Dieses rote Buch fiel mir kurz nach seiner Erscheinung im Frühjahr 2020 in die Hände. Wie kaum ein anderes hat es seitdem meine Erfahrungen mit dem pandemisch bedingten weltweiten Furor und Stillstand begleitet. Und mich seit dem Aufschlagen der ersten Seite beflügelt – in der Hoffnung, dass es Menschen gelingt, sich in Ausnahmezuständen das Maximale abzuverlangen, für die anderen, für die Idee einer besseren Welt. Und damit dem menschlichen Leben Sinn zu geben.
Ich probte damals gerade Luigi Nonos AL GRAN SOLE CARICO D’AMORE – UNTER DER GROSSEN SONNE VON LIEBE BELADEN, hatte mich den vergessenen Revolutionärinnen Louise Michel, Tania Bunke, Celia Sánchez und Haydée Santamaria maximal verschrieben und trieb die hochmotivierten Solist:innen und den riesigen Chor Seite an Seite in den theatralen Wahnsinn – während die gesamte Welt sukzessive von einem Virus lahmgelegt wurde.
Unsere Produktion wurde am Tag ihrer Premiere abgesagt, und ich verdaute diesen bis dato unbekannten Schockzustand bei meiner Mutter im frühlingshaften Worpswede – und las ANNETTE.
Während dieser ersten Lockdown-Tage verschlang ich den Gesang über Anne Beaumanoir (»das Kind, das Anne heißt und alle / Annette nennen (sprich Annett)«), die sich als blutjunge Medizinstudentin der kommunistischen Résistance anschloss, sich in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung engagierte, zu zehn Jahren Gefängnishaft verurteilt wurde, nach einer abenteuerlichen Flucht am Aufbau des algerischen Gesundheitssystems als Neurologin beteiligt war – und heute 96 alt ist (»Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will, ist sie zugleich noch ungeboren«).
Ich las ANNETTE von vorne bis hinten in einem Atemzug, ich las laut draußen im Garten, weil ich diese Sprache derartig genoss – und dann fing ich wieder von vorne an, noch einmal diese rasanten 207 Seiten, in denen ich immer wieder in kleinen Windungen und Kurven Neues entdeckte, Sprachgewaltiges und Stillklingendes.
Die schnelle, fließende, singende Sprache der Autorin riss mich mit ihrer Kraft und ihrem Schwung, ihrer Genauigkeit und Sensibilität hinein in die unendlich vielen und haarsträubenden Episoden dieses wilden Lebens, ließ mich eintauchen in Annes sprunghaften, von Entscheidungswillen, Intuition und maximalem Idealismus getriebenen Geist und Körper, dem ich folgte auf allen Reisen, in alle Verstecke, in alle Gefahren.
Wenn ich könnte, würde ich diese Anne besuchen und umarmen wollen!
»Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.«
Mitte März dieses Jahres, exakt zwei Jahre nach der abgesagten Premiere ging AL GRAN SOLE (auch ein »Heldinnen-Epos«, ein raunender Klagegesang, ein schmerzvolles Requiem für die vielen Opfer von Krieg und Gewalt) nun endlich über die Bühne. Die mit Liebe zu den Menschen beladenen Frauen im irisierenden Klanggewand waren wieder da, kamen wieder ans Licht, enterten die Bühne, kaperten mich. Parallel dazu fand der russische Einmarsch in die Ukraine statt, beginnt der Krieg in Europa, und ich lese ANNETTE erneut – und höre ihre Idee und ihre Menschenliebe im Gesang der vergessenen Revolutionärinnen – und immer wieder in manch einer anderen Frau, der ich im Leben begegne...
Elisabeth Stöppler, im Zug kurz vor Bochum, spätabends am 27. April 2022