© Andreas Karlaganis

Bei uns zuhause wurde der «neue Dürrenmatt» immer gleich gekauft. Justiz ist ein später Roman des Schweizer Dichters. Er erschien 1985, fünf Jahre vor dessen Tod. Eine Detektivgeschichte, die noch rätselhafter und philosophischer ist, als die seiner frühen Krimis.

Es beginnt mit einem abscheulichen Mord, doch was danach geschieht, schien mir bei der Lektüre viel unerhörter: Ein angesehener Politiker erschiesst vor Augen der High Society, mitten in einem vollbesetzten Restaurant, einen Universitätsprofessor. Anschliessend verpflichtet der Täter einen jungen Anwalt und beauftragt diesen, auf Freispruch zu plädieren. Der Jurist gerät immer mehr in ein undurchsichtiges Netz von Verstrickungen und Racheplänen und geht schliesslich zugrunde.

Ich erinnere mich, wie der Plot mich damals faszinierte. Ein Mord, den alle gesehen haben, soll nicht stattgefunden haben? Und viel ungeheurer: Die Justiz scheitert daran die Gerechtigkeit zu schützen? Ausdrücke wie «Fake News» und «Alternative Fakten» gab es 1985 noch nicht. Doch Dürrenmatt wusste, wie anfällig Sprache und Wahrheit sind, wie weit wir von der sicheren Zivilisation entfernt sind, wie monströs das menschliche Zusammenleben ist.

Ich greife immer wieder zu dem Roman und lese gebannt die letzten Sätze: 

Wir gehen an der Freiheit zugrunde, die wir gestatten und die wir uns gestatten. Ich verlasse mein Arbeitszimmer, das nun leer geworden ist, befreit von meinen Geschöpfen. Halb fünf. Am Himmel seh ich zum ersten Mal den Orion. Wen jagt er? Friedrich Dürrenmatt

Andreas Karlaganis Berlin, 7. Juli 2022