Ihr neues Werk übernimmt den Titel des berühmten Bildes von Hieronymus Bosch vom Beginn des 15. Jahrhunderts. Nun haben Titel in Ihrem Schaffensprozess eine besondere Bedeutung. Was bringt Sie zu dem niederländischen Maler aus dem 15. Jahrhundert?
Stimmt, es ist das erste Mal, das ich den Titel eines bereits existierenden Werkes übernehme. Allerdings geht Le Jardin des délices (Der Garten der Lüste) als Titel gar nicht auf Bosch selbst zurück. Er wurde nur verwendet und hat sich so durchgesetzt. Kunstgeschichte ist in meinen Stücken immer wieder präsent. Häufige Inspirationen sind zum Beispiel Maler wie Brueghel, Dürer oder Caspar David Friedrich, aber auch zeitgenössischer Film und Bildende Kunst. Angeblich wurde Bosch außerdem von Wandertheatern seiner Zeit inspiriert. Die Verflechtung zwischen den Künsten ist nicht neu. Aber abgesehen vom Titel: es hat etwas Schwindelerregendes, sich mit diesem faszinierenden Triptychon zu befassen.
Es ist Frühling, die Proben starten demnächst, unsere Erkundung beginnt. Das Vorgehen ist nicht viel anders, als wenn wir Hamlet proben würden oder ein leeres Blatt Papier als Ausgangspunkt hätten: Vieles ist möglich. Die Interpretationen des Bildes haben sich seit 500 Jahren immerfort geändert, bis zum Surrealismus, Philip K. Dick oder zur Flower-Power-Bewegung der 1970er Jahre. Noch heute besteht keine Einigkeit über den Entstehungskontext und die Bedeutungen des Werkes.
Für die Vorarbeiten haben wir verschiedene Spezialist:innen und Liebhaber:innen des Werkes getroffen, etwa die Verantwortlichen im Prado in Madrid, wo das Bild aufbewahrt wird, Historiker:innen mit Fokus auf das Mittelalter wie Pierre-Olivier Dittmar oder große Bosch-Kenner:innen wie José Luis Alcaine, Kameramann von Pedro Almodovar, oder die französische Lyrikerin Laura Vazquez. Wir nutzen das Gemälde lediglich als einen Ausgangspunkt, als ein inspirierendes Rätsel, versuchen aber nicht, es zu imitieren oder zu kommentieren.
Auf welche Weise steht ihre Theaterarbeit im Dialog mit dem Werk?
Dieses Werk ist sehr inspirierend, denn es ermöglicht uns, ein weites, unter anderem historisches, ästhetisches, intellektuelles, spirituelles und psychoanalytisches Feld zu bearbeiten. Hier gibt es Ähnlichkeiten zu dem Arbeitsprozess, den wir seit 20 Jahren mit Vivarium Studio entwickeln: Wir knüpfen Netze aus Verbindungspunkten und Annäherungen, die von einem Titel oder von gemeinsamen Erinnerungen ausgehen. Dabei greifen wir gleichermaßen auf Kunstgeschichte, Geisteswissenschaften, Popkultur, soziopolitische Fragen, die uns beschäftigen, das Absurde und Reflexivität zurück. Hieronymus Bosch bündelt seine Fragen in Verweisen auf das von ihm Erlebte und Projizierte und lädt dadurch die Betrachter:innen ein, sich dieselben Fragen über sich selbst zu stellen. Und heute gehe ich dieser Frage mit einem Team aus Schauspieler:innen und Künstler:innen nach. Wir streifen durch das Bild und konzentrieren uns dabei auf Spuren, die zu uns selbst und unsere Epoche führen, wie in einem Science-Fiction-Film.
Eine kleine Gemeinschaft, die sich organisiert, eine spezifische Logik, wie sich ein Gebiet auf alternative Weise bewohnen lässt, eine Katastrophe in der Ferne, die Natur, die in unerwarteter Form wieder sichtbar wird und das Verhältnis von Natur und Kultur durcheinanderbringt… Das sind in der Tat Aspekte, die ihre bisherigen Stücke und das Gemälde miteinander verbinden, trotz der Unterschiede zwischen den Epochen.
Das Gemälde eignet sich gut für völlige Neudeutungen. Jedes Detail eröffnet unerwartete Möglichkeiten, die es zu erforschen gilt. Wir werden teilhaben am Schicksal einer menschlichen Gemeinschaft, die sich auf die Suche nach einer möglichen, erträumten, poetischen Welt macht und diese zu konstruieren versucht auf ihrem eigenen Weg in einer bedrohten Welt. Wie sollen wir das Triptychon interpretieren? Ist die Mitteltafel ein Versprechen oder stellt sie längst Vergangenes dar? Stellt die Hölle eine albtraumhafte Zukunft oder, im Gegenteil, die Gegenwart, dar? Können wir überhaupt darauf hoffen, dies beantworten zu können? Das alles ist der Stoff für einen guten Western. Wir begeben uns ins Gemälde und plötzlich öffnen sich viele Türen. Wir werden einen eigenen Weg finden, es zu bewohnen und mit dem umzugehen, was wir in ihm vorfinden.
Da ist noch eine andere, etwas persönlichere Sache: Dieses Jahr feiert meine Kompanie Vivarium Studio 20jähriges Bestehen. Einige Darsteller:innen in dieser Arbeit waren bereits 2003 in La Démangeaison des ailes dabei. Wenn ich an all unsere Stücke im Laufe der Zeit zurückdenke, erkenne ich einen Fundus voller Muster und Typen, außerdem das Gehege mit menschengroßen Maulwürfen, Vogelscheuchen, Hunden, Vögeln, fliegenden Skeletten… und dann noch Höhlen, Fahrzeuge, Asteroiden, Pianolas, künstliche Inseln… alles Erinnerungen, die mir rückblickend so vielgestaltig wie logisch und sinnfällig erscheinen – ein Eindruck, den ich in ähnlicher Form auch habe, wenn ich vor Boschs Gemälde stehe: Sein Aussehen ist vielfältig und voller unerwarteter Details, die beinahe unabhängig voneinander sind. Dennoch ist es eine Komposition, die geordnet und fluide ist.
Hieronymus Bosch beschreibt eine Epoche des Wandels, zwischen Mittelalter und Renaissance. Wie auch Albrecht Dürer, dessen Melencolia Sie 2008 zu La Mélancolie des dragons inspiriert hat.
Ja, auch bei dem Kupferstich von Dürer ist diese Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft zu spüren: Der nachdenkliche Engel vor den Möglichkeiten des Glaubens und der Wissenschaften.
Wenn man Boschs Triptychon öffnet, ist auf der linken Seite der Garten Eden oder das Paradies zu sehen: ein nacktes Pärchen in adretter Natur mit schönen und friedlichen Tieren. Im Mittelteil lebt eine kleine Menschenmenge zusammen mit seltsamen Tieren (riesengroßen Vögeln), Pflanzen und Früchten (menschengroßen Erdbeeren) und Elementen, wie Wasser und Glas… Auch dort sind die Menschen noch nackt. Sie tanzen, rennen, lassen es sich gut gehen. Es ist schwer zu sagen, ob sie irgendwo angekommen sind oder aber, ob man sie dort eingepfercht und unter Beobachtung gestellt hat, wie es die graue Eintönigkeit des geschlossenen Triptychons vermuten lässt. Auf der rechten Tafel ist das Gemälde dunkel, die Wesen sind starr und werden von seltsamen Kreaturen festgehalten. Der Raum ist voller menschlicher Erfindungen: Häuser (in Flammen), Bücher (auf dem Kopf), Musikinstrumente, Schlittschuhe, Verträge, Partituren… Man muss sich fragen, ob es nicht die im Werden begriffene Gesellschaft ist, die hier als furchteinflößend dargestellt wird. Eine Art Angst vor dem technischen Fortschritt? Wie Melencolia ist Boschs Gemälde Teil einer Epoche voller Unsicherheiten, auf dem Kipppunkt zwischen Mittelalter und Renaissance, in der alle traditionellen, technischen, politischen und spirituellen Orientierungspunkte durcheinandergewirbelt wurden. Die Parallelen zu den Transitionsprozessen, die wir heute erfahren, sind frappierend: Eine ungewisse Zukunft, von der wir nur sicher wissen, dass sie zu einem radikalen Strukturwandel führen wird, der Kulturen, Wissenschaften, Künste und politische Organisationen neu aufstellen wird. Guillaume Logé zeigt das in seinem Buch La Renaissance sauvage. Um es anachronistisch zu formulieren: Bosch malt ein »offenes Kunstwerk«, das einem freien Geist entspringt.
Der dieses Jahr verstorbene deutsche Kunsthistoriker Hans Belting hielt es für sicher, dass Bosch eine Utopie malte, eine Vision der Menschheit ohne Sündenfall und Schuld, und er damit ein Vorbote von Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus war. Aus demselben Grund beruht Boschs Vision ihm zufolge auf Relationen und Annäherungen und nicht so sehr auf einer bestimmten visuellen Perspektive. Erkennen Sie sich in diesen ästhetischen und sozialen Fragestellungen wieder?
Es ist rückblickend interessant festzustellen, dass die meisten meiner Stücke mit einem Problem, einer Panne oder einem Unfall beginnen. Das zwingt die Anwesenden zu einer Planänderung – zumindest könnte man das annehmen – um vor Ort mit dem zurechtzukommen, was sie vorfinden: Ja, eine Utopie umzusetzen, das Wort gefällt mir gut, und sei sie nur temporär. Meine Bühnenbilder sind Orte eines Endes und eines Anfangs, einer Art Initiation. In La Nuit des taupes schienen Maulwürfe einen unterirdischen Raum freizuräumen und zu beschützen, damit Artgenoss:innen dort ein Konzert veranstalten. Das in München entwickelte Caspar Western Friedrich zeigte ein Museum, das umstrukturiert und selbst zum Kunstwerk wird. In Farm Fatale gründeten nach dem Verschwinden der Vögel arbeitslos gewordene Vogelscheuchen einen Piratensender, um den Vogelgesang in Erinnerung zu behalten und mit anderen in Kontakt zu treten. Später beschützten sie mysteriöse Eier. In Crash Park werden Überlebende eines Luftunglücks zu modernen Robinsons und erfinden die Insel ihrer Träume, so künstlich sie auch sein mag. Die Ausgangssituation meiner Stücke wird tatsächlich wiederholt durch eine Fahrzeugpanne verursacht. Sie kann auch als Landung verstanden werden, an dem Ort, wo wir uns befinden: in einem theatralen Raum. Während meiner Zeit als Leiter des Théâtre des Amandiers in Nanterre hatte ich den Philosophen Bruno Latour eingeladen, mit uns zu arbeiten. Über unsere Epoche sagte er lächelnd, dass es nicht mehr viel Diesel gäbe und dass »der Kapitän Sie leider informieren muss, dass der geplante Ankunftsort nicht mehr existiert«.
Man muss sich entscheiden, an irgendeinem Ort anzulanden und dort ins Handeln zu kommen, wo wir stehen. Sie können dies als Beschreibung einer angesichts der Klimakatastrophe besorgten Gesellschaft lesen. Meine Figuren gestalten eine Fiktion mit, eine noch zu erfindende Welt, an der sie hängen, weil diese sie miteinander verbindet. Aber sie landen in einem szenischen Raum und entdecken, unter der Oberfläche der Fiktion technische Bühnenelemente, die in einem Theater üblich sind. Letztere ermutigen sie und helfen ihnen, in ihrem Projekt, das ja genau darin besteht, eine Art Schauspiel, einen »home-made« Vergnügungspark oder ein Konzert zu organisieren. So können sie frei von der Herstellung zur Fiktion, vom Theater zur Illusion wechseln und umgekehrt. Wichtig für sie ist, wie sich alles – sei es Werkzeug, Bild, Erinnerung – positiv auf die menschliche und nicht-menschliche Gruppe auswirkt.
Ihre Situation ist prekär, fiktional und theatral. Die Gruppe fordert uns auf, für die Dauer der Aufführung an die von ihr entworfene Utopie zu glauben, damit sie sich – wir uns? – zusammenschließen können. Sie zeigt gleichzeitig aber, wie diese hergestellt wird, wie sich diese Utopie zusammensetzt – in meinem Theater geschieht das durch das Spiel, durch Montage und neue Verknüpfungen. Die erahnte Utopie ist nämlich auch genau das.
Eine Industriehalle im Ruhrgebiet, der Steinbruch von Boulbon in Avignon, das Amphitheater am Fuße der Akropolis in Athen, das Ufer des Genfer Sees in Vidy-Lausanne, das Centro Dramático Nacional in Madrid, in der Nähe des Prado… Die Aufführungsorte ihrer Arbeiten zeichnen eine Landkarte der Kultur des europäischen Theaters. Auf welche Art ist das in ihrer Arbeit präsent?
Ich bin nicht sicher: Findet sich in der Kultur das Gedächtnis Europas, das uns für die ungewisse Zukunft wappnet? Oder erinnert uns die Kultur an die Notwendigkeit eines Ankommens? Ich weiß nicht, ob die Lüste dieses Gartens unsere Vergangenheit oder unsere Zukunft sind… Wir werden sehen.