Nun ja, die ganze Oper ist unbequem (lacht). Der Regisseur nimmt also das Publikum beim Wort, als würde er sagen: »Wenn Ihr diese Oper ernst nehmt, dann müsst Ihr konsequent sein. Setzt Euch ihrer Zumutung aus«. Wir selbst sind die andere Möglichkeitsform des Gegenübers, und das Gegenüber, der Täter, ist die andere Möglichkeitsform unserer selbst. Trotzdem hat man als Zuschauer Privilegien: Man hat die freie Wahl, jederzeit den Ort zu verlassen. Und man kann auf einer Meta-Ebene darüber reflektieren - allein diese Befähigung ist schon ein Privileg. Ein schwer milieu-gestörter Gewalttäter mit Drogenmissbrauch kann das alles nicht. Er ist in der Haft vor allem sich selbst ausgeliefert. Sie können in der JVA nicht sagen: »Ich habe Klaustrophobie, bitte lassen Sie die Tür auf«. Da ist die JVA das Top-Verhaltenstraining. Kann man sich dort gleich abgewöhnen. Unser ganzes Menschsein ist aufgespannt zwischen dem »Unbequemen« und dem Erhabenen. Das zeigt diese Oper ja auch, und das ist vielleicht die Quelle aller Kunst.
Es gibt keinen erlösenden Moment, keine herzzerreißende Arie, die die Tristesse durchbricht, es siegen nicht die Guten über die Bösen, und es gibt keine tragische Heldin zu beweinen. Es gibt überhaupt keine Frauen in dieser Männerwelt, bis auf eine abgemagerte Prostituierte am Rande. Eine weitere Stelle, wo Frauen vorkommen – eigentlich als Frauen verkleidete Männer, also männliche Projektionen von Frauen – ist die Pantomime im 2. Akt. Diese Theateraufführung von Sträflingen für Sträflinge schlägt eine markante Zäsur in den Lagertrott, ist aber sehr vielschichtig, obwohl es reiner Klamauk zur Belustigung ist. Theater im Gefängnis gibt es auch heute. Haben Sie selbst damit Erfahrungen gemacht?
Gute Erfahrungen! Ich habe ja knapp 14 Jahre die Klinik für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn geleitet. Das ist zwar kein Gefängnis, aber es handelt sich dort um psychisch kranke Straftäter in einer Hochsicherheits-Klinik. Da gab es eine Theatergruppe – sie nannte sich »Die Entfesselten – die machte es sich zur Aufgabe, große Theaterklassiker einzustudieren. Mehrheitlich spielten dort Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen bzw. sexuellen Abweichungen. Unter Leitung einer professionellen Regisseurin haben sich an Goethe, Becket oder Dürrenmatt gewagt, haben viel mit musikalischen Einspielungen gearbeitet und eine Art eigenen Stil entwickelt. Mein Ansatz war damals, die Bevölkerung mehr mit in die Forensik hineinzuholen. Die Leute sollten in die Klinik kommen, vor der sie eigentlich Angst haben, und sollten dort eine Atmosphäre erleben, die angstfrei und gelöst – natürlich unter Sicherheitsbedingungen – aber erst mal angenehm ist. Und es war tatsächlich so, dass wir einmal im Jahr eine kleine Spielzeit hatten mit bis zu neun Aufführungen. Den mitwirkenden Patienten gab es das Gefühl, etwas auf die Beine gestellt zu haben, mehr zu können als sie sich zugetraut hätten und positive soziale Resonanzerfahrungen zu machen, wo fremde Leute sagen: Mensch, das habt ihr toll gemacht, das hat mir richtig gut gefallen! Das muss man erst mal hinkriegen. Es waren zum Teil auch wirklich gelungene Produktionen, die dem Publikum Freude bereitet haben. Für diese Patienten, die ganz viel Destruktives gemacht haben – Sexualstraftaten, Kindesmissbrauch usw. – die im Grunde wissen, dass sie Dinge getan haben, wofür sie die Gesellschaft wirklich sehr verachtet, war das die Möglichkeit zu etwas Konstruktivem. Es war auch die Möglichkeit, ein Stück Disziplin und Zuverlässigkeit zu lernen: Wenn Probe ist, ist Probe. Da hat man da zu sein mit gelerntem Text, denn das Gesamtergebnis der Gruppe hängt von jedem einzelnen ab. Das war eine wertvolle Erfahrung für die Mitwirkenden, und für die anderen Patienten war es ein Spektakel, eine Abwechslung.
In diesem Gefängnis ohne Privatsphäre und ohne Rückzugsort, wie es Dostojewski beschreibt, wird ja auch das Intimste öffentlich. Er schildert in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zum Beispiel, wie die Insassen nachts oft schreien, sprechen oder weinen im Schlaf, wenn sie überhaupt Schlaf finden. Der 3. Akt von Janáčeks Aus einem Totenhaus spielt nachts im Lazarett. Hier wird geklagt, gebeichtet, gelitten und gestorben. Janáček schildert diese ganze Atmosphäre als akustische Kulisse aus Seufzen, Wälzen, schwerem Atem. Der im Raum stehende Tod grundiert die Szene und alles, was sich vor diesem Hintergrund abspielt. Es riecht geradezu nach Tod. Aber der Tod, wenn er eintritt, wird einfach so hingenommen. Wie ist es in Gefängnissen heute? Kann der absehbare oder bevorstehende Tod eine Veränderung im Bewusstsein eines Gefängnisinsassen hervorrufen?
Es ist schon eine ganz eigene Zumutung, mit dem Verhalten anderer Menschen tagtäglich unausweichlich konfrontiert zu sein. »Die Hölle sind die Anderen«, sagte Jean-Paul Sartre. Aber was den Tod betrifft: Er der größte Lehrmeister, den wir im Leben haben, und das ist das Großartige daran. In der Regel werden schwerstkranke Inhaftierte in Pflegeheime oder auch ins Hospiz entlassen, denn eine schwere Krankheit hebt die Gefährlichkeit auf. Aber es gibt auch Menschen, die sterben in Haft, weil die Institution im Grunde zu ihrer wahren Ersatzfamilie geworden ist. Aber wenn Langzeitgefangene älter werden, ändert sich oftmals die Perspektive, gerade weil die meisten sagen, sie wollen nicht in Haft sterben. Dass der Tod irgendwann kommt, weiß jeder. Nur der Effekt tritt erst mit der realen Konfrontation des eigenen Verfalls ein.
Ein subtiler Hoffnungsschimmer in dieser düsteren Oper ist die Figur Aljeja (bei Dostojewski Alej), ein junger Tatare, der von seinen älteren Brüdern in ein Verbrechen hineingezogen wurde und als vollkommen argloser Mensch in dieses Lager kommt. Als der gebildete Adelige Alexander Gorjančikov, der sich väterlich mit Aljeja anfreundet, ihm anhand des Neuen Testaments lesen und schreiben beibringt, geht für ihn eine Welt der vollendeten Ethik auf, der er sich ganz verschreibt. Er ist inkompatibel mit jeder Form von Bosheit und Hass und erscheint wie ein Hoffnungsträger, der den Glauben an das Gute im Menschen am Leben hält. Solche Lichtgestalten tauchen auch später in den Romanen Dostojewskis auf: Fürst Myschkin beispielsweise in Der Idiot, oder Aljoscha in den Brüdern Karamasow. Um ihn von den anderen abzuheben, siedelt Janáček Aljeja in einer ganz hohen Stimmlage an, die man auch mit einer Frauenstimme besetzen kann. Er scheint über dieser rohen Männerwelt zu schweben.
Ich habe ihn beim Lesen als eine Art Christusfigur verstanden.
Es gibt ja diese Menschen, die irgendwie immun sind gegenüber allem Schlechten. Sie scheinen keinerlei Eigeninteressen zu verfolgen und sind höchstaufmerksam gegenüber den Bedürfnissen anderer. Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, dass diese Menschen befreit sind von dem Gefühl des Mangels an Liebe. Sie empfinden in sich selbst keinen Mangel und damit auch keine Notwendigkeit, etwas zu kompensieren. Die Frage »wer will ich sein?« stellt sich für sie nicht, weil es keine Defiziterfahrung gibt. Gleichzeitig sind sie selbst voller Liebe, einer allumfassenden Liebe, die eben nicht dualistisch geprägt ist.
Wie kommt so einer in ein Gefängnis?
In den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus wurde Alej von seinen älteren Brüdern einfach mitgezogen. Das kommt schon vor, dass jemand aus gruppendynamischen Verstrickungen heraus und einer tiefen Loyalität anderen gegenüber instrumentalisiert wird. Oder denken Sie in totalitären Regimen an Denunziation, wo jemand gar nichts getan hat.
Sind Ihnen bei Ihrer Gutachtensarbeit Lichtgestalten wie Aljeja schon begegnet?
Nein, das nicht. Aber ich habe mit jemandem gesprochen, der in der Haft eine große spirituelle Erfahrung gemacht hat. Das kann man nicht faken. Aber entlassen kann man ihn trotzdem gegenwärtig noch nicht, weil er durch die schwere Persönlichkeitsstörung in der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen nach wie vor sehr fragil ist und seine Taten damit eben zusammenhingen. Man muss das eine vom anderen klar trennen, sonst wird man unprofessionell, und das wäre gefährlich.