© Barbara Frey

Es ist in diesen Tagen nicht einfach, sich zu konzentrieren. Überall »glotzäugige Schlagzeilen«, wie Silvia Plath einmal schrieb. Die Schlagzeilen künden heute vom Krieg in der Ukraine, und sie fordern einen auf, sich hineinfallen zu lassen in all die unterschiedlichen Formen der Berichterstattung, der Analysen, der Erklärungsversuche. Man tut es, man lässt sich fallen, wühlt sich hinein, diskutiert mit andern, stellt Fragen – auf die es kaum Antworten gibt. So geht es jeden Tag, und in die greifbare Angst, was noch alles passieren könnte, mischt sich das Unbehagen einer möglicherweise allmählich aufkommenden Routine beim Lesen der Schreckensmeldungen. Gibt es so etwas wie eine schleichende Distanznahme, gar eine Art Herzlosigkeit aus Selbstschutz, da es nicht mehr möglich scheint, Empathie zu empfinden mit all den Menschen, die direkt und auf grausamste Weise vom Krieg betroffen sind? Der ungeheure Stapel an Informationen, der sich vor einem auftürmt, wirkt bisweilen wie ein sinnloser Wust aus Wörtern, Wiederholungen und leeren Formeln. Gleichzeitig fordert man von sich selbst und andern »Kompetenz«; man soll ja mitreden können im allgemeinen Weltgeschehen, man soll klug und umsichtig alles sortieren, um seinen Beitrag zu leisten.
Die ersten Forschungsergebnisse hinsichtlich der seelischen und psychischen Folgen der Isolation während der Corona-Pandemie berichteten von »kognitiven Störungen«. Erinnerungs- und Wortfindungsschwierigkeiten seien so häufig wie permanente Ängste, in Einsamkeit zu verfallen und der Welt abhanden zu kommen.
Und jetzt, da in Europa ein völkerrechtswidriger Krieg tobt, mögen Schuld- und Schamgefühle dazu kommen: hätte man etwas zur Verhinderung dieses Krieges tun können, tun müssen? Inwieweit ist jede:r von uns involviert, also mitverantwortlich?
Manchmal, das muss man vor sich selbst zugeben, hilft alles Fragen nichts. Es muss, zumindest für Momente, eine Stille eintreten. Es braucht eine Zone der Erholung, des Luftschnappens, des Innehaltens.
Vor zwei Jahren schenkte mir Miron Hakenbeck, ein hoch sensibler und kunstsinniger Freund aus der Opernwelt, ein wunderbares Buch von Zbigniew Herbert: Ein Barbar in einem Garten, aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wir hatten über Malerei gesprochen, und Miron dachte, ich müsse das Werk kennen. Ich kannte einige Gedichte von Herbert, der Barbar aber war neu für mich. Nun bin ich froh, immer wieder darin lesen zu können. Herbert war Essayist, aber seine Streifzüge durch die europäische Kultur der Vergangenheit sind reine Literatur.

Kaum jemand hat so tiefsinnig über Piero della Francesca geschrieben, den Maler der italienischen Frührenaissance, dessen Werk geprägt ist von einer monumentalen Stille. Auf vielen Italienreisen hatte ich seine Gemälde bewundert, ihre Unergründlichkeit und kompositorische Kraft. Herberts Beschreibung von Pieros Kunst ist für mich wie eine seltsame, tröstliche Heimkehr.

Durch das südfranzösische Römerstädtchen Arles führt Herbert einen so selbstverständlich, dass man den Eindruck hat, plötzlich an der Place da la République eine Fischsuppe zu essen. »Ein heißer Hauch von den Alpillen trägt den Geruch von Lavendel, Mandeln und Dürre in die Gassen. Es gibt keine großen Ereignisse mehr. Caesar kommt nicht mehr in die Stadt. Dafür ist der Kalender voller Feier- und Festtage und Stierkämpfe. Dann wird Arles lebendig.« Ich bin fast jedes Jahr in Arles – und genauso, wie Herbert es beschrieb, ist es dort auch heute noch.
Die sprichwörtlich stehengebliebene Zeit.

Im Dom der umbrischen Stadt Orvieto betrachtet Herbert Luca Signorellis Darstellung des Jüngsten Gerichts ganz so, als sei sie eben erst gemalt worden – und, fast nebenbei, stellt er fest, »… dass die Fresken von Orvieto einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle…«
Er hat recht.

Weitere Streifzüge durch das verlorene Land der Etrusker, die Höhlen von Lascaux; dann der »Versuch, die griechische Landschaft zu beschreiben«, und das Erstaunen darüber, dass Montaignes Reisebuch über Italien kaum von all der dortigen Kunst und Architektur erzählt: »Der Autor scheint die Kathedralen oft zu vergessen, beugt sich aber mit nie nachlassender Neugier über den Teller.«
Immer ist Zbigniew Herbert ganz dort, wo er ist. Er hat keine Eile. Er vertraut. Er sucht, findet, ändert die Perspektive, findet neu.
Und er lässt einen teilhaben, lädt einen ein. Ohne Sentimentalität, ohne Reiseromantik – hellwach und staunend, melancholisch und heiter.
Mag das Büchlein auch sechzig Jahre alt sein – es ist ein heutiges Werk. Das Werk eines Menschen, der den Kontakt sucht zu all jenen, die vor langer Zeit da waren und wollten, dass man sich an sie erinnert.

In dieser Zeit soll es erlaubt sein, sich manchmal einfach, für eine kurze Weile, zu verabschieden von den Alltagsmeldungen, den Kriegsberichten und den düsteren Zukunftsaussichten. Der Lesereise zu den Ursprüngen unserer Kultur haftet keine Schuld an; man sollte kein schlechtes Gewissen dafür haben müssen, sich eine vorübergehende Erschöpfung zu attestieren und sich eine Pause zu gönnen.
Ein Barbar in einem Garten ist die schöpferischste, die menschlichste, die inspirierendste Pause, die man sich denken kann.
Ich danke Miron Hakenbeck für das schöne Geschenk und all die Gespräche, die ich bisher mit ihm hatte.
Und Zbigniew Herbert für seinen Gedankenreichtum, seinen Humor und seinen klaren, freien Blick.

Barbara Frey, März 2022