© Ralf Brunner

Musik als Kommunikationsmittel reicht in prähistorische Zeiten zurück. Dabei ist die menschliche Stimme das älteste aller »Instrumente«, das einzige, das ohne Hilfsmittel auskommt. In ihr vereint sich das primäre Kommunikationsmittel des Sprechens und das sekundäre des Singens – mit oder ohne Worte. Obschon mit dem gesprochenen Wort eine enorme Präzision möglich ist, gibt es Dimensionen von Vermittelbarem, zu denen keine Sprache vordringt und die vokal oder instrumental erst vollständig ausleuchtbar sind.

Die ersten Musikinstrumente, die sich der Mensch gebaut hat, sind Trommeln und Flöten. Dazu bedurfte es wenig: Erste Flöten wurden in der Steinzeit aus Vogelknochen oder Mammutelfenbein gefertigt; die erste Trommel, die sogenannte Erdtrommel, bestand aus einer über eine Grube gespannten Tierhaut. Mit der Zeit tauchte die Trommel in allen denkbaren Kontexten und Funktionen auf, vom Warnsignal bis hin zur rituellen Ahnenbeschwörung, bei der mit den Toten kommuniziert wird. Ihr Spektrum wurde so breit, dass auch die schärfsten Gegensätze des menschlichen Lebens darin Platz fanden: der wilde Tanz wie das militärische Marschieren.

Schlagzeugmarathon – Ein Rundumschlag

Der moderne Schlagzeugapparat ist uferlos, und seine Einzelinstrumente entstammen der afrikanischen, der arabischen, der osmanischen, der fernöstlichen, der südostasiatischen, der mittel- und südamerikanischen und nur zu einem geringen Anteil auch der europäischen Kultur – eine Tatsache, die in der westlichen Kunstmusik die längste Zeit unreflektiert geblieben ist. Die längste Zeit fristete das Schlagzeug im Orchester auch eine auf rhythmus- und akzentgebende Begleitfunktion beschränkte Existenz. In der Kammermusik war es gänzlich inexistent. Erst im 20. Jahrhundert wurde nach und nach der unerhörte Reichtum seiner Möglichkeiten erkannt. Neue klangästhetische Visionen der Moderne involvierten immer mehr assoziative, geräuschhafte, außermusikalische Klänge, angefangen mit Kuhglocken, Peitsche und Hammer in Gustaf Mahlers 6. Sinfonie (1904). Wie sich eine Atmosphäre klanglich nicht nur vermittelt, sondern einen ganz umhüllen kann, erlebt man auch in Leoš Janáčeks letzter Oper Aus einem Totenhaus (1927/28). Mit alltäglichen Werkzeugklängen wie Ketten, Amboss, Axt oder Säge definiert Janáček gleich in der Ouvertüre das von unablässig harter körperlicher Arbeit geprägte Umfeld des sibirischen Straflagers. Wie diese Werkzeuge landete jeder neue Klangerzeuger, der ins Orchester getragen wurde, bei den Perkussionisten. Hier entstand eine Nahtstelle zwischen Musik und Alltagswelt, ein komplett heterogener Organismus, der alle Musikstile und die ganze Welt in sich gespeichert hält. Und je mehr das Schlagzeug ins Licht rückte, umso schneller wuchs das Instrument und das Repertoire dafür. Mit Fug und Recht spricht man daher vom »Jahrhundert des Schlagzeugs« - und die Entwicklung ist nicht abgeschlossen.

Der ungarische Komponist Béla Bartók gehört zu den ersten, die das Schlagzeug in der westlichen Kunstmusik emanzipieren wollten. In seiner Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug (1938) setzt er das Schlagzeug mit dem Klavier auf Augenhöhe, indem er ihre herkömmlichen Rollen quasi vertauscht: Das Klavier behandelt er aufgrund seiner Hammertechnik wie ein Schlagzeug, während er beim Schlagzeug mithilfe von Xylophon und Pedalpauken das melodische Potenzial hervorhebt, sodass Klavier und Schlagwerk ebenbürtige melodie- klang- und rhythmusgebende Kammermusikpartner sind.

Die Sololiteratur ließ länger auf sich warten. Als man bei den Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1959 den Instrumentalwettbewerb für Schlagzeug auszuschreiben plante, und dann feststellte, dass es dafür gar keine Sololstücke gab, schrieb Karlheinz Stockhausen kurzerhand seinen epochalen Zyklus für einen Schlagzeuger Nr. 9 – ein Titel, der wörtlich und bildlich zu verstehen ist: Er gruppierte die Instrumente nach Material - Holz, Fell, Metall - und ordnete die Aufstellung der Instrumente im Kreis an, um nahtlose klangliche Abstufungen im Übergang von einer Gruppe zur anderen zu ermöglichen. Zyklus inspirierte sofort eine Reihe anderer Komponist:innen, Solostücke für Schlagzeug zu schreiben. Der Befreiungsschlag aus der Begleitfunktion war gelungen!

Inzwischen ist das Schlagzeug mehr als nur emanzipiert. Neben der fabelhaften Virtuosität, die Jazz- und Rockgrößen wie Billy Cobham zu Legenden am Drumset oder einen Musiker wie Mohammad Reza Mortazavi zu einem Meister der persischen Schlaginstrumente Tombak und Daf gemacht hat, bietet das variable Instrument allein schon szenisches Potenzial genug für Performances mit visuellem und choreografischem Wert (Marilyn Mazur, Camille Emaille u.a.) – manchmal sogar mit musiktheatralem Charakter, wie es sich das Ensemble This I Ensemble That zur Eigenschaft gemacht hat, oder wie es auch in Georges Aperghis’ neuem Musiktheater Die Erdfabrik zum Einsatz kommt.

Wahre Kunst gibt die Möglichkeit, die geistige Dimension zu öffnen: Diese Möglichkeit verlieren die Menschen, denn sie wollen nur noch leichtes Leben, leichte Musik, leichte Kunst. Sofia Gubaidulina

Wilder Ernst, großes Spiel – Michael Wertmüller, Sofia Gubaidulina, Simon Steen-Andersen

Kein Instrument vereint in sich den Kern so vieler eigenständiger musikalischer Stile und Kulturen, wie es das Schlagzeug tut. So ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade ein Komponist wie Michael Wertmüller, der als Jazzschlagzeuger wie als Orchesterperkussionist Karriere gemacht hat, die scheinbar unvereinbaren Welten von Klassik und Jazz als EINE Welt begreift und behandelt. In seinem experimentellen Opernraum D•I•E (UA Ruhrtriennale 2021) hatte er das mit fünf Bands und Ensembles völlig unterschiedlicher Stile unter Beweis gestellt. In seinem neuen Stück für die Ruhrtriennale lässt er nun zwei gegensätzliche Orchester –  Sinfonieorchester und Bigband – zu einem großen heterogenen Klangkörper zusammenwachsen. Dass sich die beiden nicht ganz ohne Weiteres in Einklang bringen lassen und mit unterschiedlichen Rhythmen, Metren und Tempi immer wieder genüsslich gegeneinanderlaufen, verrät schon der Titel Shlimazl.

Bigband steht für Spaß und Unterhaltung. Solche Leichtfüßigkeit ist jedoch das letzte, womit man die tatarisch-russische Komponistin Sofia Gubaidulina assoziieren würde. Tatsächlich sieht die 91-Jährige in der heutigen »Spaßgesellschaft« die bedenkliche Tendenz, dass jede geistige Aktivität abhandenkommt und das Leben nur noch horizontal und eindimensional verläuft. »Wahre Kunst gibt die Möglichkeit, die geistige Dimension zu öffnen: die Vertikale«, sagt sie 2002 in einem Interview mit Janica Draisma. »Diese Möglichkeit verlieren die Menschen, denn sie wollen nur noch leichtes Leben, leichte Musik, leichte Kunst. Und alles nur zum Spaß. Das ist eine sehr große Gefahr. Es ist der Weg zum Tod. Zum geistigen Tod. Aber sie bemerken es nicht.« Spaß und Leichtigkeit hält Gubaidulina dennoch für wichtig, nur sollten sie mit geistiger Aktivität und Tiefe in einer Balance stehen, da man sonst die »geistige Muskulatur« verliere, die »Verbindung zum Himmel« – oder wie sie es an anderer Stelle ausdrückt: die »Wurzeln im Himmel«. Gern verwendet sie die Metapher des Kreuzes, um diese Balance zu verdeutlichen. Auf den ersten Blick erstaunt vielleicht, dass diese hochgeistige und tiefreligiöse Frau, deren Kreativität einst aus Armut, Angst und Trostlosigkeit geboren wurde, ein frivolitätsverdächtiges Stück wie Revuemusik für Sinfonieorchester und Jazzband schreibt. Aber eben nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten fällt auf, dass sie ihre zwei konträren Klangkörper genau in diesen Dienst stellt: ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen. An Expertise für Bigband zu komponieren, fehlt es ihr dabei keineswegs, schrieb sie doch in jungen Jahren zum Broterwerb in Moskau oft Filmmusik - eine Qualität, die in dieser vollends unfrivolen, fantastisch-skurrilen Komposition immer wieder zum Tragen kommt.

Über den Humor und das Spiel dringt Steen-Andersen zu einer neuen Musik, einer Art Meta-Musik vor, die sich aus diesem Trümmerhaufen von audiovisuellem Materialschotter herausschält und sich wie ein klingender Phoenix aus der Asche erhebt. Barbara Eckle

Dass Spaß und Humor nicht mit grundsätzlicher Oberflächlichkeit gleichzusetzen sind, sondern auch ein Schlüssel zu Tiefe, Zweifel oder etwas Unbekanntem sein kann, legt der dänische Komponist Simon Steen-Andersen nahe. Sein Interessensfeld ist der Aufführungsprozess von Musik, die Konzertsituation und ihre Insignien, mit denen er als Material spielt – und zwar die aberwitzigsten, absurdesten Spiele. Das Material seines audiovisuell angelegten Klavierkonzerts (Piano Concerto) gewinnt er etwa aus dem Video eines Flügels, der aus einiger Höhe auf einen Betonboden kracht und zerschellt. In seiner Black Box Music für Soloschlagzeug, Video und Ensemble untersucht und dekonstruiert er die performativen Qualitäten des Puppentheaters und des Dirigierens zugleich. In seinem TRIO für Orchester, Chor, Bigband und Video betritt er die monumentale Skala: Auf einer großen Leinwand über den Klangkörpern spielen sich Sequenzen von kleinstfragmentiertem, gelooptem oder in schneller Abfolge collagiertem Videomaterial von Konzert- und Probensituationen der drei Klangkörper ab. Das historische Material stammt aus dem Archiv des Südwestrundfunks. Und die Live-Musiker:innen, die diesem Hackenschlagen zu folgen haben, liefern den atemlosen Soundtrack dazu. Der irre Ritt unterhält, begeistert, belustigt, fasziniert – wirft in voller Fahrt aber auch Zweifel auf: Macht sich der Komponist lustig über die »Dirigentengötter« und den verstaubten, pathetischen Gestus des Musikmachens von damals? Oder zielt er auf etwas ganz anderes ab? Steen-Andersen, so viel wird klar, befragt den heiligen Ernst, mit dem seit Jahrhunderten westliche Kunstmusik aufgeführt wird. Doch hinter dem ikonoklastischen Trieb scheint auch ein Bedürfnis zu stehen, Musik in ihrer Wahrhaftigkeit von dem verdeckenden Gewand des bürgerlichen Performance-Habitus zu befreien. Über den Humor und das Spiel dringt Steen-Andersen zu einer neuen Musik, einer Art Meta-Musik vor, die sich aus diesem Trümmerhaufen von audiovisuellem Materialschotter herausschält und sich aus der Hektik des Springens, Schneidens und Montierens wie ein klingender Phoenix aus der Asche erhebt.

Die kommunikative Welt von Georges Aperghis

Auch der griechisch-französische Komponist Georges Aperghis hatte als junger Künstler große Zweifel am konventionellen Musik- und Theaterbetrieb. Anfang der 70er-Jahre feierte er vielbeachtete Erfolge bei allen berühmten Musiktheaterfestivals in Frankreich, aber er hatte das Gefühl, Eulen nach Athen zu tragen, seine Arbeit am falschen Ort zu leisten. Daher stieg er für etliche Jahre aus diesem Geschäft aus und gründete in einem von Armut und sozialer Not gezeichneten Pariser Vorort eine Gruppe für experimentelles Musiktheater, die sich zum Ziel machte, eine neue künstlerische Ausdrucksform zu entwickeln, die vom Alltag inspirierte, soziale Ereignisse in die Welt der Poesie überträgt. Die ersten Bewohner des Vororts, die sich für die Neuankömmlinge aus Paris interessierten, waren Kinder. Und so begann seine Arbeit mit ihnen. Sie machten spielerische Improvisationsübungen, erkundeten, wie Sprache, Klang und Gestik sich zueinander verhalten. Das Material, mit dem sie spielten, waren die Geschichten dieser Kinder, die größtenteils aus Nordafrika eingewandert waren, und die von Nachbarschaft und Autolärm erzählten, von ihrer Heimat und der Überfahrt übers Mittelmeer. Aus Elementen dieser Workshops generierte Aperghis seine Musiktheatersprache, die er auch heute noch von dieser Basis aus weiterentwickelt.

In meiner Musik gibt es etwas, das mit dem Publikum, mit den Musikern und auch mit mir sprechen will. Georges Aperghis

Obwohl sich Georges Aperghis als Einzelgänger und Außenseiter bezeichnet, hat er ein so umfassendes Interesse am Menschen, dass der ihn über sein Werk stellt – und zugleich in dessen Zentrum. Und dieser Mensch will kommunizieren: »In meiner Musik gibt es etwas, das mit dem Publikum, mit den Musikern und auch mit mir sprechen will«, erklärt Aperghis. „Es ist keine Musik, die aus himmlischen Sphären kommt. Sie ist auf der Erde gemacht, für die Menschen, und sie erzählt von den Menschen, von der Liebe, von der Sprache, vom Körper“. Auch Instrumente nimmt er wie mitteilsame Menschen wahr, die mit ihm zu kommunizieren versuchen: »Bei einem Klavierkonzert von Mozart hat man das Gefühl, das Klavier spreche mit einem. Jedes Mal sagt es einem etwas anderes, nichts Genaues, aber es ist klar, dass es einem etwas sagen will und man versteht es beinahe. Das liebe ich! Und das würde ich gerne schaffen, aber das schafft meiner Meinung nach nur Mozart.«

Georges Aperghis behandelt Sprache als reinen Klang, als musikalisches Ausdrucksmittel jenseits des Inhalts. Ihn interessiert weniger, was konkret gesagt wird, als wie es gesagt wird. Es sind die schwer beschreibbaren Nuancen, die Bände sprechen über einen Menschen und sein Verhältnis zum Gesagten. Sie verraten etwas über Selbstsicherheit oder Irritierbarkeit, über innere Ruhe, Anspannung oder Zerrissenheit, auch über Charakter, Wahrhaftigkeit und Leidenschaft. Meist verlässt er die textliche Logik und zerlegt die Sprache in Silben und Phoneme, die er wie Töne handhabt. Er bildet daraus sogar eine Art Melodien, ohne dass zwangsläufig gesungen wird.

Nähe durch Sprache – Leoš Janáček

In Georges Aperghis träfe Leoš Janáček einen geistigen Verwandten, wenn der tschechische Komponist nicht fast ein Jahrhundert vor Aperghis geboren wäre. Zwar lässt ihre Musik nicht unmittelbar auf Ähnlichkeit schließen, aber der sprachnahe Gestus ist bei beiden unüberhörbar. Wie kein anderer ist Janáček dafür bekannt, sich in einer einzigartigen Präzision an der menschlichen Sprache – in seinem Fall der tschechischen – zu orientieren; wie Aperghis geht es ihm dabei weniger um die spezifischen Aussagen als um die Art und Weise, wie jedes Individuum den Worten mit seiner Stimme und Verfasstheit klanglich, melodisch, rhythmisch beim Sprechen Ausdruck verleiht. Zeit seines Lebens war Janáček geradezu versessen auf die sogenannte »Sprechmelodik« der Menschen, die ihn umgaben, seien sie bekannt oder fremd, bedeutend oder gewöhnlich. Er horchte ihrer Sprache, als sei sie Musik, und übertrug kleine melodisch-rhythmische Motive mit den dazugehörigen Silben in Notenschrift und notierte sie in einer beständig wachsenden Sammlung. Dieses an Charakteren reiche Sprechmelodienarchiv bildete die Basis seiner Kompositionen, und zwar der vokalen wie der rein instrumentalen. Manchmal scheinen ihm diese Notate auch als eine Art Speichermedium zu dienen, um ihm wichtige Erinnerungen am Leben zu halten - etwa die letzten Worte seiner mit nur 20 Jahren verstorbenen Tochter Olga: »Já nechci umřít, já chci žít! - Ich will nicht sterben, ich will leben!«

Janáčeks Methode zeugt von einem unbedingten Interesse am Menschen und daran, wie sich dessen hochkomplexe Psyche in Klang widerspiegelt. Sein egalitärer Blick auf die Menschen bestimmte auch seine ungewöhnlichen Opernsujets: Seine bekanntesten Opern Jenufa, Katja Kabanova und Das schlaue Füchslein handeln nicht von tragischen Held:innen, sondern von Geschöpfen, die im Schatten stehen, vom geraden Weg abkommen sind, die nicht nur keine Rechte haben, sondern auch Unrecht begangen haben. Ob nun fehltretende Frauenfiguren oder die weitgehend ausgelieferte Tierwelt – Janáček forderte mit seiner Musik Mitgefühl, wo es in einer männlich dominierten Gesellschaft rar gesät war. Ausschließlich Männer sind wiederum das Sujet seiner letzten Oper Aus einem Totenhaus - doch nicht operntaugliche Heldenfiguren, sondern Verbrecher und Versager, die in der Gleichgültigkeit des Lagerlebens untergehen.

Ob nun fehltretende Frauenfiguren oder die weitgehend ausgelieferte Tierwelt – Janáček forderte mit seiner Musik Mitgefühl, wo es in einer männlich dominierten Gesellschaft rar gesät war. Barbara Eckle

Nur manchmal geht ein kleines Fenster auf: Wenn ein Gefangener von seinem Schicksal erzählt, bahnt sich das typisch janáčeksche Individuum den Weg ans Licht. Nicht nur seine Stimme, sondern auch die Stimmen jener, die in seiner Geschichte vorkommen, werden lebendig - kleine Binnendramen, in denen sich diese Sträflinge in die verhängnisvolle Situation ihrer Straftat zurückversetzen, dabei immer wieder die Rollen wechseln, um auch ihren Opfern oder Peinigern Stimme zu verleihen. Besonders eindringliche Formen nimmt das im Fall des Sträflings Šiškov an: Er erinnert den Mord, den er an seiner geliebten Braut Akulina begangen hatte, weil er seinem infamen Rivalen glaubte, sie sei bei der Heirat keine Jungfrau mehr gewesen. Wenn die unschuldig gestorbene Akulina nun durch Šiškovs Stimme hindurch spricht, werden nicht nur Šiškovs tragische Liebe, sein Schmerz und seine Reue lebendig, Akulina selbst scheint wie eine engelhafte, metaphysische Präsenz das düstere Gefängnis einen Moment lang zu erhellen.

Letzte Stimmen – Huelgas Ensemble

Derselbe nächtliche Raum, der Janáčeks Totenhaus-Sträflinge gefangen hält, wird zum Abschluss der Ruhrtriennale 2023 noch einmal von der menschlichen Stimme erhellt. Diesmal ist sie wieder alleine, ohne jedes Hilfsmittel. Das Vokalensemble Huelgas bewegt sich durch die Welt der frühen Vokalpolyphonie, die sich einst auch aus menschlicher Sprache heraus entwickelt hat, als im Frühmittelalter die Liturgie, das Gebet, das Gespräch des Menschen mit Gott zu Musik wurde. Und die Wirkmacht der menschlichen Stimme ist gewachsen: Sie hat gelernt, ein schwindelerregendes 24-stimmiges Gefüge wie Josquin Desprez’ Qui habitat durch die Kraft und Klarheit jeder einzelnen Stimme schweben zu lassen. Und sie hat gelernt, mit Antoine Brumels Erdbebenmesse Et ecce terrae motus die Erde zum Beben zu bringen: Steine zu bewegen, Welten zu bewegen, Menschen zu bewegen.

BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater und Konzert der Ruhrtriennale 2021–23. Als Autorin und Moderatorin im Bereich Neuer Musik ist sie seit vielen Jahren für den Deutschlandfunk und die verschiedenen Programme des ARD-Hörfunks tätig. 2018–2020 war sie Dramaturgin für Oper und Konzert an der Staatsoper Suttgart.