Wie schafft es der Mensch, der als einzige unter den Arten über keine instinktive Verdrahtung verfügt, konsistent zu existieren, also zu konsistieren? Durch andere Menschen nämlich – und zwar vor allem in seinen ersten Jahren, in denen das Problem sehr einfach ist: Hilfe oder Sterben. Was wird nun aber aus einem Menschen, der anstelle konstituierender Bekanntschaften zu früh eine zu schlechte Bekanntschaft macht? Das heißt eine Bekanntschaft, die diesen Menschen dazu führt, zu de-konstituieren, obwohl sein psychischer und körperlicher Halt noch umstritten ist?
Was wird aus der Körper-Psyche-Konstitution eines Kindes, das von einem:r anderen verletzt wird, die:der für seine Stärkung zuständig sein sollte? Dieser Körper wächst, freilich mit jenem Bruch, den man – ein familiäres man – in ihn hineingelegt hat. Eine hieroglyphische Erfahrung hat ihn gezeichnet, die er viel später entziffern wird – und dabei wird er seine schreckliche Pulverisierungskraft freisetzen. Hieroglyphisch: Die ersten Erfahrungen hängen von den Benennungen ab, die die Erwachsenen, die als Vermittlungsinstanzen des sozialen Körpers agieren, ihnen verleihen. Die Aussagen, die für sich beanspruchen, den Inzest zu bezeichnen, sind in Wirklichkeit ein Hindernis für den Sinn. Sie benennen nichts anderes als die Verwischung dessen, was sie zu erfassen vortäuschen.
Zunächst sagt »Onkel Bernhard« zu dir: »Gerade vergewaltige ich dich nicht, gerade bin ich voller Verständnis für dich«[1]. Einstellung und Entstellung vermischt: Lähmung deiner Reaktionsfähigkeit. Später dann, als Erwachsener, überbietet man – ein soziales man – das Ganze noch: »Inzest ist das Hauptverbot, das darf nicht geschehen«. Der soziale Körper verrenkt sich, damit er seinen Zivilisationspunkt aufbewahren kann, allerdings um den Preis einer Verleugnung, die dich schließlich in den symbolischen Limbus treibt. Lévi-Strauss gibt einem in der Tat folgende Versicherung: Dieses Verbot ist die Grundlage der menschlichen Gesellschaften, die absolute Ächtung – auch wenn der Inzest sich immer und überall wieder ereignet[2].
Clara und ihr Bruder Felix machten als Kinder die schlechte Bekanntschaft von Onkel Bernhard. Sie wissen nun, dass er sie vergewaltigt hat, aber sie sind noch nicht über den Berg. Damit sie sich dem entziehen können, was sie innerlich zerreißt, müssen sie den Inzest erarbeiten. Sich also zunächst aus den Einstellungen und Entstellungen herausziehen. Und dann: sich einen anderen Bedeutungsanker suchen. Entgegen den falschen oder allzu zweideutigen Veridiktionen, in denen sie eingesperrt sind.
Das Stück beginnt mit dem symbolischen Nicht-Ort, an dem Inzestopfer gefangen sind. »In the outer space«, wie Clara und Felix aus dem schwarzen stillstehenden Auto heraus sagen, in dem sie sitzen – dicht umnebelt. Nacht oder Morgengrauen, man hat null Ahnung, wo man sich befindet, »a car park in a forest«, Fahrzeug ohne Kennzeichen: lauter Unbestimmtheit – die beiden jungen Leute gehören vorerst nicht zu den strukturierenden Signifikanten des sozialen Körpers. Eine Radiosendung bestätigt diese unermüdliche Arbeit der symbolischen Verzerrung, der sie sich gegenübersehen, eine Verzerrung, die mit einer Verlagerung beginnt: Dort, wo man die Wirklichkeit aussprechen sollte, werden wir in einen fantastischen Ort versetzt. Dort ist von Aliens die Rede, die nachts in Kinderzimmer eindringen – immer wieder. Zeugenaussagen und Experten schließen das entstellende Interpretationssystem: Sie belegen, dass viele Menschen, Jungen oder Mädchen, schon im frühen Alter »Objekte sexueller Experimente« sind, aus denen man nur noch schließen kann, dass sie in den Bereich des Übernatürlichen gehören. Was sonst? Der Bruder und die Schwester kommentieren: »Nein, du wurdest nicht vergewaltigt, du wurdest von einer fliegenden Untertasse entführt« – zwischen Wut und Spott stellen sie nach und nach das neu dar, was die Radiosendung unkenntlich macht. Der Kampf wird immer deutlicher. Auf der einen Seite das Bestreben des sozialen Körpers, auf die Außer-Irdischen das zu projizieren, was ihn selbst auszeichnet; auf der anderen Seite das Bestreben der Opfer des Inzests, diese Erfahrung an ihren Platz zu bringen, ihnen wieder Konturen zu verleihen – sie denkbar zu machen. Und überwindbar.
Es ist ein erschwertes Fortschreiten, das man in den verlangsamten Bewegungen der beiden Protagonisten spürt, die wie in einem ewigen Albtraum gefangen sind. Eine Beharrlichkeit, die lange Zeit ein und dieselbe Sackgasse durchschreitet und in der Wiederholung stecken bleibt. Das Bemühen, sich ihr zu entziehen, findet mangels geeigneter Mittel zunächst keinen anderen Ausweg als die traumatische Szene erneut zu spielen – in verlagerten Formen. Clara isst ununterbrochen, Felix versucht, dem zyklischen Wechsel von Drogensucht und Entzug zu entkommen. Ablenkungsintensitäten, um nicht in den Abgrund zu stürzen, der sich durch das Aufbrechen des Sinnblocks auftut: Der soziale Signifikant, den sich das Inzestopfer zu eigen gemacht hat (wie viel auch immer es davon hat), sagt etwas, das im krassen Widerspruch zu seinen Affekten steht. Der Sinn zerbricht an der Diskrepanz zwischen seinen beiden Komponenten, dem Signifikanten und dem Affekt – obwohl die Übereinstimmung beider erforderlich ist, damit der Sinn symptomfrei angeeignet wird. Ein in sich unstimmiger Sinn: ständige Abschwächung – und panisches Füllen der Lücke. Eine dritte Figur, eine Doppelgängerin von Clara, ebenfalls in Jogginghose und goldenem Trikot, eine anonyme Frau mit Baseballkappe, verräumlicht ihre psychischen Zustände, und zwar zuallererst durch diesen Wiederholungszwang. Wie bei Freud wird durch diese Figur die doppelte Natur dieses Zwangs deutlich: die traumatische Spur des traumatischen Ereignisses bis zur Übelkeit immer wieder aufsuchen, sowohl weil man ihr nicht entfliehen kann, als auch, weil man unermüdlich versucht, die Oberhand über sie zu gewinnen.[3]