Britta Peters: Deine Ausstellung My Body Is Not An Island beschäftigt sich auf vielen Ebenen mit der Idee des Storytellings: Auf realen oder fiktiven Erfahrungen basierende Geschichten aus menschlicher oder nicht-menschlicher Perspektive sind in einer Audiokomposition zu hören oder ausschnittweise auf Plakaten zu lesen. Und das Publikum ist eingeladen, eigene Geschichten in Form von Texten, Zeichnungen oder Collagen zu hinterlassen. Dafür stehen Tische bereit, die Atmosphäre ist freundlich und einladend. Außerdem erzählen zweimal die Woche Performer*innen den Menschen innerhalb und außerhalb der Ausstellung Geschichten. Wieso ist dir das Erzählen von Geschichten so wichtig?
Eva Koťátková: Storytelling ist eine Art gemeinsame Basis, auf der sich Menschen begegnen. Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Vorstellungen, wie sie in der Gesellschaft funktionieren, wie sie in dieser Welt leben sollen. Es ist eine Möglichkeit, in Verbindung zu treten – oder auch nicht. Selbst wenn es zu kritischen Auseinandersetzungen kommt, bietet Storytelling einen Ort des Zusammenkommens, des Teilens, des Versuchs, einander zu verstehen und sich aufeinander zuzubewegen. Ich sammle Geschichten, seit ich denken kann. Als Kind habe ich aufmerksam den Geschichten zugehört, die meine Eltern oder andere Familienmitglieder erzählt haben. Ich habe Geschichten gesammelt, die ich in der Schule aufgeschnappt oder in Büchern gelesen hatte – oder Geschichten aus den Medien – über Menschen, die nicht in die sozialen Strukturen passten und als »anders« bezeichnet wurden. Jetzt habe ich in meinem Kopf eine riesige Sammlung gespeichert und auch auf meinem Google Drive. Wann immer ich an einem neuen Projekt arbeite, habe ich diese Geschichten im Gepäck und gebe sie zurück in den Kreislauf. Mich interessiert die Frage, wie andere Geschichten in die offiziellen Narrative einfließen. Wo sind möglicherweise Löcher, geheime Zugänge oder Hebelpunkte, um andere Geschichten einzubringen, Stimmen, die nicht gehört oder zum Schweigen gebracht werden, die unter der Oberfläche bleiben? Es scheint, als würde ein einziger großer Körper sprechen und mit vielen Knöpfen verstärkt werden, aber dieser Körper setzt sich aus vielen anderen Körpern zusammen, die ebenfalls sprechen wollen.
Normativität kontrolliert ganz sicher unsere Körper und unser Denken. Aber gleichzeitig organisieren Normen auch unser Zusammenleben und regulieren beispielsweise den Einsatz von körperlicher Gewalt, verglichen mit früheren Zeiten, als nur das Recht des Stärkeren zählte. Die Menschheit und einzelne Gesellschaften geben sich Gesetze und Regeln, die gleiche Rechte garantieren, für alle gelten und am Ende zu normativen Vorgaben werden. Wie würdest du die Dynamik beschreiben zwischen der notwendigen Übereinkunft auf normative Ideen und einer Situation, die ins Repressive abrutscht?
Wir brauchen Normen als eine Art Stützgerüst, um funktionieren zu können und mit anderen im öffentlichen und privaten Raum umzugehen, aber die Frage bleibt immer: Sind die aktuellen Normen eher hilfreich oder repressiv? Wer kommt rein in die Blase und gehört zur Mitte der Gesellschaft mit all ihren Verpflichtungen, aber auch Vorteilen, und wer ist gezwungen, draußen zu bleiben und auf viele Möglichkeiten, Vorteile und Angebote zu verzichten, wer wird abgestempelt und diskriminiert? Wir sollten Normen anstreben, die sensibel alle einschließen, um viele unterschiedliche Denk- und Lebensweisen zuzulassen.
Normen können sich dramatisch verändern, denken wir beispielsweise an die Geschichte der Frauenrechte. Auch wenn immer noch Ungleichheit besteht, ist das eine Erfolgsgeschichte. Im Vergleich zu früher hat es große Fortschritte gegeben. Die Aufmerksamkeit also auf andere Geschichten zu lenken, wie du es in deiner Arbeit machst und wie es in bestimmten Diskursen passiert, kann wirklich Einfluss auf die gegenwärtige Situation nehmen. Mit dem Paradox, dass der Wunsch nach Fürsorge und Achtsamkeit selbst eine neue normative Ordnung bildet.
Absolut, trotzdem würde ich nicht sagen, dass sich Normen dramatisch verändern – sondern eher Schritt für Schritt, durch kleinere und größere Gesten, Darstellungen, Visionen, Aktionen und viele unsichtbare Ereignisse, zu bedeutenderen Änderungen führen. Es ist genauso wichtig, anderen Geschichten zuzuhören, wie die eigene zu erzählen, sie einzuordnen und ähnliche Muster oder Anknüpfungspunkte in anderen Geschichten zu erkennen. Zu verstehen, dass wir nicht allein kämpfen.
Die Ausstellung, die aus einem riesigen Körper, halb Fisch, halb Mensch, und zwanzig kleineren Installationsstationen besteht, wurde vorher in anderen Versionen in Bordeaux und Prag gezeigt. Ist die Arbeit daran immer noch eine Herausforderung? Wie wirkt sich der neue Raum auf die Installation aus?
Das ist eine große Herausforderung, mit jedem Ort, an den der seltsame Fisch-Mensch-Körper reist, wird sie größer. Und ich habe das Gefühl, mit der Zeit wird der Körper freier, frei in dem Sinne, dass er sich auflöst und mehr und mehr zu einer demokratischen Struktur wird. Am Anfang war der Körper zersetzt, aber die Positionen seiner Elemente waren festgelegt, und jetzt gehen wir in einen öffentlichen Raum hinein und arbeiten im Hafen mit einer imaginären Schwanzflosse. Für mich wird das Abenteuer größer, weil es den öffentlichen Außenraum ins Spiel bringt, und mehr Möglichkeiten bietet für Fantasie, Hoffnung und mögliche Zukunftsszenarien für Veränderung.
Grundlage für die Gestaltung des Projekts ist die Metapher vom Fisch auf dem Trockenen. Er muss sich an das Leben auf dem Land anpassen, muss neu atmen lernen, menschenähnlicher werden – sonst stirbt er. Was er, wenn wir ehrlich sind, ohnehin tun wird.
Die Vorstellung, im Körper eines Fisches auf dem Trockenen zu stecken, ist eine poetische Darstellung einer Situation, in der wir in einer schwierigen Lage gefangen sind. Für den Fisch ist es die letzte Situation, die er erleben wird. Wenn wir in großer Gefahr sind, scheinen uns die Umstände in eine ganz bestimmte Verhaltensweise hineinzuzwingen. Wir akzeptieren vielleicht Dinge, die wir nie für akzeptabel gehalten hätten, ethisch oder praktisch. Aber vielleicht können wir uns auch entscheiden, anders zu handeln, unsere Lage aufs Spiel zu setzen (oder im schlimmsten Fall unser Leben) und entgegen den Erwartungen zu handeln, die an uns gestellt werden. Ich denke, jeder und jedem von uns stellt sich täglich so eine Situation in kleinerem oder größerem Ausmaß. Wir stehen jeden Tag vor Entscheidungen. Wir können nicht jeden Tag rebellieren, das wäre nicht lebbar, und viele Menschen müssen erfahren, dass ihre Realität gegen ihren Willen durchgeschüttelt und destabilisiert wird. Aber wenn wir das Privileg haben, mehr oder weniger komfortabel zu leben, sollten wir Situationen, die uns unsere bisherige Lebensweise und ihre Auswirkungen auf andere auf dieser Welt überdenken lassen, nicht ausweichen.
Jede*r hat die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, selbst in sehr schlechten und scheinbar aussichtslosen Situationen. Darin liegt eine gewisse Stärke, da hast du recht.
Die Metapher vom Fisch auf dem Trockenen handelt von der Fantasie. Für mich ist die Frage sehr wichtig, wie meine Fantasie frei bleibt, wie ich verhindere, dass andere meine Vorstellungskraft beschränken. Wie kann man es vermeiden, sich in der eigenen Lebensweise und der eigenen Denkweise zu wohl zu fühlen? Wie schaffe ich es, weiterhin Risiken einzugehen und mich auf unsicheren, schwankenden Boden zu begeben, wo so vieles den Sockel dessen, was ich bisher gedacht habe, zum Einstürzen bringen kann? Das ist die Lage, in der sich der Fisch befindet: das Nachdenken über Möglichkeiten jenseits des Vorstellbaren.
Menschen werden von Erfahrungen geformt, dazu gehören der Einfluss und die Wirkmacht von Normen, aber auch andere Dinge wie emotionale Verletzungen, oder einfach, nicht zu wissen, wie man materiell überleben soll. Diese Erfahrungen können natürlich zu einer engeren und ängstlicheren Denkweise führen.
Auf jeden Fall, und man sollte sich der eigenen Privilegien bewusst sein, ebenso wie der Bereiche, in denen man Diskriminierung erfährt. Ich habe durch viele Projekte und eigene Lebensumstände gelernt, wie wichtig es ist, Unsicherheit auszuhalten in Situationen, in denen wir nicht wissen, was passieren wird, bis man begreift, es sind nicht nur Momente der Unsicherheit, sondern es ist der permanente Zustand einer Welt voller Gewalt, tiefer Ungerechtigkeiten, Diskriminierung. Vor diesem Hintergrund kann es wichtig sein, in Unsicherheit leben zu lernen und trotzdem die schönen Momente zu genießen, sich nicht in Angst versetzen zu lassen. Nicht panisch zu werden.
Eine letzte Frage: Neben anderen wiederkehrenden Elementen in deinen Arbeiten gibt es auch das Mittel der Collage, die alles wie ein roter Faden zu verbinden scheint. Du hast mit wunderschönen Collagen auf Papier angefangen, sie aber bald schon mit Metallarbeiten kombiniert. In der Ausstellung in Duisburg haben wir Collagen aus unterschiedlichen Materialien, Holz, Textilien, Metall, außerdem visuelle und auditive Textcollagen. Perfomer*innen erzählen die Geschichten live und in Interaktion mit den Skulpturenelementen, aber auch draußen auf dem Weg zum Hafen. Hast du dich je gefragt, was dich an der Arbeit mit Collagen so begeistert? War das eine bewusste Entscheidung?
Das ist eine bewusste Entscheidung, aber der Prozess selbst läuft dann ziemlich unbewusst ab. Ich hatte immer ein Interesse daran, das bestehende Bild auseinanderzunehmen. Das fing an mit der Kritik an pädagogischen Methoden, die in meiner Arbeit immer noch sehr präsent sind. Für meine ersten Collagen habe ich ein bebildertes Lehrbuch aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren genommen und eins aus den Neunzigern, in dem die gleichen Bilder abgedruckt waren. Besonders ein Bild habe ich fünf- oder sechsmal verwendet: Ein Lehrer spricht von einer erhöhten Position herab mit einem Kind, das natürlich viel kleiner ist, aber auch auf einer tieferen Ebene steht. Ich habe die Körper unterschiedlich ausgeschnitten, manchmal habe ich das Kind auf die gleiche Stufe wie den Lehrer erhöht, manchmal habe ich dem Kind einen Trichter auf den Kopf gesetzt, um das Machtspiel und den Akt des Lehrens zu zeigen, bei dem es viel mehr um das Vortragen von Informationen geht als um eine ganzheitliche Erfahrung.
Schon seit dem Anfang meines Studiums an der Akademie in Prag haben mich immer Bilder provoziert, die starr oder erstarrt auf mich wirkten, unveränderlich. Dann habe ich zur Schere gegriffen, um das Bild zu befreien, später auch durch Installationen.
Die Collage bietet Lücken, durch die andere Bilder sichtbar werden. Sie öffnet und verändert die normative Kraft des perfekten Bildes.
Ich weiß noch, dass ich am Anfang auch Bilder ausgewählt habe, die nicht vollständig waren, zum Beispiel, wenn in einer Zeitung nur ein Teil eines Arms abgebildet war, und dann habe ich den Körper irgendwie wiederhergestellt. Es ging darum, den Torso in dieser Welt funktionieren zu lassen, aber nicht als ganzen Körper im üblichen Sinne, sondern als selbstständiges, befreites Fragment mit eigener Identität.