Dieses, im Selbstverlag erschienene, Buch fand mich beinahe zufällig, als ich gerade »Rummelplatz« von Werner Bräunig ausgelesen hatte und eine tiefe Leere empfand, an deren Rändern sich Fragen sammelten. Wie lebte der Sozialist und Arbeiter-Schriftsteller Bräunig mit den öffentlichen Anfeindungen gegen seine Literatur und dem Nichterscheinen seines Romans? Wie hielt der Künstler Bräunig sein zwangsweise herbeigeführtes »Scheitern« aus? Und unter welchen Umständen starb der Mensch Werner Bräunig mit 42 Jahren?
Anna-Lena Wenzel verbringt ein Stipendium in Halle-Neustadt, jenem Vorzeigeprojekt sozialistischen Wohnungsbaus mit den typischen Platten, in denen auch ich meine Kindheit verbrachte (wenn auch in einer anderen Stadt) und in die sich Bräunig 1968 zum zurückzog, zum Trinken oder um sich neu zu erfinden. Wenzels Text besteht aus tagebuchartigen Notizen, die sich der Person Bräunig von verschiedenen Seiten nähern, vor allem – und das gefällt mir am allerbesten – unter dem direkten Einfluss des konkreten Orts Halle-Neustadt. Es macht Spaß zu lesen, wie sie sich diesem aussetzt, an ihm verzweifelt und sogar vor ihm flieht, um dann wieder zu ihm zurückzukehren.
Berührend ist auch der persönliche Zugang Anna-Lena Wenzels, der bereits aus einer vorangestellten Widmung an ihren, ebenfalls in seinen Vierzigerjahren verstorbenen, Vater Wolfgang Wenzel hervorgeht. Sensibel und respektvoll befragt die Autorin das Leiden beider Männer und die Umstände, die ihnen das Leben unmöglich machten. Dabei hinterfragt sie stets auch ihre eigene Position, als Nachgeborene, als Zurückgelassene, als Nicht-ostdeutsch-Sozialisierte. Viele meiner eingangs erwähnter Fragen beantwortet dieser kluge Text, der darüber hinaus noch um ein sehr aufschlussreiches Interview mit Bräunigs Sohn Claus Bräunig ergänzt wird. Vor allem macht er Lust nach Halle-Neustadt zu fahren oder an jeden anderen Ort, an dem wir Spuren finden werden, die mit uns zu tun haben.
Stefan Wartenberg, Februar 2023