© Julian Rosefeldt

Ursula K. Le Guins kleines Büchlein The Carrier Bag Theory of Fiction schlägt nicht weniger als eine komplett neue Lesart der Geschichtsschreibung vor. Das allererste Werkzeug, das die Menschheit ersann, war vermutlich kein Messer, mit dem getötet oder gehäutet werden konnte, sondern ein Gefäß – vielleicht aus Blättern oder mit den Händen geformtem und in der Sonne getrocknetem Lehm, mit dem Wasser transportiert oder Beeren gesammelt werden konnten. Unsere Urahnen machten vielleicht alle paar Monate mal Jagd auf einen Mammut, aber sie sammelten, transportieren und bewahrten tagein, tagaus etwas in den verschiedensten Gefäßen und Beuteln. Trotzdem ist die gesamte Kulturgeschichte dominiert von Geschichten von der Jagd, des Kampfes, des Krieges – weil es das spannendere, unterhaltsamere Motiv ist. Der Korb, in dem Heilkräuter oder Beeren gesammelt und transportiert werden; die Schale, die zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten dient; der aus Stoff geschnürte Beutel, in dem ein Säugling transportiert wird – all diese Gefäße taugen nicht für das männlich-aktionsdominierte Narrativ der Geschichtsschreibung. Le Guin stellt die provokante Frage: wie könnte eine Alternative dieses Narratives aussehen? Vielleicht wäre das ein Narrativ, das nicht basiert auf dem Knochen, der zur Waffe wurde, sondern auf dem einenden, immerwährenden und kontemplativ eingesetzten Werkzeug eines tragenden Gefäßes?

Julian Rosefeldt, Antwerpen, 13. Mai 2022