© Olga Meerson

Lassen Sie mich den Anfang machen mit einer Abzweigung meiner eigenen Einleitung zu Dostojewskis Tabus. Vielleicht sollte ich mit dem beginnen, was es nicht in die Oper geschafft hat. Schließlich ist die Oper für den Roman das, was die Spitze für den Eisberg ist – eine Metonymie. Der Roman selbst fungiert dahingegen als Samenkern der gesamten späteren Poetik Dostojewskis, wenn nicht sogar seines gesamten Werkes.

Die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus selbst sind in gewisser Weise Dostojewskis spätere Handlungsstränge, Motive, Poetiken und Muster der Figurenentwicklung in konzentrierter Form. Im Totenhaus treten die tabuisierten Verwundbarkeiten von Figuren und Erzählern in den Vordergrund. Während sich seine Figuren von Objekten der Beschreibung zu Subjekten entwickeln, die selbst andere wahrnehmen, entsteht aus dieser Entwicklung - vom Gesehenwerden hin zum Sehen - eine neue Art der Porträtierung, die Bakhtin als die Porträtierung des Gewissens von Verbrechern beschreibt. So plagt diese Figuren nicht die Wahrnehmung anderer ihrer selbst, sondern wie sie wahrnehmen, was auch immer sie an anderen oder an sich selbst beobachten. Sie können ihre Betrachtungen selten in Worte fassen, aber so funktioniert das Gewissen eben oft: Es zeigt auf, was ontologisch, und nicht was juristisch falsch ist. Anstelle ihres Konflikts mit dem Gesetz quält sie eine persönliche Hölle aus dem Inneren heraus. In den von Janáček ausgewählten Episoden lässt er ihre Geschichten genau auf diese Weise wirken: Wir werden Zeuge der Gewissensqualen dieser Figuren, nicht ihrer strafrechtlichen Verfolgung.

Ich für meinen Teil verweile besonders bei der genauen Lektüre der Badehaus-Episode, in der Petrow, ein verurteilter Mörder, plötzlich überaus sensibel wird, als Gorjántschikow die Hölle als kraftvolle Metapher für die Badehaus-Kulisse selbst anführt. Petrow ist kaum ein Musterbeispiel für Anstand – ebenso wenig wie 90% aller nachfolgenden Figuren von Dostojewski. Hätte er mehr Wert auf Anstand gelegt, so hätte Dostojewski ihn weniger geliebt – wie Luzhin, Totski oder Miusow, von denen keiner ein Mörder ist. Warum also zeigt sich Petrow dann hier so überaus empfindsam? Für ihn bezeichnet wohl das Wort Hölle ein wörtlich zu nehmendes Abbild persönlicher Vergeltung oder seines inneren Gewissenszustands im Augenblick. Dieses Motiv der unerwarteten Sensibilität von Mördern oder anderen schweren Sündern bei Dostojewski sollte später sein Verständnis des Gewissens als internem Ankläger im Kontrast zu externen strafrechtlichen Anklagen oder Anschuldigungen heraufbeschwören. Er würde dieser Kontrastierung bis zu dem Punkt treu bleiben, als dass er selbst als Verteidiger ad hoc fungierte. Ab dem Augenblick, in dem die Untat des Sünders dessen Gewissen durchdringt, ist jegliche rechtliche Bestrafung ausgeschlossen – einzig ihn mit seiner inneren Hölle allein zu lassen führt zu aufrichtiger Reue.

Seltsamerweise ist gerade Akulkas Ehemann für dieses Motiv verinnerlichter Moral relevant: Im Gegensatz zu Dostojewski ist Gorjántschikow tatsächlich kein politischer Gefangener. Bezeichnenderweise betrachtet Janáček, wie viele andere Leser auch, ihn hingegen - gleich seinem Autor – eben doch als politischen Gefangenen. Dostojewski gibt vor, dass Gorjántschikow seine Frau getötet hat. Jedoch wirkt er im Umgang mit anderen Verbrechern wie ein Außenseiter, der vorwiegend politische Absichten und Kritik ausdrückt, womit er sich von den Belangen dieser Verbrecher abhebt. All seine taktlose Neugier gegenüber Mördern wie Petrow, sogar seine schriftstellerische Fähigkeit, Höllenmetaphern für das Gefängnis- und Exilsystem von Nikolaus I. zu gebrauchen, stoßen auf taube Ohren.

Wenn er jedoch so spricht und schreibt, erzählt und analysiert wie Dostojewski selbst, warum sollte dieser ihn dann überhaupt zum Mörder seiner Frau machen? Es scheint, dass es bei Gorjántschikow noch einen weiteren Punkt gibt, der auch für Dostojewskis Charakterisierungsmuster wegweisend ist: Gorjántschikow selbst sieht andere und die unauflösbaren Widersprüche zwischen ihrem Bewusstsein und ihrem Gewissen sehr klar, erkennt gleichzeitig jedoch nicht, dass er dieselben Paradoxien in sich trägt. So wird Akulkas Ehemann ein Exempel für die Projektion von Gorjántschikows Charakter. Später stoßen wir auf denselben Wesenszug unter anderem bei Raskolnikow (gegen Swidrigailow), Stawrogin (gegen Liputin u. a.), Jewgeni Pawlowitsch und vielen anderen (gegen Fürst Myschkin). In Anlehnung an die Philokalie kann ein solcher Wesenszug theoretisch als der Dämon der Sehergabe im Blick auf die Sünden anderer definiert werden (dieser Ausdruck stammt von meinem Mann, einem orthodoxen Priester mit einem unheimlichen Sinn für Humor).

Keine dieser Beobachtungen zielt darauf ab, die Eindrücklichkeit von Dostojewskis Sozialkritik am sibirischen Gefängnissystem von Nikolaus I. zu minimieren – das die Sowjets vollständig überahmen und noch infernalischer ausgestalteten als Gulags. Und doch bleibt Dostojewskis Standpunkt der, dass ein solches Strafsystem bei der Korrektur echter Krimineller, Mörder usw. zwangsläufig sein Ziel verfehlen wird:  Die Einschränkung der Freiheit macht Reue unmöglich.

Kürzlich habe ich auch die Geschichte von Isai Fomich unterrichtet. Ungeachtet seines Antisemitismus betrachten die Gefangenen Isai Fomich als einen Leuchtturm der Freiheit – insbesondere gerade dann, wenn er betet – wenn er an Sabbattagen freien Zugang zur örtlichen Synagoge erhält; wenn er weder Notiz nimmt von der Wut oder gar der Anwesenheit des unterdrückerischen Platzmajors, noch davon der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein, er habe behauptet, alle Juden hätten beim Verlassen Ägyptens angeblich Kauderwelsch gesungen: Tatsächlich basiert das lalailaila, das Gorjántschikow als Unsinn bezeichnet, auf einer sehr beliebten Seder Hymne mit dem Refrain dai-dayenu.

Gorjántschikow ist das vielleicht nicht bewusst, aber Dostojewski weiß es vielleicht dennoch, insbesondere angesichts seiner Freundschaft und seines Streitschriftwechsels mit Kowner.

Um es kurz zu fassen: Obwohl Dostojewski nie politisch korrekt ist, ist die Welt seiner Sünder vom gleichen Freiheitsideal geprägt wie seine eigene. Was für Janáček an all diesen Vorstellungen von Freiheit und Subjektivität am wichtigsten zu sein scheint, sind die Stimmen der so unterschiedlichen Charaktere, die ihre Geschichten auf sehr fesselnde Weise erzählen können – indem sie sie rezitativ singen.

Aus dem Englischen übertragen von Sandra Hamilton