UF: Die Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Job ausführt, ihn liebt und uns ohne Wenn und Aber daran teilhaben lässt! Ein Kümmerer. Das wird aber nicht bewertet oder hochstilisiert, ist also womöglich nicht »heldenhaft«. Held:innen bekommen ja immer die Bestnote, sie werden ständig bewertet.
Unsere Protagonist:innen sind alles andere als ausgewogen oder perfekt.
ML: Es geht nicht um Heldentum, aber sehr wohl um starke Persönlichkeiten. Man nimmt den Menschen die Dinge ab, sie sind nicht künstlich.
BF: Im Theater ist es umgekehrt: Tollen Schauspieler:innen nimmt man dann alles ab, wenn sie am künstlichsten sind. Das »Echte« ist ja gespielt. Ein Wesensmerkmal der Renaissance war die perfekte Mischung aus Sein und Spiel.
UF: Durch die Anwesenheit der Kamera ist bei uns im Grunde auch alles künstlich: Da stehen ja das Team, die Kamera, manchmal Licht. Es ist eine Art Verabredung! Es geht darum, vor Ort eine Intensität zu schaffen und zu erreichen, dass die Menschen trotzdem absolut bei sich sind.
ML: Es ist ja auch die Vorarbeit, das Kennenlernen davor. Aber man muss die Fragen, die man hat, auch über den Haufen werfen - und schon gar keine Antworten erwarten! Das ist der Unterschied zum Journalismus.
MS: Die Teilnehmenden müssen absolut bei sich bleiben können. Es geht um Schutz, damit sie sich öffnen können.
BF: Es geht um die Wahrnehmung des Gegenübers. Wahrnehmung schafft Augenhöhe und Empathie.
ML: Und wirkliches beiderseitiges Interesse!
UF: Die Geschichte des Cellisten Piatigorsky, der im Publikum den großen Pablo Casals erblickte: Der noch unbekannte Piatigorsky war entsetzlich aufgeregt und hatte am Ende das Gefühl, schlecht gespielt zu haben. Casals sagte aber nach dem Konzert zu ihm, er hätte sehr gut gespielt. Piatigorsky empfand das als falsches Lob und war gekränkt. Jahre später sprach er Casals darauf an; der bekräftigte das Lob, da er ganz genau wahrgenommen hatte wie anders und besonders die Fingersätze und der Bogenstrich von Piatigorsky an manchen Stellen gewesen waren. Man muss ja in jemand anderem etwas erkennen können! Umgekehrt hat jeder Mensch die Sehnsucht danach, selbst erkannt zu werden.
MS: Es geht um die Zeit, die man sich gegenseitig widmet: Ich verbringe viel Zeit mit den Menschen. Die längste Zeit sind sie aber dann gar nicht mehr da, und ich befasse mich mit dem gesammelten Material. Diese Menschen bewohnen mich. Jetzt im März treffe ich hundert Menschen zum zweiten Mal für »Jetzt & Jetzt«. Ich muss hundert Zimmer in mir schaffen, wo sie temporär einziehen. Wenn Porträt und Schnitt fertig sind, können sie wieder ausziehen. Ich kann ja nicht immer mit ihnen leben!
BF: In euren Arbeiten ist alles »szenisch«, das ist die Nähe zum Theater, zum Drama. Wie entsteht die Dramaturgie beim Drehen selbst, also vor der Komposition im Schneideraum?
ML: Wir lauern bei der Dreharbeit auf alles Situative.
UF: Interessant sind die Dinge, die nach den eigentlichen Gesprächen passieren, sozusagen beim Ausatmen: Da muss man dranbleiben, das ist wertvolles Material!
MS: Ich sage meinen Mitarbeitenden immer, sie dürfen auf keinen Fall die Stopptaste drücken, solange wir noch im Raum sind. Beim Aufbrechen sagen dann manche Teilnehmenden plötzlich noch die entscheidenden Sätze.
BF: Gibt es in eurer Kunst so etwas wie eine Ur-Szene, zu der ihr immer wieder zurückkehrt?
UF: Man arbeitet sich im Grunde immer an einem Thema ab. Am Filminstitut in Köln, wo ich Studentin war, sah ich am ersten Tag an die Mauer gesprüht: JAMMERLAPPEN. Das fand ich grandios. Später wurde das übertüncht. In meinem ersten Film ging es dann um Erinnern und Verschwinden, und ich fragte die Leute, ob sie sich an diese Schrift erinnern könnten. Kaum jemand konnte es, und ich fühlte mich sehr einsam. Dann aber kam einer und sagte, er erinnere sich, da hätte gestanden: JAMA LA LAPP, aber er wisse nicht, was das bedeute. Als Michael und ich 25 Jahre später dann zusammen den Opel-Film gemacht haben, gab es diesen Moment, da nur noch die Schatten der Buchstaben OPEL am Gebäude zu sehen waren, da man die Schrift mit der Schließung des Werks abmontiert hatte.
ML: Im EL-DE-Haus in Köln (benannt nach seinem Erbauer Leopold Dahmen) war zwischen 1935 und 1945 die Gestapo, im Keller waren die Zellen. Nach dem Krieg sagte man mit deutscher Gründlichkeit: Die Inschriften der Gefangenen da schön übermalen, im Haus bringt man das Rentenamt unter, und im Keller kommen die Akten rein. Ich habe einen Film darüber gemacht, wie sich eine Bürgerinitiative bemüht hat, das Ganze zu einer Gedenkstätte zu machen. Dann kamen die Restauratoren, haben im Keller alles abgekratzt - und man konnte die Inschriften der Gefangenen wieder lesen. Es geht in unserer Arbeit in vielfältiger Weise immer ums Verschwinden und Erinnern.
MS: Meine Ur-Szene hat mit meiner Großmutter zu tun. Am Ende ihres Lebens wiederholte sie ihre Erzählungen zunehmend. Aber es kam doch immer wieder ein Detail dazu. Ihr alter zittriger Zeigefinger fuhr in der Luft auf einer imaginären Landkarte um ganz Afrika herum, das beschrieb ihre Reise, damals in der Umrundung noch billiger als durch den Suez-Kanal, den sie mit einer schnellen Fingerbewegung markierte. In ihrem ganzen Körper, besonders in diesem zittrigen Finger, steckte die gesamte Gegenwart der Vergangenheit. Ich fragte mich: Was ist dran an dieser Geschichte? Ich habe einen Umweg genommen. Es dauerte 20 Jahre, bis ich selbst die Reise dahin unternahm, wo meine Großmutter gewesen war. Davor habe ich 300 Leute gefragt, was sie von ihren Großeltern wissen.
Mir wurde dadurch klar, dass ein Porträt von einem selbst entsteht, wenn man von seinen Großeltern spricht. Die Frage, um die es letztlich geht, ist: Was ist eigentlich wichtig für unser Leben?