Nina Hoss
Nina Hoss | © Pascal Bünning
Sowohl der Autor dieser Aufzeichnungen als auch die Aufzeichnungen selbst sind erdacht. Nichtsdestoweniger sind Menschen wie der Verfasser dieser Aufzeichnungen nicht nur denkbar, sondern unausbleiblich, wenn man jene Verhältnisse in Betracht zieht, unter denen unsere Gesellschaft sich gebildet hat. Ich wollte dem Publikum deutlicher als es sonst zu geschehen pflegt einen Repräsentanten der jüngst verflossenen Vergangenheit vor Augen stellen. Er gehört zu der, noch in unsere Tage ragenden Generation. In diesem Fragment, das Kellerloch betitelt, stellt er sich selbst vor, seine Anschauungen und bemüht sich gewissermaßen die Gründe zu klären, warum er aufgetaucht ist und warum er mit Notwendigkeit bei uns auftauchen musste. Fyodor Dostoyevsky

Judith Gerstenberg: Im Jahre 1864 veröffentlichte Fjodor Dostojewski in der Sankt Petersburger Monatszeitschrift Epocha seine Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Um sein Vorhaben der Leserschaft zu erläutern, stellte er obenstehende Notiz voran. Der Text leitet die Hauptschaffensphase des Autors ein und öffnet den philosophischen Horizont, der seine späteren großen Romane prägen wird. Liebe Nina Hoss, Du tauchst gerade in die Gedankenwelt dessen ein, der diese Aufzeichnungen verfasst haben soll. Wer begegnet uns hier im Jahre 2023?

Nina Hoss (lacht) Das versuchen wir gerade herauszufinden. Wir befinden uns am Ende unseres ersten Probenblocks und ich spüre die immense Herausforderung, die dieser Text bedeutet. Als Schauspielerin, die den Charakter entwickelt, habe ich zum jetzigen Zeitpunkt eine Ahnung, aber noch kein Wissen. Das gefällt mir. Der Text fordert eine sehr intensive Auseinandersetzung ein und rüttelt an Gewissheiten, in denen ich bisher ganz gut gelebt habe. Ich fühle mich durch viele der dort formulierten Gedanken ertappt, entdecke aber auch die Widersprüche in ihnen und verzweifle an der verweigerten Logik. Das macht das Einverleiben der Zeilen schwer und dennoch bin ich absolut fasziniert. Dieser Text pflanzt in mir Fragen, die mich mein tägliches Leben in Beziehung zu ihnen setzen lassen. Nahezu alle Situationen, in denen ich mich wiederfinde, erlebe ich unter dem Eindruck der Beschäftigung mit diesen Gedanken. Das gefällt mir übrigens generell sehr an der Theaterarbeit: die Möglichkeit, sich über einen längeren Zeitraum probend und suchend mit einem so starken literarischen Gegenüber beschäftigen zu können. Das ist im Filmgeschäft, in dem ich in den letzten Jahren vorwiegend unterwegs war, kaum denkbar. Du fragst, wem man hier begegnen wird…

… ja, ob die Generation, der dieser Charakter angehört auch noch in unsere Tage ragt, obgleich der Text mehr als 150 Jahre alt ist?

NH Absolut. Dieser Mensch, der hier spricht, wird notwendigerweise auftauchen, solange es uns Menschen noch gibt. Denn die Grundessenz des Textes thematisiert den Glauben, sich und alles, was einen umgibt, in den Griff bekommen zu können. Aber wie es aussieht – und das führt uns die Gegenwart gerade wieder eindrücklich vor Augen – gelingt dies dem Menschen nicht. Immer, wenn er denkt, dass er sich »manierlich« verhält und meint, alles durchdrungen zu haben, schießt doch wieder ein Begehren quer, etwas Irrationales, mitunter Zerstörerisches. Sei es auch nur das, alles kaputtschlagen zu wollen, um es wieder aufbauen zu können. Es bricht sich ein Wollen Bahn, das keiner Logik folgt. Offenbar geht es dem Menschen nicht um das Erreichen eines Ziels, sondern um das fortwährende Streben danach.

Der Text rüttelt an Gewissheiten, in denen ich bisher ganz gut gelebt habe. Nina Hoss

Der Mensch, heißt es, grenze sich vom Tier ab durch seinen freien Willen. Dieses freien Willens versichert er sich durch die Negation. Er kann sich gegen sein eigenes Interesse, gegen alle Vernunft, gegen die Naturgesetze stellen. Er macht davon Gebrauch, allein, weil er es kann. Dies tut auch die hier erzählende Person.

Barbara Frey: Das ist das dunkle Zentrum des Textes. Dostojewskis Protagonist formuliert einen vehementen Protest gegen das Projekt der Aufklärung, das bis heute unser westliches Selbstverständnis prägt. Es macht uns vor, dass der Mensch sich fortschreitend zu einem edleren und guten Wesen entwickelt, wenn er sich denn nur endlich selbst verstanden hat. Er versteht sich aber nicht und wird sich nie verstehen. Darin liegt eine tiefe Kränkung. Dieser rätselhaften Natur des Menschen spüren wir im diesjährigen Programm der Ruhrtriennale nach. Keine Psychoanalyse, keine kritische Theorie, keine Philosophie und keine Naturwissenschaft hat uns bisher letztgültigen Aufschluss darüber geben können. Das benennt die Ich-Figur in Dostojewskis Text, und wir erleben das als Provokation. Heiner Müller hat einmal einen Gedanken Dostojewkis fortsetzend formuliert: Das eigentliche Problem sei, dass es überall Lösungen gibt. Wir hätten nicht zu viele Probleme, sondern zu viele Lösungen. Lösungen suggerieren uns ein Wissen, das wir nicht haben oder nutzen, sonst würden wir nicht unsere eigene Lebensgrundlage zerstören.

Ist das Projekt der Aufklärung gescheitert?

NH Können wir das überhaupt denken? Dieser Charakter ringt zumindest um Wahrhaftigkeit und daher richtet sich sein vehementer Protest gegen unser Selbstverständnis, dass alles immer besser wird, dass man das Schlechte hinter sich lassen kann. Unsere Rechtsprechung, unser Bildungssystem, unser humanistisches Weltbild baut darauf auf.

BF Das Projekt der Aufklärung steckt als Motor in all unserem Streben, auch das Vertrauen in die Vernunft, die Verstandeskraft. Aber das ist ja gerade das Faszinierende an dem Text. Er fragt, warum denn die Welt so aussieht, wie sie aussieht. Was gelingt der Gesellschaft nicht? Woran scheitert sie? Wieso wird der Mensch nicht edel? Wieso führen wir noch immer Kriege? Wieso verhalten wir uns so grausam zueinander? Durch die Penetranz des Fragens entsteht auch eine Komik, die mir an diesem Text sehr gefällt und die mich sofort an Nina Hoss denken ließ. Es braucht einen Kopf wie sie, der in der Lage ist, alle Facetten dieses Gedankenstroms zum Leuchten zu bringen und den Witz darin aufzuspüren. Nina ist eine große Komikerin. Das mag all diejenigen überraschen, die sie nur aus den Kinofilmen kennen. Da spielt sie eher die dunklen, ernsten Rollen.

NH Man verfängt sich tatsächlich in diesem Text wie in einem Spinnennetz. Das führt zu mancher Situationskomik, denn aus der Verstricktheit, Teil dessen zu sein, was man da gerade anklagt, führt kein Ausweg.  Da veräußert jemand sein Denken im Moment, den Prozess, die Abschweifungen, behauptet aber alles und jedes Detail vorausgedacht zu haben. Zu erkennen ist eine große Lust dieser Figur am Formulieren, die Freude an sprachlicher Schönheit, der Suche nach dem immer noch treffenderen Ausdruck. Das trägt sie mitunter auch aus der Spur, führt zu Widersprüchen. Dieser Monolog, diese Selbstbefragung ist sehr vital. Darum empfinde ich den Text auch nicht als deprimierend, auch wenn er dem Menschen wenig Schmeichelhaftes attestiert.

BF Ich empfinde die Figur auch als listig, sie hat Freude an Täuschungsmanövern, am Spiel, die Sätze schlagen Haken, verwinkeln sich, entwickeln eine Freude am künstlerisch-literarischen Ausdruck und an der Behauptungskraft der Sprache. Dadurch dass sich die Figur gegen die Formel 2+2=4 auflehnt, beweist sie sich, dass sie existiert, sie konstituiert darüber ihr Ich. Daher lese ich die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch auch als Manifest des Lebenswillens.

NH Letztlich ist dies auch ein Text über die Genese von Kunst. Wieviel Zweifel müssen ausgeräumt werden, um in die Tat zu kommen? Am Ende sagt die Figur, die sich ihrer Untätigkeit bezichtigt, sie mache sich jetzt ans Schreiben. Darin sieht sie offenbar eine Chance. Sie bringt ihr Denken in Form. Und darin erkennt man auch ihre Angewiesenheit auf Begegnung, durch die sich allein die Form überprüfen lässt. Sie hat sich – so behauptet sie - bewusst von der Gesellschaft abgekehrt, vom tätigen Leben, zurückgezogen in ein Kellerloch, aber in dem Versuch, die eigene Klage zu begreifen, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein, liegt eben auch eine Form der Tätigkeit.

Ich sehe hier die kathartische Methode der Kunst, den Menschen das Unglück bewusst zu machen und ihnen ihre Scheinbefriedigungen zu nehmen. Das Kellerloch im Titel, das du eben erwähntest, bezeichnet sowohl den randständigen Rückzugsort vor der Gesellschaft als auch das Unbewusste, Verdrängte (auch wenn Freud erst später auftauchen sollte). Unser Kellerloch befindet sich auf der obersten Ebene der Mischanlage auf Zeche Zollverein. Warum dieser Ort?

Wir stehen in der Mischanlage in einem ausgeträumten Traum. Barbara Frey

BF Wir ziehen hier in ein Gebäude ein, das seine Bestimmung verloren hat. Die Räumlichkeiten gibt es nur noch deshalb, weil sie unter Denkmalschutz gestellt wurden. Wofür sie ursprünglich gebaut wurden, geschieht dort nicht mehr. Die Sinnentleerung ist körperlich erfahrbar. In dieses Vakuum stößt der Text, der die Leere mit Gedanken füllt. Gedanken, die den positivistischen Fortschrittsglauben an die Entwicklung der Technik, die Beherrschbarkeit der Natur, die Aufklärung des Menschen schon Mitte des 19. Jahrhunderts infrage gestellt hatten. Der Text hat recht behalten. Wir stehen in der Mischanlage in einem ausgeträumten Traum und werden gewahr, dass der Fortschritt vor allem Zerstörung bedeutet hat. Mir gefällt natürlich, dass diese Räumlichkeiten noch zu uns sprechen. Man meint die Stimmen derer zu hören, die dort gearbeitet und gelitten haben. Die Vision von damals ist ebenso präsent wie unser heutiges Bewusstsein, das diese Vision umbewertet. Diese Reibung ist wertvoll für die Kunst.

NH Kunst vermag die Dinge und den Menschen zu akzeptieren und zu zeigen wie sie sind. Sie bewertet nicht, sucht keine Antworten, sie weist nicht zurecht. Das ist herausfordernd. Sie zwingt einen, sich selber in die Fratze zu blicken, schonungslos, ohne Trost. Das fordert das eigene Denken heraus beim Lesen, Zuhören und Zuschauen. Sie verunsichert produktiv die bequemen Gewissheiten. Ich empfinde daher diesen Text auch als ungeheuer befreiend. Da spricht jemand Ungeheuerliches aus, Enttäuschendes, aber Wahres. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit ihm auch so intensiv und treibt mich gegenwärtig noch in den Wahnsinn.

Die Übersetzerin Swetlana Geier stellte in ihrer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Dostojewski fest, dass bei ihm kein Wort überflüssig sei, dass jeder Satz, jede Wiederholung, die Feinnervigkeit der Syntax einer brillanten Rhetorik geschuldet ist. Nina, wie begegnet dir seine Sprache?

NH Wollüstig! Da hört sich jemand selbst leidenschaftlich gerne zu, jemand der um seine Fähigkeit weiß, die Worte so schön zusammenzusetzen. Das ist natürlich auch sehr theatral.

BF Die Wollust zeigt sich in dem Spaß, immer noch ein weiteres Argument zu finden gegen das vermeintlich helle Gebäude der Aufklärung. Dieses hatte sich ja zur Entstehungszeit der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch tatsächlich in Gestalt des Kristallpalastes bei der Weltausstellung in London materialisiert. Gegen diese Vortäuschung der Transparenz wütet die hier sprechende Figur. Ihre Argumentation ließe sich übrigens ohne weiteres auch gegen die heutigen gläsernen Konzern- und Parlamentsgebäude anführen. Sie freut sich daran, schamlos zu übertreiben. Dieses Wüten ist geradezu manisch. Aber in dem Exzess steckt der Wille zur Kenntlichmachung.

NH Dieser Furor hat auch eine Erotik und Verführungslust, dem anderen sein Spielzeug kaputt zu machen. In der Vehemenz und zuweilen Ungerechtigkeit findet sich die Komik, aber auch darin, dass hier jemand behauptet, alles unter Kontrolle zu haben, während er davon spricht, dass diese Behauptung der Menschheitsirrtum ist.

Die Ich-Figur ist bei Dostojewski eine männliche. Was widerfährt dem Text, wenn er von einer Frau gesprochen wird?

BF Mir gefällt die Vorstellung einer weiblichen Stimme in dieser männlich geprägten Industriekultur, die Mischung aus der klirrenden geistigen Kälte des Dostojewski-Texts und dem Charme von Nina Hoss. An einem solchen Ort gehen einem viele Dinge durch den Kopf, auch sehr düstere. Als Frau nimmt man womöglich anders wahr, aber – vor allem – man wird anders wahrgenommen. Das ändert aber nichts daran, dass die hier vorgetragenen Gedanken universell sind und sich nicht an ein Geschlecht binden.

NH Vielleicht ist es noch immer überraschend, dass eine Frau so spricht und sich diesen Raum nimmt, mit scheinbar großer Selbstgewissheit über Grundsätzliches zu reden. Ich gebe zu, eine solche Haltung auszuleben, macht auch großen Spaß.

NINA HOSS, geboren 1975 in Stuttgart, ist eine vielfach ausgezeichnete, international tätige Film- und Theaterschauspielerin. Das Gespräch wurde im Februar 2023 geführt, in den Studios am Hansaplatz in Berlin, in denen die Proben stattfanden. Wenige Tage später wurde auf der Berlinale der jüngste Film mit ihr, Todd Fields vielfach preisgekröntes Musikdrama Tár, im Wettbewerb gezeigt. Mit der Festivalintendantin und Regisseurin BARBARA FREY verbindet sie eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit, die 2005 am Deutschen Theater Berlin begann und sich am Schauspielhaus Zürich fortsetzte. JUDITH GERSTENBERG ist leitende Dramaturgin für Schauspiel, Tanz und Performance an der Ruhrtriennale.