Der Mensch, heißt es, grenze sich vom Tier ab durch seinen freien Willen. Dieses freien Willens versichert er sich durch die Negation. Er kann sich gegen sein eigenes Interesse, gegen alle Vernunft, gegen die Naturgesetze stellen. Er macht davon Gebrauch, allein, weil er es kann. Dies tut auch die hier erzählende Person.
Barbara Frey: Das ist das dunkle Zentrum des Textes. Dostojewskis Protagonist formuliert einen vehementen Protest gegen das Projekt der Aufklärung, das bis heute unser westliches Selbstverständnis prägt. Es macht uns vor, dass der Mensch sich fortschreitend zu einem edleren und guten Wesen entwickelt, wenn er sich denn nur endlich selbst verstanden hat. Er versteht sich aber nicht und wird sich nie verstehen. Darin liegt eine tiefe Kränkung. Dieser rätselhaften Natur des Menschen spüren wir im diesjährigen Programm der Ruhrtriennale nach. Keine Psychoanalyse, keine kritische Theorie, keine Philosophie und keine Naturwissenschaft hat uns bisher letztgültigen Aufschluss darüber geben können. Das benennt die Ich-Figur in Dostojewskis Text, und wir erleben das als Provokation. Heiner Müller hat einmal einen Gedanken Dostojewkis fortsetzend formuliert: Das eigentliche Problem sei, dass es überall Lösungen gibt. Wir hätten nicht zu viele Probleme, sondern zu viele Lösungen. Lösungen suggerieren uns ein Wissen, das wir nicht haben oder nutzen, sonst würden wir nicht unsere eigene Lebensgrundlage zerstören.
Ist das Projekt der Aufklärung gescheitert?
NH Können wir das überhaupt denken? Dieser Charakter ringt zumindest um Wahrhaftigkeit und daher richtet sich sein vehementer Protest gegen unser Selbstverständnis, dass alles immer besser wird, dass man das Schlechte hinter sich lassen kann. Unsere Rechtsprechung, unser Bildungssystem, unser humanistisches Weltbild baut darauf auf.
BF Das Projekt der Aufklärung steckt als Motor in all unserem Streben, auch das Vertrauen in die Vernunft, die Verstandeskraft. Aber das ist ja gerade das Faszinierende an dem Text. Er fragt, warum denn die Welt so aussieht, wie sie aussieht. Was gelingt der Gesellschaft nicht? Woran scheitert sie? Wieso wird der Mensch nicht edel? Wieso führen wir noch immer Kriege? Wieso verhalten wir uns so grausam zueinander? Durch die Penetranz des Fragens entsteht auch eine Komik, die mir an diesem Text sehr gefällt und die mich sofort an Nina Hoss denken ließ. Es braucht einen Kopf wie sie, der in der Lage ist, alle Facetten dieses Gedankenstroms zum Leuchten zu bringen und den Witz darin aufzuspüren. Nina ist eine große Komikerin. Das mag all diejenigen überraschen, die sie nur aus den Kinofilmen kennen. Da spielt sie eher die dunklen, ernsten Rollen.
NH Man verfängt sich tatsächlich in diesem Text wie in einem Spinnennetz. Das führt zu mancher Situationskomik, denn aus der Verstricktheit, Teil dessen zu sein, was man da gerade anklagt, führt kein Ausweg. Da veräußert jemand sein Denken im Moment, den Prozess, die Abschweifungen, behauptet aber alles und jedes Detail vorausgedacht zu haben. Zu erkennen ist eine große Lust dieser Figur am Formulieren, die Freude an sprachlicher Schönheit, der Suche nach dem immer noch treffenderen Ausdruck. Das trägt sie mitunter auch aus der Spur, führt zu Widersprüchen. Dieser Monolog, diese Selbstbefragung ist sehr vital. Darum empfinde ich den Text auch nicht als deprimierend, auch wenn er dem Menschen wenig Schmeichelhaftes attestiert.
BF Ich empfinde die Figur auch als listig, sie hat Freude an Täuschungsmanövern, am Spiel, die Sätze schlagen Haken, verwinkeln sich, entwickeln eine Freude am künstlerisch-literarischen Ausdruck und an der Behauptungskraft der Sprache. Dadurch dass sich die Figur gegen die Formel 2+2=4 auflehnt, beweist sie sich, dass sie existiert, sie konstituiert darüber ihr Ich. Daher lese ich die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch auch als Manifest des Lebenswillens.
NH Letztlich ist dies auch ein Text über die Genese von Kunst. Wieviel Zweifel müssen ausgeräumt werden, um in die Tat zu kommen? Am Ende sagt die Figur, die sich ihrer Untätigkeit bezichtigt, sie mache sich jetzt ans Schreiben. Darin sieht sie offenbar eine Chance. Sie bringt ihr Denken in Form. Und darin erkennt man auch ihre Angewiesenheit auf Begegnung, durch die sich allein die Form überprüfen lässt. Sie hat sich – so behauptet sie - bewusst von der Gesellschaft abgekehrt, vom tätigen Leben, zurückgezogen in ein Kellerloch, aber in dem Versuch, die eigene Klage zu begreifen, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein, liegt eben auch eine Form der Tätigkeit.
Ich sehe hier die kathartische Methode der Kunst, den Menschen das Unglück bewusst zu machen und ihnen ihre Scheinbefriedigungen zu nehmen. Das Kellerloch im Titel, das du eben erwähntest, bezeichnet sowohl den randständigen Rückzugsort vor der Gesellschaft als auch das Unbewusste, Verdrängte (auch wenn Freud erst später auftauchen sollte). Unser Kellerloch befindet sich auf der obersten Ebene der Mischanlage auf Zeche Zollverein. Warum dieser Ort?