Ich bin immer noch am Suchen. Aber ich habe Begleitschutz.
Ich weiss immer noch nicht, welche Fragen ich den hundert Teilnehmer:innen von Jetzt&Jetzt im März stellen werde – ich weiss bloss, dass es Fragen sein müssen, die spezifisch und zugleich offen genug sind, damit sie zu einem Spektrum an Antworten führen, mit dem ich dann bis zum August so gut arbeiten kann, auf dass es möglich wird, dass sich Besucher:innen in der Turbinenhalle von Gesichtern und Stimmen wildfremder Menschen zu elementaren Dingen ihres eigenen Lebens führen lassen.
Ich bin immer noch am Suchen, aber zum Glück bin ich den Kräften des Ungewissen und des Zweifels nicht alleine ausgesetzt: ein Buch begleitet mich, eine Stimme, die für mich Töne trifft, in deren Klang ich in Ruhe sinnieren kann. Ich halte immer Ausschau nach solchen Büchern, ich finde sie nur selten, aber seit dem 17. Januar 2023 habe ich mich nun in vielen Morgenstunden im Begleitschutz von Orwells Rosen befunden.
»Im Frühling 1936 pflanzte ein Schriftsteller Rosen.« So hebt Rebecca Solnit an. Sie sieht in Orwells Rosengarten die Fragen verkörpert, »wer er gewesen war und wer wir waren und wie Freude, Schönheit und Stunden ohne messbares praktisches Resultat zum Leben eines Menschen – vielleicht jedes Menschen – passten, dem gleichzeitig Gerechtigkeit, Wahrheit, die Menschenrechte und der Versuch, die Welt zu verändern, am Herzen lagen.«
Ich lese am Morgen meist nur ein paar Seiten, setzte manchmal einen Punkt an den Rand, wenn ich einen Satz nochmals lesen möchte und lasse das Buch neben mir liegen, beginne selber zu schreiben und suche mit meinen eigenen Worten weiter.
Heute nun, am 12. Februar 2023, ist es für mich mit diesem Begleitschutz zu Ende, und es bleibt mir bloss noch das Vergnügen, alle die markierten Sätze wiederzulesen und einige davon in mein Arbeitsjournal zu übertragen, damit sie noch als Wegzehrung bei mir bleiben auf der Suche, die immer noch andauert.
Viele einzelne Bäume, die mir in meiner Kindheit vertraut waren, erkenne ich immer noch wieder, so wenig haben sie sich verändert und ich mich dagegen so sehr.
»Mir fiel ein wie ich in den ersten Monaten nach Ausbruch des Krieges bei einem Spaziergang durch den Jardin du Luxembourg unter einer alten Kastanie stehen geblieben war, die wahrscheinlich schon die Französiche Revolution miterlebt – wie ein Zwerg kam ich mir vor und wünschte, ich könnte mich in einen Baum verwandeln, bis wieder Frieden wäre.«
(Sie) haben mir immer wieder gezeigt, warum Genauigkeit und Sorgfalt im Umgang mit der Sprache, den Fakten, der Naturwissenschaft und der Geschichte so wichtig sind, haben mir klar gemacht, welche Kraft von einer einzelnen Stimme oder einem Chor vieler ganz gewöhnlicher Menschen ausgehen kann, haben mich darauf hingewiesen, dass die wirklich wichtigen Dinge nicht zuletzt verteidigt werden können und müssen, indem man sie benennt, anerkennt, versteht und offen würdigt. Genauso wichtig aber waren für mich diejenigen, die das Vergnügen, die Freude, die Schönheit und jene Momente im Leben verteidigen und dafür sorgen, dass sie entstehen, die nicht produktiv, nicht in Ergebnissen messbar sind – die privaten, nachdenklichen, abschweifenden Augenblicke, die uns ebenso nähren und formen.
Mats Staub, 12. Februar 2023