© Andrea Montano

Wie schafft es der Mensch, der als einzige unter den Arten über keine instinktive Verdrahtung verfügt, konsistent zu existieren, also zu konsistieren? Durch andere Menschen nämlich – und zwar vor allem in seinen ersten Jahren, in denen das Problem sehr einfach ist: Hilfe oder Sterben. Was wird nun aber aus einem Menschen, der anstelle konstituierender Bekanntschaften zu früh eine zu schlechte Bekanntschaft macht? Das heißt eine Bekanntschaft, die diesen Menschen dazu führt, zu de-konstituieren, obwohl sein psychischer und körperlicher Halt noch umstritten ist?

Was wird aus der Körper-Psyche-Konstitution eines Kindes, das von einem:r anderen verletzt wird, die:der für seine Stärkung zuständig sein sollte? Dieser Körper wächst, freilich mit jenem Bruch, den man – ein familiäres man – in ihn hineingelegt hat. Eine hieroglyphische Erfahrung hat ihn gezeichnet, die er viel später entziffern wird – und dabei wird er seine schreckliche Pulverisierungskraft freisetzen. Hieroglyphisch: Die ersten Erfahrungen hängen von den Benennungen ab, die die Erwachsenen, die als Vermittlungsinstanzen des sozialen Körpers agieren, ihnen verleihen. Die Aussagen, die für sich beanspruchen, den Inzest zu bezeichnen, sind in Wirklichkeit ein Hindernis für den Sinn. Sie benennen nichts anderes als die Verwischung dessen, was sie zu erfassen vortäuschen.
Zunächst sagt »Onkel Bernhard« zu dir: »Gerade vergewaltige ich dich nicht, gerade bin ich voller Verständnis für dich«[1]. Einstellung und Entstellung vermischt: Lähmung deiner Reaktionsfähigkeit. Später dann, als Erwachsener, überbietet man – ein soziales man – das Ganze noch: »Inzest ist das Hauptverbot, das darf nicht geschehen«. Der soziale Körper verrenkt sich, damit er seinen Zivilisationspunkt aufbewahren kann, allerdings um den Preis einer Verleugnung, die dich schließlich in den symbolischen Limbus treibt. Lévi-Strauss gibt einem in der Tat folgende Versicherung: Dieses Verbot ist die Grundlage der menschlichen Gesellschaften, die absolute Ächtung – auch wenn der Inzest sich immer und überall wieder ereignet[2].

Clara und ihr Bruder Felix machten als Kinder die schlechte Bekanntschaft von Onkel Bernhard. Sie wissen nun, dass er sie vergewaltigt hat, aber sie sind noch nicht über den Berg. Damit sie sich dem entziehen können, was sie innerlich zerreißt, müssen sie den Inzest erarbeiten. Sich also zunächst aus den Einstellungen und Entstellungen herausziehen. Und dann: sich einen anderen Bedeutungsanker suchen. Entgegen den falschen oder allzu zweideutigen Veridiktionen, in denen sie eingesperrt sind.

Das Stück beginnt mit dem symbolischen Nicht-Ort, an dem Inzestopfer gefangen sind. »In the outer space«, wie Clara und Felix aus dem schwarzen stillstehenden Auto heraus sagen, in dem sie sitzen – dicht umnebelt. Nacht oder Morgengrauen, man hat null Ahnung, wo man sich befindet, »a car park in a forest«, Fahrzeug ohne Kennzeichen: lauter Unbestimmtheit – die beiden jungen Leute gehören vorerst nicht zu den strukturierenden Signifikanten des sozialen Körpers. Eine Radiosendung bestätigt diese unermüdliche Arbeit der symbolischen Verzerrung, der sie sich gegenübersehen, eine Verzerrung, die mit einer Verlagerung beginnt: Dort, wo man die Wirklichkeit aussprechen sollte, werden wir in einen fantastischen Ort versetzt. Dort ist von Aliens die Rede, die nachts in Kinderzimmer eindringen – immer wieder. Zeugenaussagen und Experten schließen das entstellende Interpretationssystem: Sie belegen, dass viele Menschen, Jungen oder Mädchen, schon im frühen Alter »Objekte sexueller Experimente« sind, aus denen man nur noch schließen kann, dass sie in den Bereich des Übernatürlichen gehören. Was sonst? Der Bruder und die Schwester kommentieren: »Nein, du wurdest nicht vergewaltigt, du wurdest von einer fliegenden Untertasse entführt« – zwischen Wut und Spott stellen sie nach und nach das neu dar, was die Radiosendung unkenntlich macht. Der Kampf wird immer deutlicher. Auf der einen Seite das Bestreben des sozialen Körpers, auf die Außer-Irdischen das zu projizieren, was ihn selbst auszeichnet; auf der anderen Seite das Bestreben der Opfer des Inzests, diese Erfahrung an ihren Platz zu bringen, ihnen wieder Konturen zu verleihen – sie denkbar zu machen. Und überwindbar.

Es ist ein erschwertes Fortschreiten, das man in den verlangsamten Bewegungen der beiden Protagonisten spürt, die wie in einem ewigen Albtraum gefangen sind. Eine Beharrlichkeit, die lange Zeit ein und dieselbe Sackgasse durchschreitet und in der Wiederholung stecken bleibt. Das Bemühen, sich ihr zu entziehen, findet mangels geeigneter Mittel zunächst keinen anderen Ausweg als die traumatische Szene erneut zu spielen – in verlagerten Formen. Clara isst ununterbrochen, Felix versucht, dem zyklischen Wechsel von Drogensucht und Entzug zu entkommen. Ablenkungsintensitäten, um nicht in den Abgrund zu stürzen, der sich durch das Aufbrechen des Sinnblocks auftut: Der soziale Signifikant, den sich das Inzestopfer zu eigen gemacht hat (wie viel auch immer es davon hat), sagt etwas, das im krassen Widerspruch zu seinen Affekten steht. Der Sinn zerbricht an der Diskrepanz zwischen seinen beiden Komponenten, dem Signifikanten und dem Affekt – obwohl die Übereinstimmung beider erforderlich ist, damit der Sinn symptomfrei angeeignet wird. Ein in sich unstimmiger Sinn: ständige Abschwächung – und panisches Füllen der Lücke. Eine dritte Figur, eine Doppelgängerin von Clara, ebenfalls in Jogginghose und goldenem Trikot, eine anonyme Frau mit Baseballkappe, verräumlicht ihre psychischen Zustände, und zwar zuallererst durch diesen Wiederholungszwang. Wie bei Freud wird durch diese Figur die doppelte Natur dieses Zwangs deutlich: die traumatische Spur des traumatischen Ereignisses bis zur Übelkeit immer wieder aufsuchen, sowohl weil man ihr nicht entfliehen kann, als auch, weil man unermüdlich versucht, die Oberhand über sie zu gewinnen.[3]

WIE LÄSST SICH EINE WIEDERHOLUNG IN EINE VERSCHIEBUNG VERWANDELN? SANDRA LUCBERT

Dieser zweiten Clara, einer choreographierten Form ihrer Psyche, obliegt es, sich in einem von Lasern durchzogenen Raum zu bewegen: kategoriale Trennwände und normative Korridore – diese Unsichtbaren, die die Existenz in der Gesellschaft bestimmen, soll heißen: die menschliche Konsistenz bedingen. Die Strukturen des erlaubten Sinns bringen diesen dritten Körper, der nach vorne drängt, zu Fall. Wörtlich: Das Double verkörpert die traumatische Wiederholung. Die gleiche Sequenz wiederholt sich mehrere Male identisch. Von der Laserwand ins Gesicht geschlagen, die Mütze weit nach hinten geschleudert, dreht es sich um, geht zurück, hebt seine Mütze auf, setzt sie wieder auf, richtet sich auf, geht weiter – und wieder die Wand. Und wieder: Ohrfeige, Kappe, Rückkehr. Und wieder, und immer wieder – aber es ist beharrlich. Seine automatisierten Gesten sind die einer Konsistenz, die durch eine Verlassenheit gestört wird, und die intakt geblieben ist, weil sie noch nicht erarbeitet werden konnte. Seine Macht kommt von den eingebrochenen und durchdringenden Markierungen, die nie an Sinnsequenzen gebunden sind, derer sich der Geist bemächtigen könnte. Die, ganz im Gegenteil, dem Eigensinn der Entstellungen ausgeliefert sind.

Im Stück bekommen sie allmählich ein Gesicht und eine Stimme: eine Angst einflößende Puppe, die auf dem Rücksitz des Autos kichert. Der Bruder und die Schwester geben sich dabei eine gemeinsame bildliche Vorstellung des Inzests – bis sie ihn vollständig in das Verständliche und Sagbare zurückgeführt haben. Felix nennt sie Frankie; aus Clara kommt ihre Stimme: anfangs die Stimme aus dem Zeichentrickfilm, den sie als Kinder zusammen schauten. Und nach und nach nimmt Frankie Gestalt an – eine in sich widersprüchliche: zur süßen Stimme gesellt sich ein grinsendes Gesicht – bis zur finalen Auflösung in eine schrille und allgemeine Grausamkeit. Felix brüllt, um sie zum Schweigen zu bringen. Immer spricht sie durch Clara. Diese abscheuliche Puppe ist das Beharren der Erinnerung – und um so ungeheuerlicher, weil sie ohne passende Benennungen bleibt.

Wie lässt sich die Wiederholung in eine Verschiebung verwandeln? Gisèle Vienne führt die Form – Musik, Licht und Tanz – für diesen Weg vor, der aus Veränderungen des physischen und psychischen Zustands besteht. Eine Durchquerung: von der Nacht ohne Anhaltspunkte bis zur Bildung neuer Verankerungen, die einzig den Eintritt in die Kriegsbereitschaft ermöglichen. Die Wiedereröffnung der Möglichkeit, affektiert zu sein – das Heraustreten aus den abschwächenden Fixierungen – ist ein Hochgefühl. Es zeigt sich in der Bewegungsfreiheit, den die der Selbstzerstörung entrissenen Körper allmählich wiedergewinnen.

Konsistent zu existieren ist nur durch die anderen und mit ihnen möglich. Man kann aus dem Albtraum herauskommen, aber nicht aus dem Menschsein, der condition humaine. Genauer gesagt: Aus dem Albtraum wird man nur durch das richtig verstandene Menschsein herauskommen. Man braucht eine Untergruppe, von der aus man die Erfahrung, die ohne ein symbolisches Raster für ihre Erfassung nicht angeeignet werden kann und sich in eine Heimsuchung verwandelt, angemessen benennen kann.

WENN MAN NICHT DIE RICHTIGEN ANDEREN HAT, MUSS MAN ANDERE ANDERE FINDEN. SANDRA LUCBERT

Wenn man nicht die richtigen anderen hat, muss man andere andere finden. Frankie taucht dort auf, wo der soziale Körper ausweicht: ein sogenanntes Tabu, um das herum die Gesellschaft in Wahrheit unsagbare Kompromisse schließt. Gewöhnlich spiegeln die anderen die symbolische Ordnung – das, was sie sagt oder nicht sagt, das, was sie klarstellt oder verwirrt. Hier können die Gewöhnlich-Anderen keinen Halt bieten: Sie tragen nur dazu bei, dass man tief in die Vorhölle absinkt. Aber es gibt immer noch Enklaven im sozialen Körper, Subräume, die die Bedeutungsabgrenzungen, die vom Kollektiv stabilisiert werden, nicht anerkennen. Bereiche, in denen sich Kollektive anders gebildet und die Linien der Sinngebung anders gezogen haben. Das sind die anderen Anderen: die guten Bekanntschaften. Mit und von denen aus man die unsichtbaren Trennwände niederreißen und die Bewegung zurückbringen kann.

[1] Kursiv gedruckte Zitate mit Anführungszeichen sind dem Stück von Gisèle Vienne entnommen.
[2] Dorothée Dussy, L’Inceste, berceau des dominations, Pocket, 2021.
[3] Sigmund Freud, Au-delà du principe de plaisir, Payot, 2010.

Aus dem Französischen von Clément Fradin

SANDRA LUCBERT, geboren 1981 in Paris, studierte an der École normale supérieure und erlangte dort die Agregation in moderner Literatur. Sie absolvierte einen Master in psychoanalytischen Studien in Paris VII. Ihre literarische Arbeit kreist um die Frage, wie Institutionen uns an Ort und Stelle halten – und unter ihnen insbesondere die des Kapitalismus. Denn der Kapitalismus hält die Kontrolle nicht nur durch Gewalt, politischen und wirtschaftlichen Zwang aufrecht, er hält uns auch fest, indem er zu Impulsen aufruft, und dank imaginärer und sprachlicher Arbeit dessen, was Gramsci »Hegemonie« nennt. Als Grundlage für diesen Text besuchte Sandra Lucbert, eine Weggefährtin von Gisèle Vienne, eine szenische Probe von EXTRA LIFE.