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Roger Deakin: Logbuch eines Schwimmers | © Aljoscha Begrich
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Roger Deakin: Logbuch eines Schwimmers | © Aljoscha Begrich

Vor ein paar Monaten kam ein Freund zu mir und sagte: »Du schwimmst doch gern - und liest gern, oder? Dann hab ich ein Buch für Dich. Wie Sebalds Ringe des Saturns - nur geschwommen.« Ich verstand nur Bahnhof. Aber nahm wohlwollend das Buch und begann zu lesen - und zu staunen. Wie kann sich jemand so ein Projekt ausdenken, durchführen, aufschreiben? - Und wieso kenn ich das nicht? In den Neunziger Jahren beschließt Roger Deakin ein Waterlog anzulegen: Er durchquert Großbritannien und schwimmt, schwimmt, schwimmt – spricht mit Leuten, guckt genau hin und spurt nach. Er beschreibt das Erlebte und entwirft dabei nicht nur eine Kulturgeschichte des Schwimmens, sondern auch einen Atlas der mentalen Geographie des Landes und unserer Zeit. Er liest die natürlichen und künstlichen Spuren, die über die Jahre entstanden sind: abgegriffene Handläufe an Geländern in Schwimmbädern, ausgespülte Steine an Flußmündungen, verwaiste Trampelpfade zu versteckten Stränden. Er genießt und kämpft mit dem Wasser, schwitzt, friert und sucht. Beim Durchblättern des Buches für diesen Text war ich ganz verwirrt, wieso keine Fotos in dem Buch zu finden waren. Ich war mir sicher, es sei voller Bilder. Aber da ist nur Text. Die Bilder entstammten meiner Phantasie. Aber nicht nur daher, sondern auch von Google Maps. Fast zwanghaft schob mich das Waterlog immer wieder auf die Seiten der Satellitenfotos von den genannten Orten. Fast ebenso viel Zeit wie für die Lektüre verbrachte ich mit dem Scrollen, Wandern und Suchen im digitalen Kartenraum. Ich war noch nie in Großbritannien, aber jetzt habe ich das Gefühl, ich kenne dies Land wie kaum ein anderes Land: entlegene Strände, traditionelle Schwimmvereine, lange Mündungsfläche, enge Bachbiegungen, dreckige Hafenbecken, heiße Geysire und kalte Moorquellen, verlassene Schwimmbecken und Sprungstellen an Kanalbrücken. Waterlog möchte ich nicht nur immer wieder lesen und verschenken, um es zu verbreiten, sondern ich möchte es am liebsten selber schreiben! In meinem Kopf drängt sich der Gedanke auf, wieso sollte das nicht fortzuführen sein? Seit der Lektüre reise ich schwimmend. Wie unterscheidet sich der Badegang im Baggersee eines ehemaligen Braunkohletagbaus in Sachsen Anhalt vom Endmoränenrestsee der Uckermark, das Gleiten in den Bahnen eines Berliner Freibads von denen in der zäh fließenden Spree? Schon vor jeder Reise kündet eine Region sich auf der Karte mit ihren Möglichkeiten an. Und so hab ich auch das Ruhrgebiet angefangen kennenzulernen: über das Beschwimmen, Beschauen und Besprechen im Freibad in Recklinghausen, am Phoenixsee in Dortmund, am Ruhrstrand in Mülheim, am Borbach in Witten oder im Hafenbecken am Rhein Herne Kanal.

Aljoscha Begrich, Winter 2021
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