Der moderne Schlagzeugapparat ist uferlos, und seine Einzelinstrumente entstammen der afrikanischen, der arabischen, der osmanischen, der fernöstlichen, der südostasiatischen, der mittel- und südamerikanischen und nur zu einem geringen Anteil auch der europäischen Kultur – eine Tatsache, die in der westlichen Kunstmusik die längste Zeit unreflektiert geblieben ist. Die längste Zeit fristete das Schlagzeug im Orchester auch eine auf rhythmus- und akzentgebende Begleitfunktion beschränkte Existenz. In der Kammermusik war es gänzlich inexistent. Erst im 20. Jahrhundert wurde nach und nach der unerhörte Reichtum seiner Möglichkeiten erkannt. Neue klangästhetische Visionen der Moderne involvierten immer mehr assoziative, geräuschhafte, außermusikalische Klänge, angefangen mit Kuhglocken, Peitsche und Hammer in Gustaf Mahlers 6. Sinfonie (1904). Wie sich eine Atmosphäre klanglich nicht nur vermittelt, sondern einen ganz umhüllen kann, erlebt man auch in Leoš Janáčeks letzter Oper Aus einem Totenhaus (1927/28). Mit alltäglichen Werkzeugklängen wie Ketten, Amboss, Axt oder Säge definiert Janáček gleich in der Ouvertüre das von unablässig harter körperlicher Arbeit geprägte Umfeld des sibirischen Straflagers. Wie diese Werkzeuge landete jeder neue Klangerzeuger, der ins Orchester getragen wurde, bei den Perkussionisten. Hier entstand eine Nahtstelle zwischen Musik und Alltagswelt, ein komplett heterogener Organismus, der alle Musikstile und die ganze Welt in sich gespeichert hält. Und je mehr das Schlagzeug ins Licht rückte, umso schneller wuchs das Instrument und das Repertoire dafür. Mit Fug und Recht spricht man daher vom »Jahrhundert des Schlagzeugs« - und die Entwicklung ist nicht abgeschlossen.
Der ungarische Komponist Béla Bartók gehört zu den ersten, die das Schlagzeug in der westlichen Kunstmusik emanzipieren wollten. In seiner Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug (1938) setzt er das Schlagzeug mit dem Klavier auf Augenhöhe, indem er ihre herkömmlichen Rollen quasi vertauscht: Das Klavier behandelt er aufgrund seiner Hammertechnik wie ein Schlagzeug, während er beim Schlagzeug mithilfe von Xylophon und Pedalpauken das melodische Potenzial hervorhebt, sodass Klavier und Schlagwerk ebenbürtige melodie- klang- und rhythmusgebende Kammermusikpartner sind.
Die Sololiteratur ließ länger auf sich warten. Als man bei den Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1959 den Instrumentalwettbewerb für Schlagzeug auszuschreiben plante, und dann feststellte, dass es dafür gar keine Sololstücke gab, schrieb Karlheinz Stockhausen kurzerhand seinen epochalen Zyklus für einen Schlagzeuger Nr. 9 – ein Titel, der wörtlich und bildlich zu verstehen ist: Er gruppierte die Instrumente nach Material - Holz, Fell, Metall - und ordnete die Aufstellung der Instrumente im Kreis an, um nahtlose klangliche Abstufungen im Übergang von einer Gruppe zur anderen zu ermöglichen. Zyklus inspirierte sofort eine Reihe anderer Komponist:innen, Solostücke für Schlagzeug zu schreiben. Der Befreiungsschlag aus der Begleitfunktion war gelungen!
Inzwischen ist das Schlagzeug mehr als nur emanzipiert. Neben der fabelhaften Virtuosität, die Jazz- und Rockgrößen wie Billy Cobham zu Legenden am Drumset oder einen Musiker wie Mohammad Reza Mortazavi zu einem Meister der persischen Schlaginstrumente Tombak und Daf gemacht hat, bietet das variable Instrument allein schon szenisches Potenzial genug für Performances mit visuellem und choreografischem Wert (Marilyn Mazur, Camille Emaille u.a.) – manchmal sogar mit musiktheatralem Charakter, wie es sich das Ensemble This I Ensemble That zur Eigenschaft gemacht hat, oder wie es auch in Georges Aperghis’ neuem Musiktheater Die Erdfabrik zum Einsatz kommt.