© loekenfranke / Michael Loeken & Ulrike Franke (VG Bild-Kunst)

Sowohl beim Filmkollektiv loekenfranke als auch in den Video-Arbeiten von Mats Staub geht es im Grunde um eine genaue Beobachtung der Menschen. Man hat es mit Porträts zu tun. Menschen erzählen, zeigen sich, zweifeln, hoffen, kämpfen, machen eine Bestandsaufnahme ihres Lebens, ihrer Umgebung, der Verhältnisse, die sie geprägt haben und die ihnen bisweilen auch brutale Veränderungen aufgezwungen haben. Es geht immer auch um die Frage nach den Möglichkeiten, ökonomischen und sozialen Zwängen zu trotzen – oder aber diese Zwänge akzeptieren zu müssen, auch oft ausdrücklich gegen die eigenen Sehnsüchte und Visionen. Was bleibt? Was ist aus den Sehnsüchten geworden? Was hat man gewinnen können – und was ist verloren? Kann man überhaupt Einfluss nehmen auf den schnöden Gang der Zeit? Wer ist eigentlich der Autor, die Autorin des eigenen Schicksals? Indem die Vergangenheit erforscht wird, bekommt man Aufschluss über die Gegenwart. Und eine fahle Ahnung dessen, was kommen mag. Warum ist es offenbar in die Natur des Menschen eingeschrieben, dass er immer wieder auslöschen muss, was er getan hat – nach angeblich bestem Wissen und Gewissen? Und warum ist es ebenso klar, dass er sich immer wieder erinnern will, womöglich erinnern muss an all das, was er lieber vergessen hätte?

Die Arbeiten von loekenfranke und Mats Staub sind wohl unter die Kategorie des »Dokumentarischen« einzuordnen – aber was heißt das? Erzählt das dokumentarische Filmmaterial von einer anderen Wahrheit als die Künste es tun? Verlangt man von ihm eine immer neue, andere, eine sozusagen wahrhaftigere Dimension all der Fragestellungen, die die Künste seit jeher beschäftigen? Wäre die Dokumentation dann gewissermaßen den Künsten überlegen? Könnte sie gar Antworten geben?

Die Werke von Mats Staub und loekenfranke lösen diesen scheinbaren Widerspruch auf. Sie sind dokumentarische wie künstlerische Werke. Sie maßen sich keinen Wahrheitsbegriff an, mittels dessen man die Menschheit von ihren Nöten erlösen könnte; sie beanspruchen keinerlei »Weltverbesserung«.

Eines aber können sie für sich beanspruchen: Die Genauigkeit beim Hinschauen und Hinhören, die Präzision in der Porträtierung von Menschen, rund um den Globus – und das Wissen darum, dass alles, was mit dieser Welt passiert, sei es im Ruhrgebiet, in anderen europäischen Gegenden oder auf anderen Kontinenten, menschengemacht ist – und dass es darum geht, die Fragen zu stellen, die alle Künste seit Menschengedenken immer gestellt haben: Was ist Verantwortung? Wie leben wir zusammen? Wie können wir uns gegenseitig helfen? Was ist unsere Natur – und was ist die Natur, die uns umgibt? Wie können wir uns gegenseitig an der Zerstörung hindern, die wir unablässig vorantreiben? Wie können wir die Grausamkeiten von Liebe und Tod ertragen, wie können wir aushalten, dass wir in die Welt geworfen sind und noch immer so wenig über uns wissen?

Die Filmdokumente von loekenfranke und Mats Staub sind gleichermaßen nüchtern wie tiefsinnig, melancholisch wie humorvoll, scharf analysierend wie spielerisch. Das Schöne ist, dass sie sich in keine Kategorie einordnen lassen.

Sie sind frei.

Barbara Frey: Heute, da die Natur weitgehend zerstört ist, gibt es eine sehr intensive Tierforschung, was eine seltsame Ironie hat. Man zählt gerne zu den »intelligenten Tieren« jene, die über Erinnerungsfähigkeit verfügen, ein Gedächtnis haben, wie z.B. Primaten, Elefanten, Ratten, Oktopusse. Was heißt das umgekehrt für die Natur der Menschen, der ja ein sich erinnerndes Tier ist? Was bedeutet Erinnerung in eurer Arbeit?

Mats Staub: Ein Weg ins Innere, im Wortsinn.

Michael Loeken: Erinnerung ist eine Begleiterscheinung des Suchens und Erforschens. Was gibt es zu entdecken? Zum Beispiel die Vogelbeobachter, die wir fotografieren: Aus der Beobachtung der Vögel erinnern sich die Leute an ihre eigene Situation. Haben die Vögel auch Spaß? Was machen sie eigentlich da?

Ulrike Franke: Erinnern ist Unberechenbarkeit: Plötzlich kommt etwas hoch in einem, ausgelöst durch einen Geruch oder einen Lichtreflex. Das ist verbunden mit Emotionen, fröhlichen oder melancholischen. Die Gier nach Erinnerung ist auch der Antrieb für das, was noch kommt. Man ist hin- und hergerissen.

ML: Erinnerung geht oft mit Verdrängung einher.

BF: Der Geist von Hamlets ermordetem Vater bittet seinen Sohn nicht nur um Rache - er bittet ihn eindringlich darum, sich an ihn zu erinnern: »Remember me« (»Gedenke mein«). Daraus entsteht bei Hamlet diese merkwürdige Tathemmung.

Es geht um den Moment an sich. Da stößt man auf das bloße Sein. Ein Blick, eine Geste, hier und jetzt. Da verbirgt sich die Lakonie. Ulrike Franke

MS: Es ist ja auch gut, sich genau zu überlegen, was der nächste Schritt sein kann! Da kommt die eigene Entscheidung ins Spiel. Unsere Arbeit ist das Innehalten und Beiseitetreten.

ML: Bei bestimmten unserer Projekte merken wir, dass man sich nicht erinnern will. Es sollen neue Projekte her, neue Landschaften im Ruhrgebiet entstehen. Alte Gebäude müssen weg - und umgekehrt pflegt man aber richtige Kathedralen der Vergangenheit. In unserer Arbeit gibt es aber keine Nostalgie, eher Melancholie.

BF: Nichts an eurer Arbeit wirkt nostalgisch oder gar romantisch. Das Lakonische dominiert als Grundgestus.

UF: Es geht um den Moment an sich. Da stößt man auf das bloße Sein. Ein Blick, eine Geste, hier und jetzt. Da verbirgt sich die Lakonie.

ML: Wir öffnen uns der ganzen Bandbreite der Gefühle, die wir erfassen wollen. Humor ist z.B. wichtig! Ein Humor, der Menschen nicht vorführt, man muss gemeinsam lachen.

MS: Die Gefühle muss man aufkommen und weiterziehen lassen. Das ist das Lakonische in meiner Arbeit.

BF: Im Theater gibt es überhaupt nur den Moment. Nichts Bleibendes. Wie nähert ihr euch in euren Filmen dem Individuum, um es optimal zum Erzählen zu motivieren? Wie entsteht diese Unmittelbarkeit, die wir beim Anschauen empfinden?

UF: Im Theater muss der magische Moment reproduzierbar sein. Beim Filmemachen gibt es nur die absolute Einmaligkeit. Aber bloß nichts festzurren im Vorhinein! Die Menschen müssen auch unsere eigenen Sorgen und Ängste spüren, es gibt kein einseitiges Nehmen unsererseits. Nur durch Vertrauen entsteht so etwas wie Wahrhaftigkeit.

ML: Man muss die eigenen Schwächen zeigen, das schafft Normalität.

MS: Ich sage den Menschen immer, ich führe keine Interviews, sondern wir kommen miteinander ins Gespräch. Ich zeige mich auch, bin präsent.
Im Unterschied zu euch, Ulrike und Michael, muss ich aber etwas erzeugen, das absolut nicht natürlich ist. Bei »21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden« z. B. ist es eine künstliche Situation: Die Menschen werden von mir beim Zuhören ihrer eigenen Geschichte porträtiert. Aber ich »inszeniere« sie nicht, ich versuche ihnen eine Begegnung mit sich selbst zu ermöglichen.

Man muss wirklich alles wahrnehmen, einfangen und ernst nehmen, auch und gerade das scheinbar »Banale«. Michel Loeken

BF: Du, Mats, bringst die Räume zum Verschwinden. Der Hintergrund in »21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden« und bei »Jetzt & Jetzt« ist schwarz. Dadurch entsteht dieses merkwürdig Sakrale. Ohne jede falsche Heiligkeit. Die Menschen wirken wie bewegliche Ikonen. In euren Arbeiten, Ulrike und Michael, spielen die Räume eine entscheidende Rolle.

UF: Die Räume halten alles fest, was verschwunden ist. In »Herr Schmidt und Herr Friedrich« ist in jeder Schallplatte, jedem Liebesbrief, Foto und Nippes Erinnerung. In all unsern Filmen beziehen die Leute aus den sie umgebenden Räumen ihr Lebenselixier, ob es ein Wohnzimmer oder eine Straße im Ruhrgebiet ist. Eine Frau schaut seit 40 Jahren auf das Opelwerk Bochum, das dann verschwindet. Und der Baum vor dem Werk muss auch verschwinden. Die Frau verliert damit ihren angestammten Raum. Wir müssen alle Orte konkret aufsuchen, sie riechen!

BF: Beim Schauen eurer Filme rieche ich auch alles. Wie macht ihr das?

ML: Man muss wirklich alles wahrnehmen, einfangen und ernst nehmen, auch und gerade das scheinbar »Banale«.

UF: Das Entscheidende passiert im Schneideraum, es geht um Komposition. Wieviel Wichtigkeit geben wir einem einzelnen Bild? In dem Film über die Schlagersängerin Renate Kern gibt es ein Foto, auf dem sie als Kind ganz verloren in einer Schneelandschaft steht. Wie lange das Bild exakt stehen bleibt, ist wichtig für den Gesamtzusammenhang, dadurch entsteht Nähe.

BF: Trotzdem bleiben ja viele magische Momente nicht erklärbar. Das ist das Schöne. Es kommt sozusagen etwas Drittes hinzu.

MS: Das erlebe ich auch so – zugleich bedeutet es unglaublich viel Arbeit, um die Bedingungen zu schaffen, dass sich Magische Momente ereignen können. Wochenlanges Editieren, auf die Essenz kommen. Ich suche die volle Konzentration auf das Individuum. Dadurch entsteht etwas Universelles. Am Anfang sagten mir Leute, »das ist ja alles schön und gut - aber wer interessiert sich schon für die Großmutter von Frau Meier?«

BF: Wie wir feststellen können, sehr viele!

MS: Ob ich eine Person aus dem Ruhrgebiet oder aus Kinshasa portraitiere - mich interessieren die Gesichter, dadurch entsteht etwas Verbindendes. Wenn auch die Hintergründe schwarz sind, wie in »21«, so gehen doch am Ende die Zuschauer:innen in einen speziellen Raum, um sich dort optimal auf die Porträtierten konzentrieren zu können. Deshalb liebe ich ja auch weiterhin die Theaterkunst! Man geht in einen realen Raum, das bedeutet etwas.

BF: Was sind für euch Held:innen? Wir sind ja 24 Stunden konfrontiert mit Heldentum. Im Netz, in Filmen, Serien, in der Werbung. Alles soll menschlich, nahbar und alltäglich anmuten - und wird doch stets ins Heroische gesteigert.

MS: Der Polizist in eurem Film »Göttliche Lage«!

Ich verbringe viel Zeit mit den Menschen. Die längste Zeit sind sie aber dann gar nicht mehr da, und ich befasse mich mit dem gesammelten Material. Diese Menschen bewohnen mich. Mats Staub

UF: Die Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Job ausführt, ihn liebt und uns ohne Wenn und Aber daran teilhaben lässt! Ein Kümmerer. Das wird aber nicht bewertet oder hochstilisiert, ist also womöglich nicht »heldenhaft«. Held:innen bekommen ja immer die Bestnote, sie werden ständig bewertet.
Unsere Protagonist:innen sind alles andere als ausgewogen oder perfekt.

ML: Es geht nicht um Heldentum, aber sehr wohl um starke Persönlichkeiten. Man nimmt den Menschen die Dinge ab, sie sind nicht künstlich.

BF: Im Theater ist es umgekehrt: Tollen Schauspieler:innen nimmt man dann alles ab, wenn sie am künstlichsten sind. Das »Echte« ist ja gespielt. Ein Wesensmerkmal der Renaissance war die perfekte Mischung aus Sein und Spiel.

UF: Durch die Anwesenheit der Kamera ist bei uns im Grunde auch alles künstlich: Da stehen ja das Team, die Kamera, manchmal Licht. Es ist eine Art Verabredung! Es geht darum, vor Ort eine Intensität zu schaffen und zu erreichen, dass die Menschen trotzdem absolut bei sich sind.

ML: Es ist ja auch die Vorarbeit, das Kennenlernen davor. Aber man muss die Fragen, die man hat, auch über den Haufen werfen - und schon gar keine Antworten erwarten! Das ist der Unterschied zum Journalismus.

MS: Die Teilnehmenden müssen absolut bei sich bleiben können. Es geht um Schutz, damit sie sich öffnen können.

BF: Es geht um die Wahrnehmung des Gegenübers. Wahrnehmung schafft Augenhöhe und Empathie.

ML: Und wirkliches beiderseitiges Interesse!

UF: Die Geschichte des Cellisten Piatigorsky, der im Publikum den großen Pablo Casals erblickte: Der noch unbekannte Piatigorsky war entsetzlich aufgeregt und hatte am Ende das Gefühl, schlecht gespielt zu haben. Casals sagte aber nach dem Konzert zu ihm, er hätte sehr gut gespielt. Piatigorsky empfand das als falsches Lob und war gekränkt. Jahre später sprach er Casals darauf an; der bekräftigte das Lob, da er ganz genau wahrgenommen hatte wie anders und besonders die Fingersätze und der Bogenstrich von Piatigorsky an manchen Stellen gewesen waren. Man muss ja in jemand anderem etwas erkennen können! Umgekehrt hat jeder Mensch die Sehnsucht danach, selbst erkannt zu werden.

MS: Es geht um die Zeit, die man sich gegenseitig widmet: Ich verbringe viel Zeit mit den Menschen. Die längste Zeit sind sie aber dann gar nicht mehr da, und ich befasse mich mit dem gesammelten Material. Diese Menschen bewohnen mich. Jetzt im März treffe ich hundert Menschen zum zweiten Mal für »Jetzt & Jetzt«. Ich muss hundert Zimmer in mir schaffen, wo sie temporär einziehen. Wenn Porträt und Schnitt fertig sind, können sie wieder ausziehen. Ich kann ja nicht immer mit ihnen leben!

BF: In euren Arbeiten ist alles »szenisch«, das ist die Nähe zum Theater, zum Drama. Wie entsteht die Dramaturgie beim Drehen selbst, also vor der Komposition im Schneideraum?

ML: Wir lauern bei der Dreharbeit auf alles Situative.

UF: Interessant sind die Dinge, die nach den eigentlichen Gesprächen passieren, sozusagen beim Ausatmen: Da muss man dranbleiben, das ist wertvolles Material!

MS: Ich sage meinen Mitarbeitenden immer, sie dürfen auf keinen Fall die Stopptaste drücken, solange wir noch im Raum sind. Beim Aufbrechen sagen dann manche Teilnehmenden plötzlich noch die entscheidenden Sätze.

BF: Gibt es in eurer Kunst so etwas wie eine Ur-Szene, zu der ihr immer wieder zurückkehrt?

UF: Man arbeitet sich im Grunde immer an einem Thema ab. Am Filminstitut in Köln, wo ich Studentin war, sah ich am ersten Tag an die Mauer gesprüht: JAMMERLAPPEN. Das fand ich grandios. Später wurde das übertüncht. In meinem ersten Film ging es dann um Erinnern und Verschwinden, und ich fragte die Leute, ob sie sich an diese Schrift erinnern könnten. Kaum jemand konnte es, und ich fühlte mich sehr einsam. Dann aber kam einer und sagte, er erinnere sich, da hätte gestanden: JAMA LA LAPP, aber er wisse nicht, was das bedeute. Als Michael und ich 25 Jahre später dann zusammen den Opel-Film gemacht haben, gab es diesen Moment, da nur noch die Schatten der Buchstaben OPEL am Gebäude zu sehen waren, da man die Schrift mit der Schließung des Werks abmontiert hatte.

ML: Im EL-DE-Haus in Köln (benannt nach seinem Erbauer Leopold Dahmen) war zwischen 1935 und 1945 die Gestapo, im Keller waren die Zellen. Nach dem Krieg sagte man mit deutscher Gründlichkeit: Die Inschriften der Gefangenen da schön übermalen, im Haus bringt man das Rentenamt unter, und im Keller kommen die Akten rein. Ich habe einen Film darüber gemacht, wie sich eine Bürgerinitiative bemüht hat, das Ganze zu einer Gedenkstätte zu machen. Dann kamen die Restauratoren, haben im Keller alles abgekratzt - und man konnte die Inschriften der Gefangenen wieder lesen. Es geht in unserer Arbeit in vielfältiger Weise immer ums Verschwinden und Erinnern.

MS: Meine Ur-Szene hat mit meiner Großmutter zu tun. Am Ende ihres Lebens wiederholte sie ihre Erzählungen zunehmend. Aber es kam doch immer wieder ein Detail dazu. Ihr alter zittriger Zeigefinger fuhr in der Luft auf einer imaginären Landkarte um ganz Afrika herum, das beschrieb ihre Reise, damals in der Umrundung noch billiger als durch den Suez-Kanal, den sie mit einer schnellen Fingerbewegung markierte. In ihrem ganzen Körper, besonders in diesem zittrigen Finger, steckte die gesamte Gegenwart der Vergangenheit. Ich fragte mich: Was ist dran an dieser Geschichte? Ich habe einen Umweg genommen. Es dauerte 20 Jahre, bis ich selbst die Reise dahin unternahm, wo meine Großmutter gewesen war. Davor habe ich 300 Leute gefragt, was sie von ihren Großeltern wissen.
Mir wurde dadurch klar, dass ein Porträt von einem selbst entsteht, wenn man von seinen Großeltern spricht. Die Frage, um die es letztlich geht, ist: Was ist eigentlich wichtig für unser Leben?