Ein Sommernachstraum, v.l.n.r.: Langston Uibel, Lili Winderlich
Ein Sommernachstraum, v.l.n.r.: Langston Uibel, Lili Winderlich | © Matthias Horn

Andreas Karlaganis: Bei Lektüre des Sommernachtstraums fällt auf, wie viele Themen darin verhandelt werden, die uns heute auch bewegen, von der Klimakatastrophe bis zur Triggerwarnung im Theater. Und es ist ein zeitloses Stück über die Verwandlung.

Christina Wald: Der Sommernachtstraum wird unterschätzt, wenn man denkt, er sei eine liebliche Komödie über Feen. Zu Shakespeares Zeit gab es so etwas wie den Sommernachtswahnsinn während einer festlichen Zeit im Mai und Juni, zu der Jugendliche zusammen in den Wald zogen. Natürlich war nicht gedacht, dass man sich unmoralisch entgrenzt, aber es war dennoch ein Initiationsritus mit Transgressionspotential. Es gab die Idee, dass es dabei zu Verwandlungen kommen könnte, sowohl innerer als auch äußerer Art, bei denen Hexerei im Spiel sein könnte. Neben solchen Bräuchen war Shakespeare literarisch von Ovids Metamorphosen inspiriert, die uns Verwandlungen vom Menschen ins Posthumane zeigen, sei es in Pflanzen oder in Tiere. Es sind ambivalente Verwandlungen. Es können Erlösungen, es können aber auch Bestrafungen sein, wie Gefangenschaften im falschen Körper, ein Thema, das uns im Rahmen der Transsexualität gerade sehr beschäftigt. Die enge körperliche Verknüpfung von nicht-menschlicher Umwelt und Menschen wiederum wird in der Ökokritik immer deutlicher betont. Zettel, der Handwerker, wird in einen Esel verwandelt, doch interessanterweise nicht komplett, sondern er kriegt nur dessen Kopf. Er wird zum hybriden Wesen. Die Ökokritik spricht von »Trans-species«, ein Begriff, der deutlich machen soll, dass der Mensch nicht so souverän und unabhängig ist von der Tierwelt und der Natur, wie wir es über Jahrhunderte glauben wollten. Der Klimawandel und die Pandemie haben uns deutlich gemacht, dass wir von Mikroben, Viren, dem Wetter usw. abhängig sind und also vernetzt sind mit der Natur. Insofern ist Ein Sommernachtstraum tatsächlich ein Stück der Stunde.

Der Übergang zur alternativen Lebensform scheint mit Gefühlen des Grauens verbunden zu sein. Man erkundet Dinge im Wald, die etwas mit einem selbst zu tun haben, die einen aber beunruhigen.

CW Ja, Shakespeare zeigt uns auch einen Mittsommernachtsalbtraum, auch wenn sich für manche Figuren Wunschträume erfüllen. So wechselt Lysander das Liebesobjekt, aber er leidet nicht so stark wie manche der anderen. Auch Zettel realisiert nicht, dass er in einen Esel verwandelt ist und wundert sich, warum er so abgöttisch geliebt wird von der Feenkönigin Titania. Erst danach ist er verstört und versucht, sein Erlebnis in Worte zu fassen. Er ringt um eine Sprache, die versucht, den Traum darzustellen. Bei Titania ist die Deutung umstritten: gerät sie in einen Albtraum oder kann sie ausleben, was sie sich immer schon gewünscht hat? Des einen Wunschtraum wird zum Albtraum des andern. Das können wir in der unglücklichen Liebe tatsächlich oft sehen.

Theater ist die Kunst der Verwandlung. In welchem Zustand ist der Mensch überhaupt fähig, sich zu verwandeln?

CW Die Handwerker werden »rude mechanicals« genannt und verstehen Theater als basales Handwerk. Andererseits stehen auch die Elfen für das Theater, und Puck beginnt seinen Schlussmonolog mit den Worten: »If we shadows have offended…«. Das Theater ist somit verortet zwischen Handwerk und Zauberei, jener hohen Kunst, die für den Menschen eigentlich gar nicht zugänglich ist. Es ist der Raum, wo Verwandlung und alternative Wahrnehmung möglich sind. Auch wird die Frage aufgeworfen, wie begrenzt diese Verwandlung ist. Endet sie mit dem Theaterabend oder geht sie darüber hinaus? Es ist ausschlaggebend, dass Demetrius am Ende nicht zurückverwandelt wird. Wenn wir das Theater eher mit der Zauberei und der Magie assoziieren wollen, dann kann etwas davon weiterbestehen. Das wäre die Hoffnung, die das Theater eigentlich hat.

Bei Zauberei spielen auch Substanzen eine Rolle – ein Elixier wird den schlafenden Menschen von den Elfen in die Augen getropft. Heute könnte man diesen Zustand mit Drogen herstellen.

CW Bei Shakespeare ist die Grenze zwischen schädlichen Drogen und hilfreichem Medikament nicht klar gezogen. »Potion« ist ein neutraler Ausdruck, selbst das englische »drug kann beides bedeuten, wir kennen den Ausdruck »drugstore« für Drogerie. Wir haben also das ganze Spektrum zwischen Therapie, Rausch und Gift für diese Mittel der Zeit. Im Sommernachtstraum wird die Liebe ohnehin als Rauschzustand dargestellt. Wenn man sich die aktuelle Hirnforschung oder die Erkenntnisse der Biochemie anschaut, wird deutlich, dass der Zustand der Verliebtheit ähnlich funktioniert. Oberon erzählt stolz die Entstehungsgeschichte jener Blume, für die es damals verschiedene Begriffe gab und die nur der Elfenkönig finden könne. Wenn man sich genauer ansieht, was es mit diesem »love-juice« auf sich hat, sieht man allerdings, dass es ein wildes Stiefmütterchen ist, das in Shakespeares Zeit in England in jedem Garten wuchs. Wir wissen, dass in Gesetzeserlassen der Zeit die Herstellung von Liebestränken verboten wurde, es also einen gewissen Glauben daran gegeben haben muss. Das Stück spielt mit dieser kulturellen Phantasie, respektive der kulturellen Angst.

Nach dem Ende des Rauschs der Sommernacht beschreibt Puck die verdammten Seelen, die sich voller Scham vor dem Tag retten.

CW Puck spielt auf Menschen an, die durch Selbstmord gestorben sind oder aus anderen Gründen nicht anständig beerdigt werden konnten und deswegen die Lebenden weiter heimsuchen und nachts umherwandern müssen. Nichtsdestotrotz ist es auch für die ganze Komödie interessant, dass Puck am Ende einer ausschweifenden Phantasie-Nacht von der Scham der Rückkehr spricht. Zu Shakespeares Zeit wurde das Theater von den Autoritäten ja als eine gefährliche Gegenwelt zu den Moralvorstellungen der Kirche verstanden. Das war ein Grund, warum keine Frauen als Schauspielerinnen auftreten durften, weil allein diese Zurschaustellung für den öffentlichen Blick als sexueller Akt begriffen wurde. Daher die »boy-actors«, die ihrerseits nochmal ganz andere Fragen betreffend Repräsentation von Geschlecht und Sexualität aufwerfen. Das Theater wurde von den Puritanern zu der Zeit als eine Gefahrenquelle gesehen, eine mögliche Quelle der Verwandlung der Gesellschaft, auf eine Art und Weise, die nicht gewünscht war.

Kann man die Zeit, in welcher der Sommernachtstraum entstand, mit der heutigen Zeit vergleichen, wo sich Teile der patriarchalen Welt aus vielen Gründen ebenfalls mit rabiater Gewalt gegen Transformationen zur Wehr setzen?

CW Patriarchal war das damalige System natürlich, trotzdem hatte es über Jahrzehnte mit Elisabeth I. eine weibliche Herrscherin, die das Patriarchat geschickt für sich zu nutzen wusste und sich auch als »a prince« präsentierte. Und zugleich war sie die »virgin queen«. Sie hat für sich eine über- respektive doppelgeschlechtliche Identität inszeniert. Es ist insgesamt interessant an der frühen Neuzeit, dass es im Vergleich zu heute einerseits rigidere und moralischere Vorstellungen gab, die bis in die Details der gesetzlichen Kleiderordnung gingen, um Klassen- und Geschlechterzugehörigkeit zweifelsfrei zu signalisieren. Andererseits gab es im Theater aber strukturell vorgegeben Männer, die sich als Frauen verkleideten. In vielen Shakespeare-Komödien verkleiden sich diese Frauen wieder zu Männern. Infolge davon haben wir ganz oft unklare sexuell-erotische Anziehungen, die gleichgeschlechtlich sind oder sich gerade für die uneindeutige Geschlechtlichkeit interessieren. Was auch fasziniert, und das bringt uns zur Verwandlung zurück, ist dass man zu Shakespeares Zeit von dem »one sex model« ausgegangen ist. Eine sehr patriarchale Vorstellung, die davon ausging, dass das einzige und eigentliche Geschlecht das männliche ist und Frauen in einer Vorstufe verhaftet sind. Man hat sich das biologisch so vorgestellt, dass Frauen einen nach Innen invertierten Penis haben, welcher durch mangelnde Körperhitze nicht nach Außen getreten ist. Wenn man sich Zeichnungen aus der Zeit anschaut, unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von heutigen Darstellungen der Geschlechtsorgane. Das legt nahe, dass sich Frauen damals zumindest theoretisch zu Männern verwandeln konnten. Es gab Geschichten, die besagten, dass dies auch passiert sei. Konkret handelte es zum Teil um die Auflösung für lesbische Liebesgeschichten: Eine Frau hat sich zum Mann »verwandelt« und konnte so auch offiziell mit ihrer Partnerin zusammenleben.

›Ein Sommernachtstraum‹ war schon damals ein nostalgischer Blick auf eine von den Menschen unberührte Natur. Christina Wald

Athen ist der Ort, der die Flucht und den Traum überhaupt erst auslöst. Das Stück beginnt mit der Todesdrohung eines Vaters gegen seine Tochter Hermia.

CW Shakespeare braucht nur ein paar Zeilen, um deutlich zu machen, wie rigide dieses System ist. Er führt ein patriarchales Muster ein, in dem Theseus, der Herrscher Athens, sagt, die Väter können die Töchter wie Wachs formen und auch verformen. Der Vater ist ein Gott, der erschaffen, aber auch zerstören darf. Dieses System wird gespiegelt, indem Theseus in der Vorgeschichte die Amazonenkönigin Hippolyta unterwirft. Wenn man sich den Mythos der Amazonen genauer anschaut, sieht man aber, dass in diesem Matriarchat wiederum die jungen Söhne, wie auch deren Väter, umgebracht wurden. Kein nachhaltiges Zukunftsmodell also, sondern einfach das invertierte bestehende Modell als männliche Angstphantasie. Die Frage ist, ob uns die Wald- und Feenwelt eine Alternative bietet, einen dritten Raum? Schon allein die Tatsache, dass die Feen sich geschlechtlich nicht einordnen lassen, ist etwas, das über die konventionelle Klassifikation und Machtverteilung hinausgehen und somit tatsächlich eine Gegenwelt bieten könnte.

Welches Verhältnis hatte Shakespeare zur Natur? Er lebte damals ja auch in Zeiten, in denen beispielsweise die Wälder verschwanden.

CW Es handelte sich nicht um Waldsterben im Sinne von Erkrankung, sondern um Abholzung, weil das Holz gebraucht wurde. Die Gegenwelt war also schon zu Shakespeares Zeit bedroht. Der Wald war nicht mehr ganz so dicht, nicht mehr ganz so groß, nicht mehr ganz so weit von der Zivilisation entfernt und fiel der Ausbeutung zum Opfer. Ein Sommernachtstraum war schon damals ein nostalgischer Blick auf eine von den Menschen unberührte Natur.

Titania spricht von der Veränderung des Klimas. Was sagt sie uns da?

CW Das Klima ist aus den Fugen geraten, weil Titania und Oberon im Streit sind. Das kann man heute als ein Klimawandel-Horrorszenario lesen. Titania spricht von »contagious fogs«, die die Menschen heimsuchen, Flüsse über ihre Ufer treten lassen und die Ernte ruinieren. Die Menschen leiden auch an gestörten Jahreszeiten mit unvorhersehbarer Hitze und Frost. Vielleicht hätte man diese Zeilen vor 50 Jahren in einer Inszenierung eher gestrichen. Für uns machen sie den Sommernachtstraum heute besonders interessant.

Gab es damals schon ein kritisches Verhältnis zum Kolonialismus, der im Stück thematisiert wird und dessen Folgen der Ausbeutung heute aufgearbeitet werden?

CW Das ist eine ganz generelle Frage bei den Shakespeare-Dramen. Sind sie misogyn oder kritisieren sie Misogynie? Sind sie antisemitisch und rassistisch oder kritisieren sie Antisemitismus und Rassismus? Die gleiche Frage betrifft auch den Kolonialismus. Hier wird er angesprochen, im Sturm ist er eine zentrale Frage. Was wir sagen können ist, dass es zu der Zeit durchaus schon kritische Stimmen gab. Aphra Behn verfasste im 17. Jahrhundert zum Beispiel die Geschichte Oroonoko, in der sie eine afrikanische Identifikationsfigur zeigt, die versklavt wird. Dagegen stand natürlich immer das wirtschaftliche Interesse. Der Hauptdiskurs war, dass es um Land ging, von dem man meinte, dass es einem zustünde und man es daher unterwerfen dürfe. Auch hier sind die Feen wieder interessant. Sie sind wie wir heute. Sie können ganz schnell die Welt umrunden und Dinge von überall auf der Welt konsumieren und mitbringen. Die Feen sind globale Figuren. Zu Shakespeares Zeit war das noch ein utopisches Zukunftsszenario. Inzwischen haben wir so gelebt und müssen nun wieder zurückschrauben.

Im Ruhrgebiet könnte man das als Referenz auf ein postindustrielles Zeitalter lesen.

CW Vielleicht wirft das sogar ein postapokalyptisches Szenario auf. Der Roman und die Fernsehserie Station 11 spielen in einer Postapokalypse, ausgelöst durch eine Pandemie, die 99% aller Menschen getötet hat. Interessanterweise formiert sich dort eine Theatergruppe, die Shakespearedramen aufführen und die feststellt, sie müssen die Komödien spielen, um den Menschen ein positiveres Bild zu vermitteln, also zeigt sie Sommernachtstraum. Wir wenden uns heute wieder den präindustriellen Dramen zu, die zu einer Zeit entstanden, als man manche Ängste, zum Beispiel aufgrund der Abholzung, bereits kannte. Aus unserer Post-Perspektive schauen wir zurück und fragen, was kann uns diese Prä-Perspektive erzählen? Nicht nur über unsere Vergangenheit, sondern vielleicht auch über unsere Zukunft?

Nach dem Niedergang entsteht etwas Neues, das mit Spiel zu tun hat.

CW Das Theater ist ja auch die Kunst des Recyclings. Stücke werden immer wieder neu inszeniert, Kostüme werden teilweise aus dem Fundus genommen, Schauspieler:innen, die in demselben Stück schon gespielt haben, lassen dieses in einer anderen Rolle neu auferstehen. Das passt auch sehr zu unserem heutigen Nachhaltigkeitsgedanken. So gesehen ist Theater eine ökologische Kunstform!

CHRISTINA WALD ist Professorin für Englische und Allgemeine Literaturwissenschaft und Direktorin des Zentrums für kulturwissenschaftliche Forschung an der Universität Konstanz. Zuvor lehrte sie an den Universitäten Köln und Augsburg, an der Humboldt-Universität Berlin und an der Harvard University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind zeitgenössische Dramen, Performances, Filme und Fernsehserien sowie Shakespeares Dramen und frühneuzeitliche Prosaerzählungen mit besonderem Interesse an Fragen der Adaption, Intertextualität und transkulturellen Formenwanderung. Sie forscht derzeit als Mitglied des NOMIS-Forschungsprojekts Traveling Forms zu postkolonialen Tragödienadaptionen. Sie ist die Autorin von Hysteria, Trauma and Melancholia: Performative Maladies in Contemporary Anglophone Drama (2007), The Reformation of Romance: The Eucharist, Disguise and Foreign Fashion in Early Modern Prose Fiction (2014) und Shakespeare’s Serial Returns in Complex TV (2020). In Vorbereitung auf die Sommernachtstraum-Inszenierung von Barbara Frey sprach sie mit ANDREAS KARLAGANIS, dem leitenden Dramaturgen des Burgtheater Wien, das diese Arbeit koproduziert.