Paris, 17. Februar 2023

Lukas Bärfuss: Jean-Christophe Bailly, erlauben Sie mir zu Beginn eine persönliche Frage. Sie wurden kurz nach dem Krieg, 1949, geboren. In ihrer Lebenszeit haben Sie zwei parallele und widersprüchliche Entwicklungen erlebt. Auf der einen Seite eine Verbesserung der Lebensbedingungen, wie sie keine Generation zuvor erlebt hat. Und auf der anderen Seite eine ebenso beispiellose Zerstörung der Natur. Wie haben Sie diesen Widerspruch in Ihr Denken integriert?

Jean-Christophe Bailly: Das ist schwer zu beantworten, da man als Kind unterschiedliche Dinge erlebt. Ich war begeistert von der so genannten Natur, den Tieren, den Wäldern, allem, was ich davon sehen und verstehen konnte, der sternenklaren Nacht, all das hat mich in Staunen versetzt. Erst spät wurde uns bewusst, dass wir mit der Industrie und der postindustriellen Welt alles, aber auch wirklich alles, zerstören. Und es waren vor allem die Tiere, durch die mir die Zerstörung bewusst wurde. Das hat mich immer erschreckt: die Zahl der Menschen. Als ich geboren wurde, waren wir etwa dreieinhalb Milliarden Menschen. Jetzt sind wir acht Milliarden. Und wenn wir umgekehrt die Tigerpopulation betrachten, dann gab es damals Zehntausende. Jetzt zählen wir sie in Hunderten, manchmal in einzelnen Tieren. Und wenn man diese beiden Linien sieht, die ständig ansteigende Linie der menschlichen Bevölkerung und die ständig abnehmende Linie des tierischen Lebens, dann ist das schrecklich.

In Ihrem Essay La forme animal [1] verwenden Sie ein Zitat von Georges Canguilhem:  »Zwischen dem Lebendigen und seinem Milieu entwickelt sich das Verhältnis als Debatte.«[2] Sind wir Menschen hier mit gemeint? Was wäre dann unser Milieu? Wir wurden doch aus dem Paradies, dem »umhegten Park, in dem wilde Tiere leben«, ausgeschlossen? Und können wir noch von einer Debatte sprechen? Eine Debatte erfordert Subjekte, die sich auf gleicher Ebene begegnen - ist aus diesem Verhältnis nicht mittlerweile ein Krieg geworden? Wo stehen wir in dieser Debatte?

Canguilhem bezieht sich eher auf die Beziehung der Lebewesen im Allgemeinen. Ein bestimmtes Tier, eine bestimmte Pflanze, die Pflanze kann nicht leben, ohne in irgendeiner Weise mit der Umgebung zu diskutieren, das Leben hängt davon ab. Jedes Lebewesen bewertet die Welt auf diese Weise, berechnet seine Möglichkeiten. Es ist gezwungen, das zu berücksichtigen, was vor ihm, unter ihm, neben ihm, hinter ihm, über ihm ist. Auch die Menschen mussten so funktionieren, die Jäger und Sammlergemeinschaften existieren auf diese Weise, ihr Leben hing davon ab. Vom Moment an, als die Menschen eine Reihe von Dingen wie Privateigentum, Lagerung von Gütern und Waren entwickelten, und die Geschichte, Kriege, Machtformen hervorbrachten, entfernten sie sich immer mehr von dieser kontinuierlichen Beziehung, dem direkten Kontakt mit der Welt um sie herum.
Als Kind habe ich im Urlaub die Milch auf dem Bauernhof geholt. Heute ist das praktisch verschwunden. Die Umgebung, in die ein Kind heute geboren wird, ist auch nicht mehr die Stadt, wie sie zur Zeit der aufstrebenden Bourgeoisie oder danach in der Industriegesellschaft entstand. Es ist eine Art Nicht-Stadt, eine relativ formlose Metropole, mit einer Universalität der Medien, der Mediatisierung von Waren und so weiter. Es ist etwas Erschreckendes, wo man letztendlich feststellen muss, dass die Debatte mit der Umwelt, schwach ist.

Sie haben lange an der École nationale supérieure de la nature et du paysage (Nationale Hochschule für Natur und Landschaft) in Blois unterrichtet.

Ich habe dort sehr gerne gearbeitet. Noch dazu als Schriftsteller. Literatur könnte ich nicht unterrichten, sie ist mir zu nah. Ich würde mich ständig aufregen. Wenn ein Student mir sagt, dass er Gérard de Nerval nicht mag, werde ich verrückt. Während es dort einen Hintergrund von objektivem Wissen gab. Was macht man mit einer Industriebrache? Wie kann man verhindern, dass der Fluss über die Ufer tritt? Und so begleiteten wir die Studenten, selbst ich, der ich offensichtlich einen eher theoretischen Unterricht gab.

Heute sehen wir, dass die Jugend wütend und verzweifelt ist. Das Gefühl der bevorstehenden Apokalypse ist verbreitet.

Ich selbst bin nicht völlig verzweifelt, aber ich frage mich oft, warum.

Was gibt Ihnen noch Hoffnung?

Was mir Hoffnung gibt, sind die Gebiete, die Klammern des Vergessenen. Wenn ich auf dem Land spazieren gehe und einen Esel sehe. Er kommt zu mir und ich berühre seine Ohren. Es macht mich zufrieden. Ebenfalls die Nacht. Und manchmal die Menschen. Es gibt einige interessante Dinge, die man mit ihnen unternehmen kann. Ich war gerade in München, zu den Proben von Georges Aperghis Komposition und verfolgte die Arbeit der Musiker:innen. Es ist reine Leidenschaft, Stunden um Stunden, um winzige Klänge zu perfektionieren. Alles, was eine Form von Aufmerksamkeit erfordert, mit den Ohren, mit den Händen, mit dem Tastsinn, das macht mir Freude. Sogar ein Metzger, der Fleisch schneidet! Ich bin in dieser Hinsicht ein absoluter Rousseauist. Alle sollten zu zehn Stunden Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Pro Woche. Alle!

Erstaunlich, das von einem Intellektuellen zu hören.

Aber ja, aber nein. Wenn ich jemanden wie Macron sehe, den französischen Präsidenten, dann ist er für mich eine Karikatur dessen, was ein Mensch sein sollte. Ich möchte ihm einen Schraubenzieher in die Hand drücken, und ich bin mir sicher, dass er kaum weiß, wie man damit umgeht. Das sind die Leute, die die Welt regieren. Sie sind erschreckend, eine Inkompetenz und Arroganz, die fast unbegreiflich ist.

Als Jugendlicher arbeitete ich bei einem Tabakpflanzer. Er besaß auch Vieh. Es war ein grausames Leben. Einmal mussten wir ein Kalb zersägen, weil es im Geburtskanal stecken geblieben war. Es gab einen Nachbarn, der jede fremde Katze tötete, die sich auf seinen Hof gewagt hatte. Ich fand sie jeweils auf dem Misthaufen. Es war blutig, es gab einen gewissen Wahrheitsgehalt oder es war nie idyllisch. Ich bin nicht sicher, ob ich über den Verlust dieser Welt traurig wäre. Sie haben ein Libretto über eine andere untergegangene Welt geschrieben, die Welt der Kohlebergwerke.

Wer in Essen, im Ruhrgebiet, eine Zeche besucht, wo die größten Maschinen standen, findet dort jetzt ein Vier-Sterne-Restaurant. Welches Recht haben wir, das zu tun? Das bedeutet nicht, dass man das Restaurant schließen und die Zeche wieder öffnen sollte. Aber die Geschwindigkeit, mit der die Menschen ihre Vergangenheit auslöschen, gefällt mir nicht.

Die Geschwindigkeit, mit der Menschen ihre Vergangenheit auslöschen, gefällt mir nicht. Jean-Christophe Bailly

Sie sprechen oft von diesen verlorenen Archiven, von den ausgelöschten Erinnerungen. Warum sollten wir sie bewahren?

Weil sie unsere Gesellschaft geformt haben, und darüber hinaus ist es klar, dass wir Menschen unsere Rohstoffe lokal produzieren sollten.

Wir hören diese Forderungen zurzeit in vielen Debatten. Gerade in Bezug auf Russland oder China. Vielleicht ist die Globalisierung an ein Ende gekommen und die Re-Lokalisierung der Produktion eine Notwendigkeit.

Davon bin ich fest überzeugt. Ein ehemaliger Student, den ich gerne besuche, ist Viehzüchter, und er tut dies unter modernen Bedingungen. Keine Chemie. Die Wiesen werden durch Kulturen oder Baumstreifen voneinander getrennt, die sich der Form des Geländes anpassen, um Abflüsse und Erosion zu vermeiden. Die Menge der Dinge, die  transportiert werden müssen, werden begrenzt, die Ställe abgeschafft. Die Kühe schlafen im Winter im Wald und es geht ihnen gut.

Aber dieser Landwirt produziert zu hohen Preisen für Menschen, die es sich leisten können. Das Wachstum und der wirtschaftliche Erfolg unserer Landwirtschaft verdankt sich dem intensiven Anbau und vor allem dem Einsatz von Kunstdünger. Ihm verdanken wir den Anstieg der Geburtenrate und der Lebenserwartung. Und gleichzeitig ist dieser Kunstdünger ein petrochemisches Produkt und ein wesentlicher Motor des Klimawandels. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?

Ich weiß es nicht. Aber es ist interessant zu sehen, dass es jetzt viele junge Leute in Frankreich und Europa gibt, die von der üblichen Spur abweichen und etwas anderes versuchen. Es ist nicht die Masse und sie sind weit von den Entscheidungs- und Machtbereichen entfernt, aber sie beginnen, kleine Inseln einer anderen Art des Handelns zu schaffen.

Sie beziehen sich in Ihrer Arbeit oft auf den Biologen Jakob Johann von Uexkuell und sein Konzept der »Umwelt«. Und ich war erstaunt zu sehen, dass Sie den Begriff korrekt und ganz im Sinne Uexkuells im Plural verwenden. »Umwelten« ist auf Deutsch allerdings sehr ungebräuchlich. Heute beschreibt dieser Begriff eine Einheit, wo hingegen Uexküll eine Vielfalt und also genau das Gegenteil beschreiben wollte.

Die Welt um uns herum ist die Verflechtung vieler Umwelten. Jean-Christophe Bailly

Er sagte, dass die Welt um uns herum die Verflechtung vieler Umwelten ineinander ist, die sich allerdings selten treffen.

Man müsste alle diese Umwelten kennen.

Sie zu kennen, ist nicht möglich, aber anerkennen, anerkennen, dass es sie gibt.

Dies steht im Widerspruch zu der Idee einer Umwelt, einer Einheit, die geschützt werden muss.

Die Idee der Einheit ist für mich ziemlich schrecklich. Ich habe vor langer Zeit etwas über die Ontologie der alten Ägypter gelesen. Es gibt eine Ursprungsgeschichte, die absolut wunderbar ist. Am Anfang gab es das Eine, aber das Eine ist gleich dem Chaos. Das Eine kann sich nicht sehen, da es eins ist. Es gibt keinen Blick auf es. Damit es eine Welt gibt, muss es zwei geben. Wenn es zwei gibt, gibt es Millionen. Und wenn jemand stirbt, sei es ein Mensch oder eine Maus, da dieses Lebewesen für alles Existierende empfänglich war, besteht durch den Tod die Gefahr, dass es vom Einen übernommen wird. Das Eine bedroht ständig die Existenz und ist in gewisser Weise ihr Ursprung. Aber die Existenz konnte, wenn man so will, nur werden, indem sie sich von diesem Klebstoff, diesem Leim des Einen befreite. So sehe ich die Dinge, als etwas Systemisches. In einem System der gleichzeitigen Verflechtung.

In einer Vielzahl.

Wir sagen Regen, aber jeder einzelne Tropfen ist interessant.

Gleichzeitig gründet der Erfolg der Naturwissenschaften, des Positivismus in der Tatsache, dass wir die Dinge in eine Kategorie einordnen. Ich hatte eine Erfahrung mit meinem Orthopäden, weil ich Probleme mit meinem Knie hatte und dann ging ich von einem Spezialisten zum anderen. Am Ende landete ich bei dem großen Spezialisten und er sagte: Herr Bärfuss, Sie haben kein Knie, das gibt es nicht! Es ist nur eine Funktion zwischen Ihren Waden und Ihren Oberschenkeln. Sie sind also am Ende mit dem Universum verbunden. Ich war ein wenig beunruhigt, spirituell gut betreut, aber medizinisch war ich besorgt, weil ich eine Lösung für mein Knie wollte und nicht für mein spirituelles Leben.

Wir sind alle ein wenig so. Sobald es uns schlecht geht, werden wir positivistisch. In der Wirklichkeit verlassen wir uns auf die Positivisten.

Wir müssten eine Sprache finden, die die Vielfalt mit dem Individuum verbindet. Wenn wir nur das Universelle sehen, wird der Humanismus überflüssig. Denn es ist ziemlich sicher, dass es noch für eine sehr lange Zeit Leben auf diesem Planeten geben wird, aber es wird nicht notwendigerweise menschlich sein.

Es wird Formen annehmen, die wir nicht kennen. Alle apokalyptischen Perspektiven sind möglich. Die Fähigkeiten des Menschen zur Zerstörung und Verwüstung sind erstaunlich. Natürlich ist das Beispiel, das mir in den Sinn kommt, das, was gerade in der Ukraine passiert. Sie verstehen nicht, wie eine solche Dummheit möglich ist.

Liegt diese Zerstörung in der menschlichen Natur?

Menschen sind zum Schlimmsten fähig sind. Als stünden sie von einer Prüfungskommission, als müssten sie beweisen, dass wir dazu fähig sind. Wir können es immer noch schlimmer machen. Ich habe in Russland mehrmals für das Theater gearbeitet. Ich habe großartige Erinnerungen an die Arbeit mit Menschen, wunderbaren Menschen. Selbst meine Erinnerungen werden von dem, was gerade passiert, angegriffen.

Der Krieg verdirbt auch die Erinnerung.

Das ist schrecklich.

Jean-Christophe, sollen wir hier aufhören oder eine Pause machen?

Nein, nein, wir werden aufhören. Ich fürchte, wenn wir weiter machen, müssten wir noch so viel mehr erzählen.

[1] in:  Le parti pris des animaux, Jean-Christophe Bailly, 2013
[2] »Entre le vivant et le milieu, le rapport s’établit comme un débat«, Georges Canguilhem, La Connaissance de la vie, 1965

LUKAS BÄRFUSS, geboren in Thun (Schweiz), Damatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u.a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, kuratiert seit 2021 die Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen an der Ruhrtriennale. JEAN-CHRISTOPHE BAILLY, 1949 in Paris geboren, hat Theaterstücke, Erzählungen und Reiseberichte verfasst und auch zahlreiche Gedichte und Essays veröffentlicht. Baillys in Frankreich hochgeschätztes Werk bewegt sich an der Schnittstelle von Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Poesie. Er wurde u.a. mit dem Prix Décembre ausgezeichnet. Für die Georges Aperghis' Auftragskomposition für die Ruhrtriennale 2023 schrieb er das Libretto.