Seit der Gründung Ihrer Theatergruppe Atelier Théâtre et Musique (ATEM) in den 1970er-Jahren im Pariser Vorort Bagnolet wurden Sie zur prägenden Figur im Bereich der Entwicklung des zeitgenössischen Musiktheaters. Das »théâtre musical« kann dabei als Gegenentwurf zur Oper gesehen werden. Ein poetisches, experimentelles musikalisches Theater, in welchem Musiker:innen, Sänger:innen, Schauspieler:innen und bildende Künstler:innen zusammenkommen zum Zweck der kollaborativen Kreation neuer Musiktheaterformen.
Ja, es handelt sich um ein abstraktes, poetisches Musiktheater, das verschiedene Akteure zusammenbringt. Es geht mir dabei weniger darum, ein Gegenstück zur Oper zu finden, parallel habe ich auch Opern komponiert. Meine Herangehensweise ist vielmehr, jede Komponente des Musiktheaters zu isolieren. Zum Beispiel den Text zu isolieren, das Licht, die Bilder, die Klänge, die alle nicht das Gleiche erzählen. Das bedeutet, dass sie frei sind. Was mich dazu bringt, Musik zu schreiben, sind die vielen Möglichkeiten, diese Fragmente zusammenzubringen, übereinanderzulegen oder nebeneinanderzustellen. Fragmente, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Meine Arbeit besteht darin, Verbindungen zu schaffen, aber keine Übergänge! Es sind vielmehr Brüche oder Konflikte oder ein Spiel zwischen den Dingen, ein Hin und Her, um zu einer Konstruktion zu kommen, die ich nicht kenne, die ich nie erwartet hätte und die ich hören möchte. Und so kann eine Art Polyphonie verschiedener Texte, verschiedener Musik etc. entstehen. In der Oper gibt es einen Text, eine Theatersituation, es gibt Figuren und eine Geschichte, die erzählt werden will. Und wenn die Oper fertig komponiert ist, kommt der Regisseur oder die Regisseurin hinzu, um diese Geschichte auf die Bühne zu bringen. Im »théâtre musical« hingegen gibt es ein Thema, das ich von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten, über das ich verschiedene Geschichten zu erzählen versuche. Hier ist es die Mine, davor hatte ich etwas über Roboter gemacht, oder einen Abend über Überwachung und Kontrolle. Das sind alles Themen, um die ich mich dann drehe. Doch alles, was Musik, Klang oder Video betrifft, ist am Anfang unabhängig. Jedes Ding hat sein eigenes Leben. Daraus versuche ich, eine Vielstimmigkeit zu erzeugen. Es ist also etwas völlig anderes, als eine lineare Geschichte zu erzählen. Und letztlich ist es das Publikum, das zur Erzählung wird, denn es macht die Geschichten. Ich gebe nur die Elemente vor. Oft erzählen mir Leute nach einer Vorstellung, dass sie an demselben Abend ganz unterschiedliche Dinge erlebt haben. Das macht mich sehr glücklich.
Sie selber haben Ihr Schaffen einmal als »faire musique de tout«(Musik aus allem machen) bezeichnet. Was verstehen Sie darunter?
Das ist keine Erfindung von mir. Es ist die Idee, dass Musik auch eine visuelle Komponente hat. Das heißt, dass Gesten – wenn sie in einer musikalischen Zeit stehen – selber zu Musik werden, und dass schließlich alles, was sich innerhalb dieser Zeit befindet, zu Musik werden kann. Das ist wie im Theater, wenn man eine theatrale Zeit einrichtet. Und für mich steht das Theater immer auch in einer musikalischen Zeit, einer Zeit, in die man Ereignisse eintragen kann. Musiker:innen oder Sänger:innen oder Schauspieler:innen können für eine kurze Zeit zu einer Figur werden, auch nur für ein paar Sekunden. Und dann machen sie etwas anderes, weil die Musik ihnen das vorgibt. Es geht nicht nur darum, das Instrument zu spielen, es ist der ganze Körper, der involviert ist, die Verhaltensweisen. Sprache und Körper, Kommunikation und Interaktion bilden den Fokus. Man könnte sagen, dass es wie ein Puzzle ist, dass man unterschiedliche Moment wahrnimmt, dass zum Beispiel der Trompeter schließlich auf eine etwas verschwommene Art und Weise doch zu einer Figur geworden ist, ohne dass man genau wüsste, zu welcher. Man hat eine Idee, konkreter als gedacht, aber man kann es nicht definieren. Es ist nicht nur der schöne Klang, der die Musik ausmacht.
Mit der Gleichstellung von Musik, Sprache, Gestik und Mimik öffnet sich Ihnen ein ganzes Forschungsfeld. Ihre Stücke integrieren vokale, instrumentale, narrative und szenische Elemente in einen einzigen Ausdrucksrahmen. Das Musizieren selber wird zur szenischen Aktion. Wie entwickeln Sie eine solche Produktion? Ist auch dies ein kollektiver Prozess?
Meistens fange ich alleine an, um zu sehen, wohin die Reise geht. Dann habe ich gesehen, dass die Zeichnungen, die Jeanne Apergis anfertigt, sehr gut mit der Welt funktionieren könnten, die ich mir vorstellte, und eine Distanz zu einem konkreteren Theaterspiel schaffen. Ich habe ihr also davon erzählt und sie hat ein paar Versuche gemacht. Das läuft dann alles parallel. Ich habe angefangen zu schreiben und gleichzeitig mit Daniel Lévy über die Beleuchtung gesprochen und mit Nina Bonardi über die Bühne. Und so kommt alles zusammen, man trifft sich bei mir zu Hause und arbeitet gemeinsam weiter. Jérôme Truncer ist für das Video dazugekommen. Und natürlich war Jean-Christophe Bailly von Anfang an dabei. Nach und nach fügen sich dann all diese Aspekte zusammen, während ich die Musik schreibe.
Mit dem WEGE-Projekt lässt sich im Rahmen der Ruhrtriennale die Vielfalt des Ruhrgebiets erwandern und erfahren. An der letztjährigen Ruhrtriennale hat der südamerikanische Künstler Lisandro Rodriguez den Weg zum Landschaftspark Duisburg-Nord mit Fragen bepflastert über das Verhältnis von Kunst und Bergbau, über Verhältnisse von Macht und Natur. In seinem Projekt EL EXTRANJERO sah er sich als ein Fremder, der Fragen stellt, um zu verstehen. Eine dieser Fragen lautete: »Ist Kunst der neue Bergbau?«
Oft denke ich, dass die tägliche Arbeit des Künstlers darin besteht, jeden Morgen in die Mine hinabzusteigen, um Material nach oben zu schaffen. Jeden Morgen nimmt man die Arbeit erneut auf, fragt sich, was passieren, was dabei herauskommen wird. Es ist natürlich nicht so hart und gefährlich wie in der Mine, sozial gesehen hat es nichts damit zu tun. Aber es ist der Grund des Schachtes, in den man hinabsteigen muss. Es ist auf jeden Fall eine Metapher für Konzentration, für den Versuch, in sich zu gehen, um Dinge zu hören. Ohne sich zu betrügen, ohne zu lügen.