richtige Ort? Was ist der richtige Zeitpunkt?
Was passiert mit uns, wenn wir zu langsam sind, womöglich zu furchtsam, zu zögernd, zu zweifelnd, »im Stockfinstern herumtappend«, wie Dostojewski es formulierte?
Vielleicht kann das Stockfinstere erhellend sein.
Die Künste haben alle großen Entwicklungsprozesse der Gesellschaft mitgemacht, oftmals haben sie sie vorausgesehen; hinterfragt haben sie sie immer - und sich stets in gebührendem Abstand zur Politik bewegt.
Letztere kann die Künste betrachten, einen offenen Dialog mit ihnen führen oder sie notfalls beargwöhnen. Instrumentalisieren, sie zur Parteinahme zwingen kann sie sie nicht. Um frei zu bleiben, muss die Kunst auf ihrem Recht bestehen, auch im Dunkel tappen zu dürfen, die Suche fortzusetzen, Evidenzen zu hinterfragen und sich ihre eigene Zeit zu nehmen. Diese kann nicht übereinstimmen mit dem pragmatischen Tempo der politischen Alltagsgeschäfte, in denen es um rasche Erfolge geht, um Erledigung, um die - durchschaubaren - Mechanismen des Machterhalts.
Die Künste müssen listig bleiben; beweglich und verletzlich, beharrlich und fordernd, einfühlsam und widerspenstig.
»We are all Detroit« heißt der Film von Ulrike Franke und Michael Loeken (bekannt als filmproduktion loekenfranke), der Menschen in Detroit und Bochum porträtiert, sie erzählen lässt über den brutalen Wandel der Zeit. Der Verlust von Arbeit und der Verfall ganzer Stadtgebiete durch den Niedergang der industriellen Großproduktion werden zu Beginn des Films nicht durch eine Statistik veranschaulicht, sondern mit einem kleinen prophetischen Gedicht in Verbindung gebracht: 1637, mitten in den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, verfasste der deutsche Barockdichter Andreas Gryphius das Sonett »Es ist alles eitel«. Die Zeilen, die von der Hybris und Verletzlichkeit der Menschen und von der Vergänglichkeit ihrer Errungenschaften und aller Materie künden, werden abwechselnd von Bewohner:innen von Detroit und Bochum lakonisch vom Blatt gelesen, ohne Pathos, ohne Pose. »Sounds like he got it« (»Klingt, als hätte er’s kapiert«) sagt ein Detroiter, leicht ungläubig grinsend über den Umstand, dass das Gedicht ein paar Jahrhunderte alt ist und auf einem fernen Kontinent entstand. Über der ganzen Eingangssequenz des Films liegt eine merkwürdige Zärtlichkeit und Heiterkeit. Es ist eine schöne und wichtige Botschaft des Duos loekenfranke, dass der längst entschwundene Poet Gryphius wohl ein Bruder im Geiste jener Menschen ist, die quer über den Globus am heutigen Tag damit kämpfen, von der großen Ökonomie vergessen und schlicht dem Lauf der Zeit überlassen worden zu sein. Es geht hier nicht um abstraktes dokumentarisches Material, sondern um eine äußerst sensible Betrachtung von Menschen und um die Frage nach Verantwortung und den Möglichkeiten des Glücks. Das Individuum müsste mehr sein dürfen »als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t«, wie es im erwähnten Sonett heißt.
Wir freuen uns, dass loekenfranke in dieser Saison ihre Filme bei uns zeigen und unsere Bildstrecke gestalten.
In unserer letzten Festivalausgabe möchten wir weiter nach der Natur des Menschen forschen. In der über drei Jahre laufenden Diskurs- und Lesereihe von und mit Lukas Bärfuss sind Sie diesem Thema, in seinem doppelten Sinne, bereits begegnet.
Die Suche nach den Geistern, nach der Erinnerung, der Präsenz und dem Dialog mit den Toten (in der Spielzeit 2021), führte uns 2022 zu Fragestellungen nach unseren gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens - und 2023 nun zur Auseinandersetzung mit der offenbar noch immer unergründlichen Wesenheit des Menschen, des Individuums, des sich selbst fremden, Geschichten erzählenden Tiers, jenseits aller Theorien, Modelle und Imperative diverser politischer Systeme.
Die Künste fragen weiter, suchen weiter, bringen uns zusammen und machen uns Mut!
Wir sind froh, diesen Sommer mit Ihnen zusammen und mit all den eingeladenen Künstler:innen, von denen viele uns über drei Jahre die Treue halten, Musiktheater, Tanz, Schauspiel, Konzert, Film, Performance, Bildende Kunst und Spartenübergreifendes feiern zu können!
Die drängenden Fragen zu stellen, mit Neugier und Freude, mit Nachdenklichkeit und Gelächter, in freundschaftlicher Nähe und Komplizenschaft.
Ihre Barbara Frey und das Team der Ruhrtriennale