Barbara Eckle: Dmitri, es ist acht Tage vor der Premiere, die Endproben sind in vollem Gange und man spürt die Aufregung, wenn man die Jahrhunderthalle betritt, die jetzt komplett anders aussieht, als man sie sonst kennt. Erstens einmal vielen Dank, dass du dir Zeit nimmst, mit mir über Janáčeks Aus einem Totenhaus zu sprechen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass es eine eigenartige – oder zumindest sehr ungewöhnliche Oper ist, angefangen mit der Tatsache, dass sie gar keine zusammenhängende Geschichte erzählt. Es wird eine Art Straflagersituation rekonstruiert, wo viele sehr unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinandertreffen und aneinandergeraten. Wenn es keine Geschichte ist, was erzählt die Oper dann? Und war bedeutet das für dich als Regisseur?
Dmitri Tcherniakov: Diese Oper ist gewissermaßen ein Mosaik aus Fragmenten. Jedes einzelne Fragment ist interessant und tiefgründig. Aber wie bei einem Mosaik ist das Bild nicht so klar, es ist etwas unscharf. Ich muss sagen, ich liebe Janáčeks musikalische Welt sehr, aber dieses Stück war mir nie so leicht zugänglich, weil ich einfach keine gute Verbindung herstellen konnte zwischen mir im Zuschauerraum und dem, was auf der Bühne erzählt wurde. Manchmal habe ich auch einfach nicht verstanden, wovon sie genau sprechen. Ich kenne das Buch von Dostojewski sehr gut, aber die Oper besteht eben nur aus diesen rätselhaften Fragmenten. Für mich als Regisseur ist das aber eine spannende Herausforderung, denn ich kann auf der Grundlage dieser Fragmente etwas Neues erbauen, ich kann ein geheimes Netz finden, das alles zusammenhält, eine Struktur, bei der die einzelnen Fragmente ihre Brillanz entfalten können. Ich kann darüber bauen, ich kann seitlich anbauen, vielleicht auch etwas, das nicht direkt aus dem Stück stammt. Es geht darum, ein Mittel zu finden, das dem Publikum ermöglicht, den Kern des Stücks zu finden.
A propos Struktur bauen: Du hast wortwörtlich eine riesenhafte Struktur aus Metall in die Jahrhunderthalle gebaut. Sie erinnert an ein gigantisches Gefängnis mit drei Gefängnishöfen in der Mitte und jeweils drei Galerieetagen darum herum, von denen man das Geschehen in den Höfen beobachten kann. Was ist diese gefängnisartige Struktur für dich? Und was ist die Idee hinter dieser immersiven Bühneninstallation?
Es geht nicht um russische Zwangsarbeitslager oder Gefängnisse aus der Zeit Dostojewskis Mitte des 19. Jahrhunderts. Es geht nicht um russische Gefängnisse heute oder um die Gulags der Stalinzeit. Dieser Bezug wäre natürlich sehr einfach herzustellen. Ich finde solche Bezüge heute aber altmodisch und zudem spekulativ. Wir haben hier kein tatsächliches Gefängnis, denn so eine explizite Gefängniswelt zu rekonstruieren, wäre kitschig. Es wäre unglaubwürdig, weil es nicht echt ist. Wir haben uns entschieden, die Geschichte auf abstraktere Weise zu erzählen. Alle Darstellenden sind normal gekleidet wie die Menschen im Publikum. Manchmal wird es nicht einfach sein, Figuren der Oper und Zuschauer auseinanderzuhalten. Ich setze das Publikum mitten hinein in den Bühnenraum – das ist einer meiner Clous – und zwischen Zuschauerbereich und Bühnenbereich gibt es keine Trennung, wie das in einem Opernhaus üblich ist. Da ist dann noch der Orchestergraben dazwischen. Und ich weiß von vielen vielen Operngänger:innen, dass die Bühnensphäre als eine komplett andere Welt wahrgenommen wird, die nichts mit der Realität zu tun hat.
Und wie gelingt es dir, ein Gefühl von Realität in diesem Setting zu generieren?
Wir versuchen das auf eine bestimmte Weise zu erreichen, vor allem dadurch, dass wir das Publikum mitten in den Bühnenraum hineinplatzieren, damit sie sich mit den Figuren der Oper vermischen. Wie die Sänger, der Chor und die Stunts wird das Publikum über eineinhalb Stunden auf den Beinen sein und sich in diesem Raum bewegen, es wird Zeuge des Geschehens aus einer Distanz von ein, zwei, drei, vier Metern sein, also ganz aus der Nähe.
Welchen Effekt hat die körperliche Nähe zu diesen Verbrechern und ihren mal gewalttätigen, mal tragischen Handlungen? Wie erfahren wir die Situation dadurch anders, als wenn wir sie auf einer normalen Opernbühne sehen würden?
Wir versuchen nicht, eine Geschichte über schlechte Menschen, über Menschen aus Russland, über Gefängnisinsassen, Angeklagte, Menschen mit schlechtem Umgang oder einer kriminellen Vergangenheit zu erzählen im Sinne von »die dort« und »wir hier«. Ich will die Geschichte so erzählen, dass wir das Gefühl haben, dass diese Menschen hypothetisch auch wir selbst sein könnten. Wir wissen nicht, was das Schicksal in der Zukunft für uns bereithält. Es ist wie der Satz, den ich immer von Dostojewski zitiere, dass in jedem modernen Menschen die Fähigkeit zum Mörder schlummert. Nur wissen wir das nicht. Wir wissen nicht, wie weit wir zu gehen bereit wären, welche rote Linien wir überschreiten würden. Wir wissen nicht, wie wir unter schlimmsten Umständen handeln würden. Wir sagen uns vielleicht: Ich wäre nicht in der Lage, dies oder jenes zu tun oder so zu handeln, wie das vielleicht ein:e andere:r getan hat, aber letztlich wissen wir es nicht. Wenn wir nicht in dieser Situation stecken, wissen wir nicht, wie wir uns den Gegebenheiten anpassen würden.
Das ist besonders interessant in dieser Oper, weil es hier keine klar definierten Protagonisten mit großen Partien gibt, wie wir das von anderen Opern kennen. Es sind ein Haufen Gefangene, denen wir in verschiedenen, nicht direkt zusammenhängenden Situationen begegnen. Hier und da tritt dann einer aus der Menge heraus und erzählt seine Geschichte. Aber auch das sind keine klassischen Hauptfiguren, denen wir durch das Stück folgen und mit denen wir uns identifizieren.
Es ist interessant: Für mich ist die zentrale Figur Gorjančikov. Wir verfolgen die Geschichte mehr oder weniger mit ihm. Aber er singt weniger als vier der anderen Figuren. Die Gesangspartie ist ziemlich klein, wahrscheinlich weil er in Dostojewskis Aufzeichnungen das »alter ego« des Autors, also Dostojewksis ist. Das ganze Buch ist sozusagen sein Tagebuch. Es ist seine Geschichte und seine Erinnerung, wie er in diesem Zwangsarbeitslager war. In unserer Produktion stellen wir keinen direkten Bezug zu Dostojewski her und Gorjančikov ist nicht das »alter ego« von irgendwem – nicht meines, nicht von Janáček, nicht von Dostojewski. Bei uns ist er wie einer aus dem Publikum. Es ist erst in der normalen zivilisierten Blase, wenn man so will, und das Schicksal wirft ihn in diese Welt hinein und er versteht gar nicht wofür. Er versteht nicht, was sein Vergehen war. Er wird es am Ende des Abends verstehen, aber am Anfang empfindet er es als unfair, dass er hier gelandet ist. Inzwischen versucht er herauszufinden, wie er sich hier verhalten soll, wie er umgehen soll mit dieser sehr gewalttätigen, inhumanen Welt, wie er sich adaptieren soll. Er versteht, dass er innerlich »erwachsen« werden muss. Er wird in sich die Eigenschaften von Hund und Wolf entdecken, unterschiedliche Seiten seiner Persönlichkeit.
Diese Entwicklung von Gorjančikov können wir also entlang der vielen kleinen Szenen beobachten, die sich unter den Gefangenen abspielen. Und dabei hast du es mit einer merkwürdigen Mischform zu tun aus Gefängnisalltag einerseits und großen, intensiven Monologen andererseits. Und manchmal schlagen diese Monologe scheinbar ohne Kontext wie Meteoriten in diese Gefängnisszenen ein.
Auf dem Weg werden wir verschiedene Charaktere kennenlernen: Skuratov, Luka Kusmič, Aljeja, Šiškov und Šapkin und es werden uns verschiedene Geschichten erzählt. Die Schwierigkeit dieses Stücks sind die langen, langen, langen Monologe, die wiederum andere Figuren heraufbeschwören, die niemals im Stück auftauchen, Figuren aus der Vergangenheit. Manche Monologe sind auch sehr lang, der von Šiškov beispielsweise: der erste Teil davon konzentriert sich erst einmal auf seine Beziehung zu anderen Figuren, die weder persönlich auftauchen noch zuvor Thema waren. Das ist oft schwer zu integrieren in die Entwicklung unserer Geschichte. Wir versuchen Auslöser für diese Monologe zu finden. Es muss einen inneren Grund geben jenseits der Tatsache, dass es einfach in der Partitur steht.
Was wären solche Auslöser?
Einer der Monologe wird beispielsweise durch die Ankunft des Neuen – Alexandr Petrovič Gorjančikov – provoziert, weil das an der Stabilität der Hierarchie rüttelt. Um die Hierarchie klar zu machen, wer oben und wer unten steht, trägt eben Luka Kusmič seinen Monolog vor.
Skuratov am anderen Ende des Spektrums ist ziemlich weit unten in der Hierarchie. Er gilt als ein bisschen dumm, womit er auch kokettiert. Welche Funktion hat sein Geschichte, die er im zweiten Akt erzählt?
Skuratov hat ein Problem mit einer Frau, die ihn verraten hat, aber es ist ihm anfangs gar nicht klar, dass sie ihn verraten hat, weil er sie als Heilige sieht in dieser Geschichte, als Leidtragende, und weil er sie liebt. Aber im Laufe seines Monologs begreift er, dass die Realität eine andere ist: Er ist ihrer Manipulation aufgesessen. Diesen Prozess stellen wir als eine Art Psychodrama dar. Es ist wie eine psychotherapeutische Sitzung, bei der die anderen Gefangenen Rollen in seiner Geschichte übernehmen, was ihm dabei hilft, die Realität zu erkennen.
Die Geschichten einiger dieser Figuren sind wirklich spektakulär, sie erzählen von tragischen Ereignissen oder unerhörten Verbrechen, oder die Person, die sie erzählt, bekleidet eine wichtige Position in der Gefängnishierarchie. Auf der anderen Seite wird aber betont, dass im Gefängnis alle gleich sind, keiner ist etwas besonderes, und Janáček gibt sogar ziemlich peripheren und scheinbar unbedeutenden Figuren einen unverhältnismäßig großen Raum in dieser Oper: dem Landstreicher Šapkin beispielsweise, der in aller Ausführlichkeit erzählt, wie er von einem Polizeikommandanten sehr schmerzhaft am Ohr gezogen wurde. Was lernen wir von ihm über die Natur des Menschen?
Šapkin ist eine sehr besondere Figur. Er spricht mit niemandem, lebt in seiner Welt. Er spricht mit sich selbst, er braucht keine Zuhörer. Er ist eine besondere Figur, weil er ein Typus ist, der sich auf das Überleben unter den gegebenen Umständen konzentriert. Er löscht seine Persönlichkeit, seine Würde, seine Erinnerung aus, er beschränkt sich darauf, zu essen, zu schlafen, zu überleben. Er sucht sich ein bescheidenes Plätzchen in diesem Gefüge, er ist ruhig, unterwürfig. In Solschenizyns Büchern über den Gulag sind mehrere solche Figuren beschrieben, die sich an die Küche halten, in der Küche arbeiten, die sich ein warmes Plätzchen suchen und vom Leben gar nichts mehr erwarten - Produkte des Selbsterhaltungssystems. Es ist keine bewusste Entscheidung, die dahin führt, es ist vielmehr eine Reaktion des psychischen Systems, und das geschieht unterbewusst.
In gewisser Weise öffnen alle diese Monologe einen psychologischen Tresor sozusagen. Aber Šiškovs Geschichte, der längste der vier großen Monologe in der Oper, nimmt eine besondere Stellung ein. Zum einen weil er sehr kompliziert ist, angefangen damit, dass seine Geschichte sich um seinen Widersacher aus der Vergangenheit dreht, dem er im Gefängnis wiederbegegnet und der eigentlich Filka Morozov heißt, sich im Gefängnis aber als Luka Kusmič ausgibt. Zum anderen weil sie einen so tiefen Einblick in die Seele eines eigentlich gewöhnlichen jungen Mannes kleiner Verhältnisse gibt, der zum gewalttätigen und sogar sadistischen Mörder an seiner Frau wird.
Die Geschichte von Šiškov ist eine der interessantesten. Es ist der längste Monolog, aber es ist wichtig, dass Šiškov die Geschichte so detailliert erzählt, wegen der die Hauptfigur in der Geschichte, Luka Kusmič, der einst in der Hierarchie unseres Gefängnisses zuoberst stand, nun aber nur noch eine Art gefallenes Idol ist. Und Šiškov kann sich nun an ihm dafür rächen, dass er sich vor ihm immer als Verlierer gefühlt hat. Diese Akulina, die von Šiškov ermordet wurde, wurde von Luka angeblich, wie er am Anfang der Geschichte erzählt, entehrt. Schließlich stellt sich aber heraus, dass das gelogen war. Sie war in der Tat noch Jungfrau. Für Šiškov war das demütigend. Und so verstehen wir, dass Šiškov Luka umbringen will am Ende, um sich vor allen an ihm zu rächen. Er will ein Gleichgewicht herstellen vor der Welt, im Sinne von: Das Böse wird bestraft und ich sorge dafür. Und zwar weil ich das brauche, weil ich mich sonst schlecht fühle. Ich brauche das, um mich selbst zu überzeugen, dass es nicht meine Schuld ist. Der andere ist es, der mein Leben zerstört hat, durch ihn bin ich vom Regen in die Traufe gekommen, er hat mein Leben in ein dunkles Reich gezogen. Ich bin gut, unschuldig, ohne Fehl und Tadel. Luka hat alle Probleme und Tragödien zu verantworten und muss dafür angeklagt werden.
Aber so ist es in Wirklichkeit nicht. Am Anfang erfahren wir nämlich, wie viel Neid Šiškov gegenüber Luka hat. Er wollte in seinem Gefolge sein, in seinem Umfeld, zu seinem Kreis dazugehören, denn Luka ist ein Alpha-Mann und er ein Loser. Er erzählt die Geschichte von Akulina, wie sich nach all der üblen Nachrede herausstellte, dass sie in Wahrheit noch Jungfrau war, und wie er - davon tief berührt - vor ihr auf die Knie gegangen ist. Nun kann er nicht ertragen, dass sie Zeugin seiner Schwäche geworden ist und er muss sich für diese Schmach rächen. Das ist der Moment, wo er zu Gewalt gegen sie greift: Ich muss sie bestrafen, weil sie hat mich schwach gesehen. Zudem wurde mir hier ein mieser Streich gespielt. Luka hat mich absichtlich hinters Licht geführt, denkt er. Ich bin ein Verlierer und habe mich zum Gespött machen lassen. An ihm kann ich mich nicht rächen, aber an ihr, weil sie die Schwächere ist. Und dann verhält er sich bestialisch.
In der Mitte der Oper, im zweiten Akt, gibt es ein ziemlich eigenartiges Intermezzo, wo die Gefangenen eine Art Theater bzw. Pantomime spielen. Vordergründig erscheint es wie ein leichtes, beschwingtes Gegengewicht zur finsteren Schwere des Gefängnisalltags. Sie spielen simple, frivole Szenen von Frauenhelden und Ehebrecherinnen zur allgemeinen Belustigung. Aber deine Interpretation dieser Szene hat einen bitteren Beigeschmack. Welche Rolle spielt für dich diese Pantomime im Stück?
Es ist nicht einfach, diese Frage zu beantworten. Wir werden für diese Pantomimen eine besondere Lösung finden: Es sind bei uns keine Shows. Die Gefangenen inszenieren das als schmutzige Spaßveranstaltung. Im Gefängnis bedeutet das: Spaß auf Kosten eines Prügelknaben zu haben. In diesem Fall ist es zunächst Skuratov, da er gerade zuvor seine Verletzlichkeit offenbart hat in seiner tragische Liebesgeschichte mit Luisa. Das macht ihn zum gefundenen Fressen für die Pantomime. Dann Gorjančikov: Für die anderen Gefangenen ist er ein bisschen fremd. Er gehört nicht dazu in diesem Kreis von Gefangenen, er bleibt ein Außenseiter. Das provoziert ein xenophobes Verhalten der Gefangenen ihm gegenüber: Er hält sich wohl für intellektuell, für etwas besseres! Deshalb, denken sie, müssen wir ihm zeigen, wo sein Platz in der Gefängnishierarchie ist, wir müssen sein Gesicht immer wieder in die Scheiße drücken. Diese Pantomimen sind spontane Aktionen, keine vorbereiteten Shows. Wenn sie beispielsweise die Pantomime der »Schönen Müllerin« spielen, haben sie das gerade erfunden und nicht tagelang geprobt. Sie nehmen sich die Themen dazu aus der aktuellen Dynamik der Gefangenengruppe. Daher dienen hier eben Skuratov und Gorjančikov als Prügelknaben. Tatsächlich ist es weder Spaß, noch Unterhaltung, es ist einfach ein fieses Mobbing dieser zwei Männer, um ihnen das Leben noch unerträglicher zu machen. Nur darin liegt der Spaß für die anderen Gefangenen, nicht in einer unterhaltsamen Show. Und ich möchte damit beim Publikum ein negatives, unangenehmes Gefühl erzeugen.
Angesichts der Tatsache, dass wir das selber sein könnten, erscheint es nur natürlich, dass wir uns dabei etwas unwohl fühlen sollten. Wir sind mit einer dunklen Seite unserer Persönlichkeit konfrontiert, die wir vermutlich gar nicht kennen – oder wie du sagen würdest: mit dem Wolf hinter dem Hund.
Dmitri, danke dir für das Gespräch! Ich freue mich auf die Vorstellungen.
Das Gespräch wurde am 22. August 2023 in der Jahrhunderthalle Bochum geführt und aufgezeichnet.