21/04/02
Meine persönliche Zeitrechnung von Jetzt & Jetzt beginnt mit einem Anruf von der Ruhrtriennale. Es gehe um eine neue Arbeit von Mats Staub, für die sie eine Produktionsleitung suchen. Den Namen hatte ich schon mal gehört, von seinen Arbeiten auch. Arbeiten, die über viele Jahre entstehen, die aus Gesprächen und Portraits mit Menschen allerorts bestehen und die sich in keine Sparte einordnen lassen. Auch in seiner neuen Arbeit möchte er ins Gespräch mit Menschen kommen. Er möchte hundert Menschen im Abstand von zwei Jahren treffen, mit ihnen über ihre Veränderungen und ihren Wachstum reden und eine Begegnung von zwei Jetzt-Zuständen schaffen. Meine Aufgabe würde es sein, hundert Menschen zu finden, einen für jeden Jahrgang zwischen 8 und 80 Jahren, hundert Termine zu vereinbaren, hundert Begegnungen im Sommer 2021 stattfinden zu lassen.
21/05/15
Die ersten Testaufnahmen finden in der Turbinenhalle statt und ich fahre zum ersten Mal nach Bochum. Da ich niemanden kenne, schlafe ich über Airbnb bei einer Person. Sie wird später die erste Teilnehmerin des Projektes werden.
Bei den Aufnahmen lerne ich Mats Staub persönlich kennen. Nach ein paar Telefonaten und Zooms treffen wir uns in der Turbinenhalle. Er ist herzlich und warm, nach kurzer Zeit habe ich das Gefühl nicht mehr so nervös sein zu müssen. Die Turbinenhalle ist wiederum kalt und rau. Seit einer Weile scheint sich die Natur die Halle zurückerobert haben wollen. Ein paar Tauben haben sich in das Gewölbe der Halle eingenistet. Von Zeit zu Zeit hören wir sie flattern und weichen immer mal wieder herunterfallendem Kot aus.
21/06/06
Wir haben einen Open Call erstellt, der interessierte Menschen zwischen 8-80 Jahren einlädt, sich für die Teilnahme am Projekt anzumelden und auf eine intensive Selbstreflektion einzulassen. Von Woche zu Woche verschicke ich unseren Teilnahmeaufruf durch verschiedene Verteiler, telefoniere, vereinbare Termine und recherchiere, wo ich noch mehr Menschen erreichen kann. Zur Anmeldung schicken sie per Mail ein zwei Jahre altes Foto von sich und eine kurze Beschreibung darüber, wie sie sich seitdem verändert haben.
21/07/12
Es ist nur noch einen Monat hin bis zum Beginn unserer Aufnahmen. Von hundert Menschen haben sich erst etwa die Hälfte gemeldet. Plötzlich ist unser Vorhaben so nah gerückt, nur fehlen all die Leute, die das Ruhrgebiet zu dem machen, was es ist.
21/08/01
Ich fahre im vollen Zug ohne Klimaanlage und einem großen Reiserucksack nach Bochum. Dieses Mal bleibe ich zwei Monate. Den Sommer über werden alle meine Erwartungen nach und nach mit Erinnerungen gefüllt werden.
21/08/09
Während der vordere Teil der Turbinenhalle für 21-Erinnerungen ans Erwachsenwerden technisch eingerichtet wird, beziehen wir den Teil hinter der Turbinenhalle. Unser Technikteam baut kleine schwarze Kabäuschen auf, in denen die Videos gedreht, Gespräche geführt und Briefe geschrieben werden. Die Schaltzentrale wird zum Gewächshaus umfunktioniert, darin hundert Pflanzen, die von unserer Pressereferentin Stefanie Matjeka in monatelanger Arbeit in ihrem Garten herangezüchtet wurden. In der Mitte der hinteren Turbinenhalle steht ein großer Holztisch, an dem das Team Platz findet. Weiter rechts unsere Küchenzeile bestehend aus einem Kühlschrank und einer Kaffeemaschine.
21/08/15
Mats künstlerisches Team reist für die Eröffnung von 21-Erinnerungen ans Erwachsenwerden an. Der vordere Teil der Turbinenhalle ist nun mit Bildschirmen gefüllt ist, die vom 21. Lebensjahr unterschiedlichster Menschen erzählen. Die Aufnahmen für Jetzt & Jetzt werden zwei Tage später beginnen und Aufregung und Vorfreude liegen in der Luft. Mats zeigt seinem Team den Aufnahmebereich, als wäre es seine erste eigene Wohnung, die er gerade frisch bezogen hat.
21/08/17
Unsere Aufnahmen für Jetzt & Jetzt beginnen. Uns steht ein ganzer Monat voller Begegnungen bevor. Nach der kurzzeitigen Anmeldeflaute haben sich viele Teilnehmer:innen gemeldet, die den Aufruf auf den verschiedenen Kanälen gefunden haben, die von anderen Menschen davon gehört haben und die die Installation von 21 inspiriert hat. Unser gesamter Sommer ist durchgetaktet. Wir haben die Abläufe geprobt, aber Proben sind in diesem Fall anders als am Theater. Vieles bringen die Teilnehmer:innen erst mit.
Die erste Teilnehmerin kommt nicht. Ich erreiche sie telefonisch nicht. Ich bin verantwortlich für hundert Menschen und dass alles nach Plan läuft. Was ist, wenn niemand kommt?
Alle anderen Teilnehmer:innen werden kommen.
Alle tragen eine Maske.
Alle füllen einen Fragebogen über ihre Wünsche und Fragen aus.
Alle führen ein Gespräch mit Mats.
Alle wählen ein aktuelles Lieblingslied und werden beim Blick in den Spiegel gefilmt.
Alle stellen sich dabei vor, dass sie auf ihr zukünftiges Ich treffen.
Alle schreiben einen Brief an ihr zukünftiges Ich.
Alle nehmen eine Pflanze und einen Termin für den März 2023 mit.
Alle machen das Gleiche, aber alle machen es auf ihre Weise.
21/08/26
Auch ich bin eine Teilnehmerin. Eine Woche lang habe ich die anderen Teilnehmer:innen empfangen, ihnen den Ablauf erklärt, ihre Aufnahmen live miterlebt und dabei ihre Nervosität gespürt. Nun bin ich an ihrer Stelle. Ich finde keine Antworten für den Fragebogen und weiß nicht, was ich in den Brief schreiben soll. Die Videokabine kommt mir plötzlich sehr eng vor und mein eigener Blick im Spiegel überfordert mich. Es ist einfacher, den Kopf bei hundert anderen Menschen zu haben, als mich für eine Stunde mit mir selbst zu beschäftigen.
21/09/02
Während das Festivalpublikum tagsüber 21-Erinnerungen ans Erwachsenwerden im vorderen Teil der Turbinenhalle besucht, nehmen wir hinter der Turbine auf. Wir, das sind Mats Staub, Frederieke Tambaur (unsere Dramaturgin), Benno Seidel (unser Videodesigner) und ich. Die Turbinenhalle ist unsere Oase. Gemeinsam sitzen wir um den großen Holztisch und arbeiten, liegen in kurzen, sonnigen Pausen in Liegestühlen vor der Turbinenhalle in Liegestühlen und unterhalten uns über das, was uns beschäftigt. Wir essen selten Salat und fast täglich Schokobrötchen von Schmidtmeier. Nach den Aufnahmen fahren wir zusammen zu den Vorstellungen und trinken ein Glas Weißburgunder in der Pappelwaldkantine. Es ist Sommer und vom Festivalgefühl beflügelt rauschen die Tage wie im Flug vorbei. Nach 6 Wochen haben wir 108 Menschen aufgenommen und fast alle Produktionen der Ruhrtriennale angeschaut.
21/09/26
Es ist unser letzter Aufnahmetag. Das Festival ist vorbei und der Sommer auch. Wir packen unsere Dinge zusammen. Die Briefe verwahren wir an einem sicheren Ort, wo sie alle zusammen eineinhalb Jahre ruhen werden. Ich verlasse Bochum.
22/08/11
Die Ruhrtriennale 2022 beginnt und mit ihr ein warmer Sommer. Ich sitze schwitzend in der Turbinenhalle, wo das Festival unter anderem eröffnet wird. Ich spüre die Geister von unseren Aufnahmen und Gesprächen immer noch in der Halle. In den kommenden Tagen werde ich beginnen, alle Teilnehmer:innen ein Jahr nach ihrer Aufnahme zu kontaktieren und an ihre Teilnahme erinnern. Manche schicken mir neue Lieblingslieder und schreiben mir, wie sehr ihre Pflanze inzwischen gewachsen ist. Ab und zu laufe ich einzelnen Teilnehmer:innen über den Weg.
22/09/09
Mats Staub und ich machen zusammen Dramaturgieklausur. Was vorher als grobe Ideen im Raum stand, wird nun konkret. Mit dabei bei den Treffen ist Hanno Sons, unser technischer Leiter. Dieses Mal bin ich die Dramaturgin der Produktion und Bochum inzwischen mein Zuhause.
23/01/09
Wir treffen uns zur Dimensionsprobe in der Turbinenhalle, probieren Raumentwürfe unserer Szenografin Louisa Robin aus, diskutieren oder Monitore, Polsterfarben und Anordnungen im Raum.
Der März und damit die zweite Aufnahmephase rückt näher. Wie werden sich die Menschen verändert haben? Was werden sie erzählen?
23/03/03
Jetzt kommt mein Text zum Ende, denn es ist Redaktionsschluss und unsere Aufnahmen beginnen.
Jetzt werden hundert Menschen für eine zweite Begegnung zu uns kommen.
Jetzt werden sie ihren Fragebogen und ihren Brief wiederbekommen und lesen.
Jetzt werden sie ein zweites Mal in den Spiegel schauen.
Jetzt werden sie von ihrer Veränderung und ihrem Wachstum erzählen.
Jetzt werden wir wieder um den großen Holztisch sitzen und jeden Mittag gemeinsam essen.
Jetzt geht es endlich weiter!
Dann werde auch ich als Teilnehmerin wiederkommen. Ich werde meinen Brief lesen, mich im Spiegel anschauen, runter auf die Fußspitzen und beim Aufblicken direkt in meine erste Momentaufnahme hinein. Jetzt ist die Zeit zur Reflektion gekommen!