Seit dem 18. Oktober 2019 sind die Straßen Chiles zu unserer öffentlichen Bühne geworden, ein Raum, in dem sich unser Zustand der Gleichheit entfaltet und wo wir unsere Rolle als Bürger:innen durch Aufrufe, Widerspruch, Solidarität, Ungehorsam usw. ausüben können. An diesem Tag gingen Tausende von Bürger:innen raus, um auf unseren Straßen zu kämpfen, die Namen unserer Plätze neu zu definieren, Denkmäler niederzureißen und uns unsere Mauern anzueignen, um unsere Sehnsüchte, Parolen und viele Jahre des Missbrauchs zu reflektieren. Um eine neue Vision zur Schau zu stellen, die wir zum ersten Mal im Kollektiv aufgebaut haben.
Die performative Kraft des Geschehenen verlangt nach unserem Beistand und bringt uns in eine Krise, fordert uns auf, unsere Kunst neu zu formulieren, um an diesem historischen gesellschaftlichen Prozess teilzunehmen und mitzuarbeiten, fordert sie heraus, ihre emanzipatorische und kathartische Kapazität zurückzugewinnen, lädt uns als Künstler:innen zu einem Schritt ins Unbekannte ein, damit wir uns verirren und regelrechte Risiken eingehen.
Bis es lebenswert ist und Öffentliches Eigentum sind zwei Bücher, die die verschiedenen Ausdrucksformen von Staatsbürgerschaft im öffentlichen Raum im Kontext des »Sozialen Ausbruchs«, den Chile erlebte, festhalten. Diese Bilder möchte ich mit Euch teilen und Euch zu Zeugen eines historischen Meilensteins machen, einen der schönsten und hoffnungsvollsten Momente, die ich erleben durfte und gleichzeitig einer der dunkelsten und schmerzlichsten. Bis heute gibt es mehr als 400 Menschen mit Augenverletzungen, mehr als 30 Tote, mehr als 15.000 ungerechtfertigt inhaftierte Menschen und Hunderte von Vorwürfen wegen Folter und sexueller Gewalt gegen Demonstrant:innen. Human Rights Watch, Amnesty International, die Interamerikanische Menschenrechtskommission und die Vereinten Nationen bestätigten in ihren Berichten die Brutalität des Vorgehens der Polizei und die allgemeine Verletzung der Menschenrechte. Mehr als anderthalb Jahre sind vergangen, und keiner dieser Berichte hat es geschafft, die Repressionen der Polizei zu verringern oder Gerechtigkeit zu schaffen.
Marco Layera, Santiago de Chile, 31. Mai 2021
Regie Paisajes para no colorear/Nicht auszumalende Landschaften