© Øystein Haara

Nachtwache

Bevor die Industrialisierung und elektrifizierte Beleuchtung in Häusern und Straßen die Menschen in Europa in einen neu regulierten Rhythmus zwängten, waren die heute empfohlenen acht Stunden Schlaf eher selten. Es wurde vielmehr in zwei Abschnitten geschlafen, vom Einbruch der Nacht bis Mitternacht und nach einer kurzen Wachphase erneut bis zum Morgengrauen. Während des Schreibens dieses Textes daran erinnert, lese ich nochmal genauer nach.[1] Jener Moment des Wachseins mitten in der Dunkelheit der Nacht, ‚watch‘ oder ‚Nachtwache‘ genannt, wurde mit allerlei Aktivitäten gefüllt, vor allem aber damit verbracht, soeben Geträumtem nachzuhängen. Nicht notwendig zusammenhängende Gedanken, traumähnliche Erzählungen und halluzinierte Ereignisse ließen eine Nähe zu anderen Realitäten zu. So war es eine gewisse Form der Luzidität, die diesen Zustand des Wachens ohne Aufgabe begleiteten.

Eine scheinbare Unendlichkeit in diesem monochromen Relief der Landschaft. Maja Zimmermann

Vorbeiziehende Landschaften

Im Oktober 2022 sitze ich im Zug von Oslo nach Bergen, um mir The Living Monument im Studio Bergen, der Produktionsstätte und Bühne der 1989 gegründeten norwegischen Tanzkompanie Carte Blanche, anzuschauen. Von den Neubausiedlungen der Osloer Vorstädte verändert sich die Landschaft langsam von dunkel durchtränkten Grüntonen zu grauschwarzen, felsigen Zerklüftungen, bis die Bahn schließlich ihre langgezogenen Kurven entlang der schneebedeckten Hochebene zieht. Mein Blick gleitet über die an mir vorbeiziehende Landschaft. Unterschiedliche Weißtöne wechseln sich in einem beständigen, sich nie identisch wiederholenden Rhythmus ab. Eine scheinbare Unendlichkeit in diesem monochromen Relief der Landschaft.

Dunkelheit

Aus der schwarzen Tiefe des Bühnenraumes tauchen langsam Umrisse von Gestalten auf. Mein Gehirn strengt sich an, aus den spärlichen visuellen Informationen ein schlüssiges Bild zu generieren. Allmählich zeichnet sich eine Szenerie mit Figuren ab, alle in schwarz gekleidet, schwarz maskiert, vor schwarzem Hintergrund. Sie erinnern mich an die Pest, ohne dass ich ein konkretes Bild dieser Krankheit hätte, nur weiß, dass sie Schwarzer Tod genannt wurde und gefürchtet war. Ganze Landstriche verloren ihre menschlichen Bewohner:innen an diese Pandemie, die über Jahrhunderte immer wieder irgendwo ausbrach und abebbte. Das vor mir auf der Bühne ausgebreitete Tableau verändert sich kontinuierlich, aber so langsam, dass mir lange Zeit bleibt, diesen historischen Ereignissen nachzuhängen, bevor sich neue Assoziationen in meinen Gedankenfluss schieben.

Monumente der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Im Gespräch erzählt mir die in Berlin lebende Choreografin Eszter Salamon von ihrer mittlerweile bereits mehrere Jahre umfassenden, künstlerischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Einer intuitiven Herangehensweise folgend und nicht zuletzt von ihrer eigenen Biografie geprägt, sucht Salamon nach alternativen Erzählungen zur vorherrschenden Perspektive auf (Tanz-)Geschichte. Aufgewachsen in Osteuropa, in der realsozialistischen Volksrepublik Ungarn, lernte sie sowohl Volkstanz als später auch klassisches Ballett, bevor sie sich schließlich dem zeitgenössischen Tanz zuwandte.

Auf meine Fragen antwortet sie mäandernd, indem sie in die Vorgeschichte ihres eigenen Oeuvres ausholend Verbindungslinien zieht. Ausgehend von der Idee eines performativen Monuments, oder besser: Anti-Monuments, entwickelte Salamon eine Serie von Choreografien, deren zehnter Teil The Living Monument bildet. Die Kritik, die diese Arbeiten begleitet, gilt sowohl dem dominanten, westlichen Narrativ, welches andere Perspektiven und Lebensrealitäten immer wieder marginalisiert und übergangen hat, als auch der Kanonisierung einer bestimmten Kunsttradition, für deren Erhalt nicht-westliche Ästhetiken, Körper und Ausdrucksweisen zwangsläufig negiert werden mussten.

Meine Erinnerung füllt Angedeutetes aus, während meine Sinne Konkretes halluzinieren. Maja Zimmermann

Die MONUMENT-Serie beginnt mit MONUMENT 0: Haunted by Wars (1913-2013), eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Europas. Während die Choreografie unterschiedliche, von westlichen Interessen geleitete Kriege der letzten hundert Jahre in den Blick nimmt, wird darin auch verschiedenen Volkstänzen nachgespürt, welche in den Regionen der jeweiligen Kriegsschauplätze praktiziert wurden. Mit MONUMENT 0.3: The Valeska Gert Museum (2017) und der bis heute andauernden, intensiven Beschäftigung mit dem Leben und Werk der deutschen Tänzerin, Kabarettistin und Schauspielerin Valeska Gert (1892–1978), verschob sich der Fokus auf Momente, Personen und Erfahrungen, die vor dem Vergessen bewahrt, in Erinnerung gerufen und gefeiert werden sollten. MONUMENT 0.7: M/OTHERS (2019), ein intimes Duett mit ihrer eigenen Mutter, wirkt normativen Zuschreibungen und Repräsentationen weiblich sozialisierter Körper entgegen und führt auf ganz andere Weise eine feministische, transgenerationelle Beziehungsarbeit weiter.

Gestaltete Halluzinationen

Die aktuelle Arbeit MONUMENT 0.10: The Living Monument verweist auf keinen bestimmten Moment in der Geschichte. In elf monochromen Tableaus, von schwarz über blau, rot, orange bis weiß, tauchen unspezifische, opake Momente einer möglichen Vergangenheit auf, die in ihrer Lesbarkeit undeutlich bleiben. In der beständigen Transformation von Stoffen und Farben tauchen mal kohärentere, mal weniger greifbare Figuren auf. Einer anderen Welt entstiegen, erhalten sie ein Eigenleben. Aus zahlreichen, in Theaterfundi zusammengesuchten und recycelten Kostümteilen wurden aufwändige Materialcollagen arrangiert, unter denen die 14 Tänzer:innen von Carte Blanche beinah verschwinden. Dafür werden ihre Stimmen hörbar, mal ganz klar, mal zur Klanglandschaft transformiert. Die Komponistin Carmen Villain hat eine nur aus menschlichen Stimmen bestehende, elektronisch verfremdete Klangebene geschaffen, welche die einzelnen Bilder mit weiteren Assoziationen überlagert. Meine Erinnerung füllt Angedeutetes aus, während meine Sinne Konkretes halluzinieren. Das Geschehen folgt keiner Narration sondern fließt wie Schwemmholz auf einem Fluss. Manchmal ordnen sie sich durch Strömungen zu ornamentalen Gebilden, um nach einiger Zeit wieder davongetragen zu werden, langsam und unaufhaltsam.

Landschaften sich überlagernder Zeiten

Unsere Körper transformieren sich unaufhörlich, sie altern, sterben und werden irgendwann zersetzt. Eszter Salamon erinnert uns mit ihren Choreografien an diesen Prozess, an die Verwandlung, der wir unterworfen sind. Viele ihrer Arbeiten erinnern an Totentänze, für welche sie somatische Praktiken entwirft. Salamon bezieht sich dabei auch auf die Zeitphilosophie Henri Bergsons und dessen Konzept der Dauer, in welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft simultan existieren. Denn »[v]om Gegenwärtigen darf man sagen, dass es in jedem Augenblick ‘war’, und vom Vergangenen, dass es ‘ist’, dass es ewig ist, zu allen Zeiten.«[2] Eine Zeit, die sich nicht in einem Nacheinander von Momenten sondern vielmehr in ihrer Gleichzeitigkeit von erinnertem Vergangenen, erlebtem Gegenwärtigen und imaginierten Zukünftigen erfährt.

In extrem verlangsamten Bewegungen werden bei Salamon Grenzen und Kategorisierungen aufgelöst, um über den menschlichen Körper hinauszugelangen und zum Ding, zur Landschaft zu werden. Bis hin zur faktischen Mumifizierung spielt Salamon mit Langsamkeit und sich überlagernden Zeitebenen, mit der Lebendigkeit des Toten, dem gegenwärtigen Vergangenen. Es wirkt, als könne sie die Zeit selbst manipulieren. 

In extrem verlangsamten Bewegungen werden bei Salamon Grenzen und Kategorisierungen aufgelöst, um über den menschlichen Körper hinauszugelangen und zum Ding, zur Landschaft zu werden. Maja Zimmermann

Zwischen schlafen und wachen

Eszter Salamon versteht ihre Rolle als Choreografin mittlerweile vor allem darin, Verbindungen zwischen Menschen, Orten, Zeiten und Erinnerungen herzustellen, erzählt sie abschließend. The Living Monument ist ein solcher Versuch, ein monochromes Ritual, das Vergangenheit mit vorüberziehender Gegenwart verknüpft. Die Aufführung fällt aus der gewohnten Umgebungszeit, breitet sich aus als diffuse Zeit zwischen hier und irgendwo anders. Es ist das Gefühl des verschwommenen Schauens durch halb geöffnete Lider, an das ich mich nach der Aufführung erinnere. Wie im Halbschlaf wahrgenommene Momente, die ineinanderfließen und sich durchdringen, während die Bilder vor allem vor dem inneren Auge vorbeiziehen und weit Entferntes zum Vorschein bringen. Ein hellwacher Moment mitten im Schlaf.

[1] Roger Ekirch: In der Mitte der Nacht, https://monde-diplomatique.de/artikel/!5761920#fn2

[2] Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2007, S. 74

MAJA ZIMMERMANN arbeitet als Dramaturgin und Kuratorin für zeitgenössischen Tanz und Performance. Seit Sommer 2021 ist sie Teil des Teams von PACT Zollverein und dort verantwortlich für Programm und Projektentwicklung.