© Ralf Zenker

Leoš Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus spielt im sibirischen Gefangenenlager, das Straftäter und politische Gefangene an einem Ort der Demütigung, der Gewalt, der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit versammelt - eine Schicksalsgemeinschaft der »Schicksalslosen« (Imre Kertész). Als Forensische Psychiaterin beschäftigt sich Dr. Nahlah Saimeh täglich mit Straftätern schwerer Gewalt- und Sexualdelikte. Im Gespräch mit ihnen ermittelt sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer wiederholten Straftat ist und welcher Grad an Gefahr von ihnen für die Gesellschaft noch ausgeht. Sie erstellt Gutachten, auf deren Grundlage die Gerichte entscheiden, ob ein Straftäter in eine Justizvollzugsanstalt oder eine Forensische Klinik eingewiesen wird, und über die Vollzugsdauer von Strafen oder Antritt und Ende der Sicherungsverwahrung. Barbara Eckle, Leitende Dramaturgin der Ruhrtriennale, hat sie getroffen, um über Janáčeks Oper und deren literarische Vorlage, Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zu sprechen - und um zu erfahren, warum Menschen überhaupt Straftaten begehen.

Barbara Eckle: Frau Dr. Saimeh, sind Dostojewskis Schilderungen aus dem Strafgefangenenlager in Sibirien um 1855 in irgendeiner Weise vergleichbar mit einer heutigen Gefängnisrealität?

Nahlah Saimeh: Das Beeindruckende an Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus ist für mich die unfassbare Präzision und Dichte: In jedem Satz formuliert er etwas über die menschliche Psyche, über die conditio humana und über menschliche Abgründe, und das mit einer sprachlichen Schönheit, die meisterlich ist. Inhaltlich ist das Buch mein tägliches Leben. Ich würde jeden Satz unterschreiben und sagen: Ja, genau so ist es. Es gibt für mich auch keinen Zeitsprung zwischen damals und heute, außer bei Ausstattung oder Technik. Das Gefängnis, das Dostojewski beschreibt, ist dahingehend mit modernen Gefängnissen in Nord- und Mitteleuropa natürlich nicht vergleichbar, weil Häftlinge heute Anspruch auf einen Einzelraum und eine eigene Toilette haben. Man hat kleine Feinheiten geändert, die für den Lebenskomfort bedeutsam sind, aber das System, in dem so viele unterschiedliche schwierige Charaktere zusammengebracht werden und auf eine durchaus destruktive Weise miteinander umgehen, hat sich nicht geändert – wie auch die Menschen, die ins Gefängnis kommen, sich nicht geändert haben. Das kann auch gar nicht sein, weil der Mensch in seiner tragischen Befähigung zum destruktiven Handeln über die Jahrhunderte hinweg konstant mit den gleichen Problemen seines Seins geboren wird. Die Menschen im Straflager, die Dostojewski beschreibt, sind Hochstapler, Betrüger, Mörder. Der eine bringt seinen Major um, der andere seine Ehefrau, der dritte tötet einen Nebenbuhler. Sie haben alle klassische Motive. Die hat es zu Dostojewskis Zeiten gegeben, die hat es in der Antike gegeben, die gibt es heute und die gibt es auch in 150 Jahren noch. Es sind Konstanten des menschlichen Scheiterns.

Als Forensische Psychiaterin arbeiten Sie seit über 20 Jahren mit Menschen, die schwere, teilweise grausame Straftaten begangen haben. Leoš Janáček stellt der Partitur zu seiner Oper Aus einem Totenhaus den Satz »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« als Leitgedanken voran. Nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben, können Sie diesen Satz – mal abgesehen von der religiösen Komponente darin – bestätigen?

Diesen Satz von Janáček auf das forensisch-psychiatrische Tun und auf die Probanden anzuwenden, wäre mir zu konkret. Er ist aber von grundsätzlicher und übergeordneter Richtigkeit und gilt daher auch für jeden Menschen, den ich bisher getroffen habe. Ich mache keinen so großen Unterschied zwischen den Menschen, mit denen ich als Straftäter spreche und den Menschen, die keine Straftaten begangen haben, einschließlich meiner selbst. Denn der Unterschied zwischen Straftätern und uns Nichtstraftäterinnen ist eigentlich relativ klein und bezieht sich auf ganz wenige Bereiche. Als Menschen haben wir elementare Grundbedürfnisse, die uns allen zu eigen sind: Wir alle brauchen Schlaf, etwas zu essen und zu trinken. Wir alle kennen Erschöpfung oder Schmerz. Wir kennen Angst, und wir alle haben ein elementares Bedürfnis nach Sicherheit, Wertschätzung, Anerkennung, Geborgenheit. Insofern gibt es eine Vielzahl von Eigenschaften, die wir miteinander teilen. Doch da unser Bewusstsein dualistisch funktioniert, erleben wir alles dualistisch. Und das, worauf Janàček mit diesem Satz anspricht, ist eine allumfassende Wirklichkeitsebene, die wir mit dem dualistisch geprägten Verstand nicht erkennen können.

Sokrates soll gesagt haben »Niemand tut freiwillig Unrecht«. Entscheiden tatsächlich die Umstände, ob man »gut« oder »schlecht« wird. Entscheidet man das nicht auch selbst?

In unserem sehr individualistischen Kulturkreis sind die gesamte Erziehung und Sozialisation auf ein Ich ausgerichtet, auf die Frage: Wer bin ich und wer will ich sein? Kulturen, die das Ich als Teil eines großen Ganzen verorten, erziehen anders, weil die eigene Person einem großen Organismus dient, einer Familie, einem Clan, einem Stamm. Hier hat die Individualität eine völlig untergeordnete Bedeutung, auch im Erleben des Selbstwerts. Natürlich sind wir auch das Ergebnis unserer Prägungen, unserer Erziehung, unserer frühen Bindungserfahrungen. Trotzdem muss ich mich irgendwann kritisch fragen, ob und unter welchen Prämissen mein Handeln Sinn macht, und was das für mein Selbstbild bedeutet. Vor diesem Hintergrund treffe ich Entscheidungen. Es gibt natürlich Lebensumstände, die es extrem schwer machen, durchgängig gut zu handeln oder auf Straftaten zu verzichten. In Kriegen etwa sind Menschen Ausnahmesituationen ausgesetzt, da lernt man sich unter Umständen selbst nochmal ganz anders kennen. Wir können gut ein edles Bild von uns haben, wenn wir auf dem Sofa sitzen und nicht in einem Schlauchboot, das zu 220 % überbelegt ist und nur dann eine Chance hat, das andere Ufer zu erreichen, wenn es Leute gibt, die dieses Boot verlassen. Und ich weiß nicht, ob wir wirklich von uns sagen können, dass wir wissen, wie wir in einer solchen Situation handeln würden, weil wir diese extremen Anforderungen nicht annähernd kennen. Trotzdem muss man sagen: Man entscheidet letztlich selbst. Die Verantwortung für sich und seine Taten trägt man, auch wenn man nicht fähig ist, mit ihr umzugehen. Und es ist ein großes Privileg, in einer Gesellschaft zu leben, wo man frei ist, für sich zu entscheiden. Es gehört zur Würde eines Erwachsenen, Verantwortung tragen zu dürfen.

Es gehört zur Würde eines Erwachsenen, Verantwortung tragen zu dürfen. Dr. Nahlah Saimeh

Zwischen dem inneren Wunsch, jemanden umzubringen, und der tatsächlichen Umsetzung in die Tat liegt doch nochmal eine enorme natürliche Hemmschwelle. Was befähigt einen Menschen, diese Hemmschwelle zu überschreiten?

Nicht jeder Mensch kann einen anderen umbringen. Es gibt immer Menschen, die aus grundsätzlichen Erwägungen oder aus ihrer eigenen metaphysischen Verortung heraus den Weg des Tötens nicht gehen werden. Oder sie haben einen Emotionshaushalt, aus dem sich diese vermeintliche Notwendigkeit nicht ergibt. Sie erleben nie diese extreme Wut, Kränkung oder Rachsucht. Sie ärgern sich vielleicht, finden Dinge nicht richtig, aber das erreicht nie einen so destruktiven Punkt, dass sie ernsthaft darüber nachdenken, jemanden auszulöschen. Es gibt aber Persönlichkeiten, die so kränkbar, so eitel, so nachtragend oder in ihrer Selbstsicherheit so zerstörbar sind, dass andere tatsächlich die Macht haben, sie innerlich zu zerstören. Der scheinbar einzige Weg besteht dann darin, diesen »Aggressor«, der einem das Selbstwertgefühl zerstört hat, wiederum zu zerstören, um dann aus den Ruinen der Tat den eigenen Selbstwert wieder aufzubauen. Auch Temperamentsunterschiede spielen eine Rolle. Es gibt Menschen, die extrem cholerisch und reizbar sind, die ihre Impulse schlecht steuern können, insbesondere ihre wütenden Impulse. Wenn Sie ein normales Maß an Impuls- und Emotionskontrolle haben, werden Sie in der Regel kein Totschlagsdelikt begehen. Dann könnte es theoretisch eher sein, dass Sie geplant, rational und kühl jemanden töten würden. Aber das würde dann bedeuten, dass Sie töten moralisch mit Ihrem Selbstbild vereinbaren können, oder es sogar zu einem Bestandteil Ihres Selbstbildes geworden ist. Ich kann mich toll fühlen, wenn ich in der Lage bin, drei Leute kaltblütig zu erschießen. Ich kann mich aber genauso toll fühlen, wenn ich meinen persönlichen Wert darin sehe, jemandem kein Leid zuzufügen. Nur das eine ist die reifere Entscheidung.

Dostojewski konnte seine Aufzeichnungen aus einem Totenhaus nur schreiben, weil er selbst vier Jahre lang wegen seiner Mitgliedschaft in sozialistisch-intellektuellen Kreisen in einem sibirischen Zwangsarbeitslager inhaftiert war. Hier entdeckte er »das Volk« – sprich: viele unterschiedliche Typologien von Menschen, denen er sonst nie begegnet wäre. Etliche von ihnen tauchen später in seinen fünf großen Romanen wieder auf. Ebenso lernte Dostojewski hier eine Art innere Freiheit kennen, also eine Freiheit, die nicht von äußeren, physischen Bedingungen abhängig ist, sondern eine metaphysische Freiheit, eine Art spirituelle Unantastbarkeit der Seele. Das befähigte ihn offenbar, so urteilsfrei auf die unterschiedlichen Menschentypen zu schauen und sie – ob gut oder schlecht – als gleichwertig zu sehen. Wenn Sie für die Erstellung eines Gutachtens mit einem Straftäter sprechen, versuchen Sie da Zugang zu finden zu diesem – um bei Janáček zu bleiben – »Funken Gottes«?

In der professionellen Fragestellung geht es darum, einen Menschen so klar und präzise zu beschreiben, dass ich meine relevanten forensischen Schlussfolgerungen daraus ziehen kann. Es ist ja auch viel Verantwortung im Spiel. Dass ich ihm mit der Beschreibung nicht die Würde nehme, ist mir dabei wichtig. Ich glaube, dass es auch etwas mit Würde zu tun hat, einen Menschen so zu beschreiben, wie er ist, und ihn darin ernst zu nehmen. Ich urteile nicht über diese Menschen, ich beschreibe sie. Und ich hinterfrage, was von ihnen an Gefahr noch zu erwarten ist – eine sehr kleine Fragestellung im Vergleich zum großen Ganzen. Dabei ist mir klar, dass diese Person von vielen Bedingungen abhängt, die sie nicht selber bestellt hat: Geschlecht, Intelligenz, Elternhaus, Persönlichkeitseigenschaften. Man weiß nicht, was aus dieser Person geworden wäre, wenn sie unter anderen Vorzeichen groß geworden wäre. Natürlich sucht man sich nachher aus, was man mit seinem Leben und seinen Ressourcen macht. Man kann auch nicht aus der Verantwortung entlassen werden, wer man ist. Aber wie viele unendliche Möglichkeiten würden in einem selbst stecken unter anderen Bedingungen! Und deswegen ist mir immer klar, dass derjenige, der da vor mir sitzt, potenziell auch ich selber sein könnte. Dieser Mann – mehrheitlich sind es ja Männer – ist eine Möglichkeitsform des Menschseins. Und ich bin auch nichts als eine von Abermilliarden Möglichkeitsformen des Menschseins. Und das ist letztlich nicht unähnlich, wie Dostojewski in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus auf seine Mitinsassen schaut.

Mir ist immer klar, dass derjenige, der da vor mir sitzt, potenziell auch ich selber sein könnte. Dr. Nahlah Saimeh

Dort gibt es tatsächlich keine einzige Bewertung oder Verurteilung. Auch wenn er von einem Mitinsassen sagt, »er ist ein durch und durch grausamer Mensch«, versteht man das nicht als negative Äußerung. Das fasziniert mich sehr, und ich frage mich: Warum kann er diese eindeutigen Worte benutzen und wir lesen sie dennoch nicht als Werturteil?

Das ist genau das, was ich mit meinen Gutachten anstrebe. Und ich muss sagen, dass mir das in jungen Jahren nicht gelungen ist. Da hatte ich viel mehr Hybris in der Art und Weise, wie ich Gutachten geschrieben habe. Sie waren inhaltlich nicht schlechter, aber sie waren anders. Die langjährige Erfahrung hat bei mir zu mehr Demut geführt. Und das habe ich mir zur Eigenschaft gemacht: Menschen, egal was sie tun, so zu beschreiben, dass es sachlich bleibt. Meine Moral ist mir egal, das sage ich ganz klar. Betrachten zu können und seine sachlichen Schlüsse daraus zu ziehen, ohne zu bewerten – das ist das Entscheidende.

Der Gefängnisalltag in Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus ist von kleinen und großen Gewaltakten unter den Insassen geprägt. Janáček gibt diesen scheinbar lächerlichen Zankereien und Raufereien auffällig viel Raum in seiner Oper, wohl weil sie so untrennbar zu dieser Realität gehören, die Dostojewksi in der Vorlage beschreibt. Und das ist wohl auch heute kaum anders. Warum gibt es im Gefängnis so viel Gewalt?

Das Risiko von Gewalt entsteht vor allem dadurch, dass viele Menschen im Gefängnis eine sogenannte dissoziale Persönlichkeitsstörung haben. Das sind Personen, die sehr gewaltaffin, sehr rücksichtslos sind, sich knallhart durchsetzen und oftmals sehr schnell reizbar sind. Sie wählen Handgreiflichkeiten als selbstverständliches Mittel der Kommunikation und Interessensdurchsetzung. Sie haben in der Durchschnittsbevölkerung eine Quote von ungefähr 3-6 %. In einem Gefängnis haben ungefähr 70 % der Leute diese Störung. Das heißt, es kommen mehrheitlich Leute mit einem anderen normativen Gefüge in die Haft hinein. Und sie tragen ihr Sozialverhalten, dem sie im Grunde die Haft verdanken, wieder in die Haft hinein. Das heißt, es gibt Gewalthandlungen, Rankings, Knasthierarchien. Und es gibt Gewalttäter, die definieren, wer in der Rangebene unten ist. In deutschen Gefängnissen stehen üblicherweise Sexualstraftäter, die sich an Kindern vergangen haben, in der Hierarchie ganz, ganz, ganz unten. Mit welcher Berechtigung sich nun zum Beispiel ein Mörder für etwas Besseres hält, erschließt sich mir auch nicht auf den ersten Blick. Aber es gibt immer noch einen, der unter einem selbst steht und den man abstrafen kann. Der eigene Selbstwert wird also auch darüber stabilisiert, dass ich einem anderem den Selbstwert nehme. Das ist ein klassisches Prinzip, das wir auch überall in der Gesellschaft sehen.

Nur wenige der Sträflinge in Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus haben überhaupt einen Namen. Die meisten heißen Sträfling 1, 2, 3, großer Sträfling, kleiner Sträfling, betrunkener Sträfling etc. Es gibt auch viele kleine Rollen, aber keine großen Hauptrollen, mit denen man mitfühlt und mitfiebert – was für eine Oper ungewöhnlich ist. Aber der Grund ist klar: Das Individuum hat in der Gefängniswelt keinen Stellenwert. Die zermürbende Deindividualisierung beschreibt auch Dostojewski in seinen Aufzeichnungen. Mit Namen lernen wir drei Sträflinge kennen, die in größeren Monologen erzählen, wie es zu ihrer Straftat kam, und sofort blicken wir anders auf diese Figuren. Skuratov schildert etwa, wie er den Bräutigam seiner großen Liebe Luisa erschossen hat, weil er diese Frau wirklich liebte und sie ihn. Aber dann kam ein reicherer Anwärter und bot ihr das komfortablere Leben – und Luisa hat es genommen. Was war an der Quelle dieses Mordes? Liebe – und eine verständlicherweise unfassbare Enttäuschung.

Wenn wir geboren werden, treten wir in eine Existenzform ein, in der wir uns von der Welt insgesamt als getrennt erleben. Dr. Nahlah Saimeh

Das ist ein sehr schönes Motiv, so funktioniert es auch in der Realität. In diesem Fall ist es eine besonders tragische Entscheidung der Frau, sich für den reicheren Bräutigam zu entscheiden. Es fällt dem Leser also leichter, sich mit den Gefühlen von Skuratov zu identifizieren. Skuratovs Narrativ für die Tat hat allerdings einen Fehler. Er geht von der tiefen Liebe Luisas aus, aber Luisa verrät diese Liebe. Also ist es keine. Eine tiefe, existentielle Form von Liebe ist nicht korrumpierbar. Der für mich wesentliche Punkt ist – und das liegt wieder außerhalb des Fachgebietes der forensischen Psychiatrie: Wenn wir geboren werden, treten wir in eine Existenzform ein, in der wir uns von der Welt insgesamt als getrennt erleben. Wir erleben unsere eigene Existenz als ein Getrenntsein von etwas. Und aus diesem Schmerz des Getrenntseins resultiert eine große Kraft, die in zwei Richtungen gehen kann: in Richtung Destruktivität oder in Richtung Konstruktivität. Also alles besonders Wertvolle, Ehrenvolle, Selbstlose, fast übermenschlich Gute (Typus Mutter Teresa), stammt aus dem unbedingten Willen, dieses Getrenntsein zu überwinden und diesen Schmerz zu verarbeiten. Der gleiche Schmerz kann aber auch zum Entschluss zu etwas Zerstörerischem führen. Hier fließt die Energie in den Hass. Die Quelle ist aber die gleiche Not. Das ist die Tragik des Menschseins. Und im Gefängnis zeigt sich diese Tragik besonders deutlich.

Moderne Haftbedingungen sind zwar nicht vergleichbar mit Zwangsarbeitslagern im zaristischen Russland oder den sowjetischen Gulags oder gar mit den Konzentrationslagern des NS-Regimes, aber der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, der zwei Konzentrationslager überlebt hat, ist der Meinung, was man dort erlebt, sei nicht in Literatur als Kunstform festzuhalten. Sein explizites Vorbild ist Dostojewksi, der für seine Aufzeichnungen aus einem Totenhaus eine quasi nicht-literarische Form gewählt hat, also nicht den Roman, sondern ein vielstimmiges Nebeneinander gleichwertiger Schicksale, ein unsystematisches Gewebe ohne Handlung, das keine klassischen literarischen Formstandards erfüllt, keiner dramatischen Dynamik folgt – und dadurch der Situation, wie sie wirklich war, bedeutend näher kommt. Können Sie diese Ablehnung einer »Verkunstung« solcher Erfahrungen nachvollziehen?

Ja, das kann ich. Ich verbringe extrem viel Zeit mit menschlichem Elend, und das ist auch der Grund, warum ich – und da stehe ich dazu – seit Jahren keine Romane mehr lese, weil ich mit so vielen realen Biografien und menschlichen Schicksale arbeite, was ich auch gerne tue. Aber dazu will ich keine narrative, sekundäre Überformung haben. Ich brauche keine kunstvoll erzählten Schicksale. Aber Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus fallen auch für mich in eine ganz andere Kategorie. Es ist ein Fass ohne Boden, ein philosophisches Werk eigentlich. Und zugleich für mich der ständige Blick in den Alltagsspiegel. Das hat mich tief beeindruckt.

Sympathien und Antipathien sind in Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus kein Thema – ganz anders als in einem Roman, wo sich Sympathien und Antipathien für die Figuren bilden und sich im Laufe der Geschichte meist auch verändern. Mit diesen Dynamiken operieren und kalkulieren Schriftsteller:innen in der Regel.

Genau. Sie steuern Emotionen des Lesers. Aber hier ist es anders: Der Leser wird komplett auf sich selbst zurückgeworfen, weil Dostojewksi neutral bleibt. Er beschreibt hier zum Beispiel in wenigen knappen Sätzen einen Sadisten, wie er kleine Kinder quälte und sich an ihren Qualen und ihrer Angst weidete, bis er sie dann schlachtete. Und er beschreibt das genauso, wie er eine Frau beschreiben würde, die an einem Rosenstrauch mit einer Heckenschere Rosen abschneidet und in eine Vase stellt. Ich glaube, dass es dieses Unterschiedslose ist, das Janàček zu diesem Satz »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« veranlasst hat. Es ist das, was letzten Endes auf eine Dimension zusammenfällt, wenn wir den besagten Dualismus überwunden haben. Aber die Kraft unseres alltäglichen Lebens kommt aus dem Dualismus. Insofern liegt in der Kraft des Konstruktiven eben genauso die Kraft des Destruktiven. Das ist nicht voneinander zu trennen. Und ein Roman oder eine Oper entsteht normalerweise auch aus dieser Polarität. Da werden Emotionen, Charaktere, Sympathien und Antipathien erzeugt und gegeneinander geführt. Das Publikum will sich identifizieren. Aber in Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus wie in Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus verschwindet diese Identifizierbarkeit.

Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil genau das die charakteristischste Eigenschaft von Janáčeks Musik ist: jeder einzelnen Figur eine eigene Sprache zu geben – Sprechmelodien, die er gewöhnlichen Menschen im realen Leben abgehorcht und direkt in Musik übertragen hat. Im Totenhaus gibt er den Sträflingen zwar auch ihre eigene Stimme, aber diese Individuen versinken in Anonymität und Gleichgültigkeit. Ihre Geschichten werden von ihren Mitinsassen kaum wahrgenommen, oft werden sie beim Erzählen auch unterbrochen. Das ist überhaupt ein Merkmal der Musik in dieser Oper: Sie ist stark fragmentiert, es gibt kaum große Bögen, keinen Fluss, ständige Rhythmuswechsel, fetzenartige Chorpartien. Es scheint so, als sage sich Janáček in gleicher Weise vom klassischen Schema Oper los, wie Dostojewski sich in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von den gängigen literarischen Kunstformen lossagt. Weil eben kein probates Kunstgefäß der Wahrheit gerecht wird, die es zu vermitteln gilt. In unserer Produktion greift nun der Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov genau diesen Gedanken auf und setzt ihn in seiner Inszenierung konsequent im Raum fort: Er hebt die Trennung der Welten auf, lässt das Publikum nicht von außen auf eine vermeintliche Gefängnisrealität blicken, sondern steckt es mit in das Alcatraz-artige Gefängnis, das er in die Jahrhunderthalle hineinbaut, sodass jede:r diese Welt aus der Innenperspektive heraus erlebt.

Das ist eine wunderbare Idee, schmerzlich konsequent gedacht. Sehr spannend!

Er macht das Publikum zu Mitinsassen – und das ist nicht unbedingt nur bequem. Man ist zwar mittendrin und erlebt das Geschehen und die Figuren aus unmittelbarer Nähe, aber man ist auch von Kargheit, Alltagsgewalt und Mikrobekriegungen umgeben und ist einer Gleichgültigkeit und Härte ausgesetzt, mit der man sonst kaum in Berührung kommt. Ob man nun vom komfortablen Opernsitzplatz oder aus dieser direkten Konfrontation heraus zu Empathie angehalten wird, ist ein Unterschied.

Wir selbst sind die andere Möglichkeitsform des Gegenübers, und das Gegenüber ist die andere Möglichkeitsform unserer selbst. Dr. Nahlah Saimeh

Nun ja, die ganze Oper ist unbequem (lacht). Der Regisseur nimmt also das Publikum beim Wort, als würde er sagen: »Wenn Ihr diese Oper ernst nehmt, dann müsst Ihr konsequent sein. Setzt Euch ihrer Zumutung aus«. Wir selbst sind die andere Möglichkeitsform des Gegenübers, und das Gegenüber, der Täter, ist die andere Möglichkeitsform unserer selbst. Trotzdem hat man als Zuschauer Privilegien: Man hat die freie Wahl, jederzeit den Ort zu verlassen. Und man kann auf einer Meta-Ebene darüber reflektieren - allein diese Befähigung ist schon ein Privileg. Ein schwer milieu-gestörter Gewalttäter mit Drogenmissbrauch kann das alles nicht. Er ist in der Haft vor allem sich selbst ausgeliefert. Sie können in der JVA nicht sagen: »Ich habe Klaustrophobie, bitte lassen Sie die Tür auf«. Da ist die JVA das Top-Verhaltenstraining. Kann man sich dort gleich abgewöhnen. Unser ganzes Menschsein ist aufgespannt zwischen dem »Unbequemen« und dem Erhabenen. Das zeigt diese Oper ja auch, und das ist vielleicht die Quelle aller Kunst.

Es gibt keinen erlösenden Moment, keine herzzerreißende Arie, die die Tristesse durchbricht, es siegen nicht die Guten über die Bösen, und es gibt keine tragische Heldin zu beweinen. Es gibt überhaupt keine Frauen in dieser Männerwelt, bis auf eine abgemagerte Prostituierte am Rande. Eine weitere Stelle, wo Frauen vorkommen – eigentlich als Frauen verkleidete Männer, also männliche Projektionen von Frauen – ist die Pantomime im 2. Akt. Diese Theateraufführung von Sträflingen für Sträflinge schlägt eine markante Zäsur in den Lagertrott, ist aber sehr vielschichtig, obwohl es reiner Klamauk zur Belustigung ist. Theater im Gefängnis gibt es auch heute. Haben Sie selbst damit Erfahrungen gemacht?

Gute Erfahrungen! Ich habe ja knapp 14 Jahre die Klinik für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn geleitet. Das ist zwar kein Gefängnis, aber es handelt sich dort um psychisch kranke Straftäter in einer Hochsicherheits-Klinik. Da gab es eine Theatergruppe – sie nannte sich »Die Entfesselten – die machte es sich zur Aufgabe, große Theaterklassiker einzustudieren. Mehrheitlich spielten dort Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen bzw. sexuellen Abweichungen. Unter Leitung einer professionellen Regisseurin haben sich an Goethe, Becket oder Dürrenmatt gewagt, haben viel mit musikalischen Einspielungen gearbeitet und eine Art eigenen Stil entwickelt. Mein Ansatz war damals, die Bevölkerung mehr mit in die Forensik hineinzuholen. Die Leute sollten in die Klinik kommen, vor der sie eigentlich Angst haben, und sollten dort eine Atmosphäre erleben, die angstfrei und gelöst – natürlich unter Sicherheitsbedingungen – aber erst mal angenehm ist. Und es war tatsächlich so, dass wir einmal im Jahr eine kleine Spielzeit hatten mit bis zu neun Aufführungen. Den mitwirkenden Patienten gab es das Gefühl, etwas auf die Beine gestellt zu haben, mehr zu können als sie sich zugetraut hätten und positive soziale Resonanzerfahrungen zu machen, wo fremde Leute sagen: Mensch, das habt ihr toll gemacht, das hat mir richtig gut gefallen! Das muss man erst mal hinkriegen. Es waren zum Teil auch wirklich gelungene Produktionen, die dem Publikum Freude bereitet haben. Für diese Patienten, die ganz viel Destruktives gemacht haben – Sexualstraftaten, Kindesmissbrauch usw. – die im Grunde wissen, dass sie Dinge getan haben, wofür sie die Gesellschaft wirklich sehr verachtet, war das die Möglichkeit zu etwas Konstruktivem. Es war auch die Möglichkeit, ein Stück Disziplin und Zuverlässigkeit zu lernen: Wenn Probe ist, ist Probe. Da hat man da zu sein mit gelerntem Text, denn das Gesamtergebnis der Gruppe hängt von jedem einzelnen ab. Das war eine wertvolle Erfahrung für die Mitwirkenden, und für die anderen Patienten war es ein Spektakel, eine Abwechslung.

In diesem Gefängnis ohne Privatsphäre und ohne Rückzugsort, wie es Dostojewski beschreibt, wird ja auch das Intimste öffentlich. Er schildert in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zum Beispiel, wie die Insassen nachts oft schreien, sprechen oder weinen im Schlaf, wenn sie überhaupt Schlaf finden. Der 3. Akt von Janáčeks Aus einem Totenhaus spielt nachts im Lazarett. Hier wird geklagt, gebeichtet, gelitten und gestorben. Janáček schildert diese ganze Atmosphäre als akustische Kulisse aus Seufzen, Wälzen, schwerem Atem. Der im Raum stehende Tod grundiert die Szene und alles, was sich vor diesem Hintergrund abspielt. Es riecht geradezu nach Tod. Aber der Tod, wenn er eintritt, wird einfach so hingenommen. Wie ist es in Gefängnissen heute? Kann der absehbare oder bevorstehende Tod eine Veränderung im Bewusstsein eines Gefängnisinsassen hervorrufen?

Es ist schon eine ganz eigene Zumutung, mit dem Verhalten anderer Menschen tagtäglich unausweichlich konfrontiert zu sein. »Die Hölle sind die Anderen«, sagte Jean-Paul Sartre. Aber was den Tod betrifft: Er der größte Lehrmeister, den wir im Leben haben, und das ist das Großartige daran. In der Regel werden schwerstkranke Inhaftierte in Pflegeheime oder auch ins Hospiz entlassen, denn eine schwere Krankheit hebt die Gefährlichkeit auf. Aber es gibt auch Menschen, die sterben in Haft, weil die Institution im Grunde zu ihrer wahren Ersatzfamilie geworden ist. Aber wenn Langzeitgefangene älter werden, ändert sich oftmals die Perspektive, gerade weil die meisten sagen, sie wollen nicht in Haft sterben. Dass der Tod irgendwann kommt, weiß jeder. Nur der Effekt tritt erst mit der realen Konfrontation des eigenen Verfalls ein.

Ein subtiler Hoffnungsschimmer in dieser düsteren Oper ist die Figur Aljeja (bei Dostojewski Alej), ein junger Tatare, der von seinen älteren Brüdern in ein Verbrechen hineingezogen wurde und als vollkommen argloser Mensch in dieses Lager kommt. Als der gebildete Adelige Alexander Gorjančikov, der sich väterlich mit Aljeja anfreundet, ihm anhand des Neuen Testaments lesen und schreiben beibringt, geht für ihn eine Welt der vollendeten Ethik auf, der er sich ganz verschreibt. Er ist inkompatibel mit jeder Form von Bosheit und Hass und erscheint wie ein Hoffnungsträger, der den Glauben an das Gute im Menschen am Leben hält. Solche Lichtgestalten tauchen auch später in den Romanen Dostojewskis auf: Fürst Myschkin beispielsweise in Der Idiot, oder Aljoscha in den Brüdern Karamasow. Um ihn von den anderen abzuheben, siedelt Janáček Aljeja in einer ganz hohen Stimmlage an, die man auch mit einer Frauenstimme besetzen kann. Er scheint über dieser rohen Männerwelt zu schweben.

Ich habe ihn beim Lesen als eine Art Christusfigur verstanden.

Es gibt ja diese Menschen, die irgendwie immun sind gegenüber allem Schlechten. Sie scheinen keinerlei Eigeninteressen zu verfolgen und sind höchstaufmerksam gegenüber den Bedürfnissen anderer. Wie erklären Sie sich das?

Ich glaube, dass diese Menschen befreit sind von dem Gefühl des Mangels an Liebe. Sie empfinden in sich selbst keinen Mangel und damit auch keine Notwendigkeit, etwas zu kompensieren. Die Frage »wer will ich sein?« stellt sich für sie nicht, weil es keine Defiziterfahrung gibt. Gleichzeitig sind sie selbst voller Liebe, einer allumfassenden Liebe, die eben nicht dualistisch geprägt ist.

Wie kommt so einer in ein Gefängnis?

In den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus wurde Alej von seinen älteren Brüdern einfach mitgezogen. Das kommt schon vor, dass jemand aus gruppendynamischen Verstrickungen heraus und einer tiefen Loyalität anderen gegenüber instrumentalisiert wird. Oder denken Sie in totalitären Regimen an Denunziation, wo jemand gar nichts getan hat.

Sind Ihnen bei Ihrer Gutachtensarbeit Lichtgestalten wie Aljeja schon begegnet?

Nein, das nicht. Aber ich habe mit jemandem gesprochen, der in der Haft eine große spirituelle Erfahrung gemacht hat. Das kann man nicht faken. Aber entlassen kann man ihn trotzdem gegenwärtig noch nicht, weil er durch die schwere Persönlichkeitsstörung in der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen nach wie vor sehr fragil ist und seine Taten damit eben zusammenhingen. Man muss das eine vom anderen klar trennen, sonst wird man unprofessionell, und das wäre gefährlich.

Dr. med. Nahlah Saimeh ist Forensische Psychiaterin. Von 2000 bis 2004 war sie Chefärztin der Forensik in Bremen und von 2004 bis 2018 Ärztliche Direktorin am LWL- Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. 2018 machte sie sich als Sachverständige selbständig. Ihr Schwerpunkt liegt in der Begutachtung bei schwerer Gewalt-und Sexualkriminalität. Sie ist Herausgeberin verschiedener Fachbücher und Autorin von true crime-Büchern und Essays. Mit der Gründung der ITNS Nachlassverwaltung im Jahr 2018 verwaltet sie das Oeuvres ihres Mannes, des Künstlers Ingolf Timpner (1963- 2018). Im Juni 2023 erscheint ihr erster Herausgeberband mit Texten zur Kunst von Ingolf Timpner.