Im Traum laufe ich immer durch die Straßen von Stahlhausen und Goldhamme. Die Wege sind unendlich, die Stadt kommt nie zur Ruhe; ein grenzenloses Ballungsgebiet von Häusern, Farben, Geräuschen und Zeit. Und Namen: Kohlenstraße Ecke Umweltpark. Die Autobahn brüllt. Die Geschichte brüllt. Die Widersprüche prasseln aufeinander ein, unterbrechen meinen Lauf.
Ein Schleichweg lockt mich vom Gehsteig ins Gestrüpp unter eine Brücke aus Beton, wo noch alte Schienen liegen. Weiter hinter ist die Schneise der aufgegebenen Güterstrecke längst asphaltierter Fahrradweg. Die Geräusche der Autos und Züge sind in der Senke nur noch dumpf zu hören, dafür Vögel und Rascheln im Unterholz. Ich folge einem dieser Fuchs- oder Wildschweinwege, geduckt durch Brombeerranken, lande auf einer verlassenen Zufahrtsstraße vor einem einzeln stehenden Tor. Der Zaun darum ist verschwunden, nur Betonpfeiler alle paar Meter bezeugen seine vergangene Existenz. Ich lasse mich treiben, irgendwo im sogenannten Umweltpark, der eher ein weitläufiges Gewerbegebiet als ein Stadtgarten ist. Das Areal ist menschenleer. An seinen Grenzen verlaufen Schienen und die Autobahn. Ich folge dem Lauf eines fast ausgetrockneten Baches durch einen schmalen Tunnel.
Haus der Geschichte des Ruhrgebiets. In meiner Lieblingsbibliothek forsche zur Vergangenheit jener Orte, durch die ich mich beim Laufen spülen lasse und deren klangvolle Namen mich faszinieren. Die Kohlenstraße hieß früher tatsächlich einmal Brüllstraße. Das Gelände des heutigen Umweltparks, war in den 1940 Jahren eines von über 100 »Außenkommandos« des Konzentrationslagers Buchenwald. Außer einem 2019 errichteten, eher unscheinbaren Mahnmal an einem der zahlreichen Seiteneingänge des ehemaligen Bochumer Vereins-Geländes (heute vom Technischen Dienst der Stadt Bochum genutzt) entdecke ich vor Ort keine Spuren aus dieser Zeit, kein Gedenken. Aber die Geschichte, mit all ihren unaushaltbaren Widersprüchen, bleibt allgegenwärtig. Sie hat die Gegend wortwörtlich untergraben.
KGV Bergmannsheil. Am anderen Ende des Tunnels entsteige ich dem Marbach in ein idyllisches Kleingartenparadies. Auf sonnigen Hängen wächst Gemüse und Salat. Es ist Samstagnachmittag, Stadiongeräusche hallen durch das kleine Tal. Trommeln und Trillern, ein Brausen. Jetzt hat also der VfL getroffen. Hinter mir schießt ein ICE durch die Horizontale. Ich laufe wieder auf festem Grund, laufe auf das große, moderne Krankenhaus zu, das ebenfalls Bergmannsheil heißt. Berchmannsheil - wie man hier sagt. Die beinahe ungebrochene Verbundenheit zur Geschichte des Bergbaus und der regionale Stolz auf dieses Erbe, auf die von Arbeit geschundenen Menschen, auf die von Maschinen gebeutelte Natur, war es, was mich zuerst in diese Gegend trieb. Nicht nur das großartige Bergbaumuseum, die ganze Region ist ein Fest für Nostalgiker, Romantiker und Fans von Novalis, wie ich es zugegebener Weise bin. Den Symbolen des Raubbaus entkommt man hier nicht. Auch nicht dem Respekt, welcher den Proletariern der Schächte entgegengebracht wird, dem Kult, der sich bis auf den Fußballplatz ausdehnt und der Wehmut in den Kneipen und Trinkhallen. Dies ist eine andere Form des Vernarbens oder Verheilens, als ich sie aus den Revieren von Bitterfeld, Leipzig oder der Lausitz kenne, wo ich herkomme.
Beim Laufen habe ich genau das richtige Tempo, um über diese Dinge nachzudenken. Manchmal schreibe ich etwas auf. Wenn es mir schlecht geht, laufe ich bis zur Erschöpfung. Und dann: wieder zurück. Das Laufen beeinflusst das Denken, und das Denken erschöpft sich tatsächlich – irgendwann. Die Schleifen, die ich denke, lösen sich im Laufen. Sie kriegen mich nicht zu fassen, sind Schlingen nur, wenn ich es mir erlaube. Auch deshalb bin ich unterwegs. Beim Laufen lese ich oder ich blicke in Augen, sammelt sich der Müll im Rinnstein zur ersten Zeile eines Gedichts. Oder zum Abschluss, zur Mitte. Oder alles löst sich auf und die Worte verlieren wieder den Sinn. Was ich nicht mag sind rote Ampeln, sie bringen mich aus dem Rhythmus.