Frau Stöppler, welche Idee liegt Ich geh unter lauter Schatten, der Eröffnungs-Produktion der Ruhrtriennale 2022, zugrunde?
Elisabeth Stöppler: Grundsätzlich dreht sich diese Produktion um dem Prozess des Sterbens, des Übergangs vom Diesseits in ein Jenseits oder eine andere Sphäre. Wir fragen uns konkret: Ist dieser Moment des Sterbens nur ein kurzer Augenblick, aus dem wir dann woanders aufwachen? Oder beginnt das Sterben und dieses Übergehen eigentlich schon viel früher in unseren jeweiligen Lebensprozessen? Sicherlich je nachdem, ob und wie stark wir uns zu Lebzeiten bewusst machen, dass wir endlich sind. Oder ob wir vor allem versuchen, nur im Hier und Jetzt zu leben und den Tod als Fakt zu verdrängen. Ob wir nur den Moment leben oder uns permanent mit dem Tod konfrontieren, beschreibt bereits zwei Extreme im Umgang mit dem Sterben und zeigt, wie subjektiv dieser ist – deshalb erzählen wir auch in Ich geh unter lauter Schatten die Geschichte von vier Frauen, die auf unterschiedlichste Art und Weise den Übergang nehmen und wagen.
Es werden Kompositionen von u. a. Gérard Grisey zu hören sein. Können Sie uns mehr erzählen?
ES: Der Liedzyklus des Spektralkomponisten Gérard Grisey mit dem Titel Quatre chants pour franchir le seuil – Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten ist musikalisch wie inhaltlich zum Zentrum des Projekts geworden, um das wir verschiedene Musiken von Claude Vivier, Iannis Xenakis und Giacinto Scelsi kreisen lassen. Grisey hat in diesem Liedzyklus nicht nur eine unglaubliche Bandbreite an Texten aufgeworfen, sondern auch eine hochkomplexe Amplitude an unterschiedlichster Emotion, Temperatur, Vision und Sehnsucht in Klang gefasst, die ursprünglich eine Sängerin zu bewältigen hat und die wir nun vier Sängerinnen, den Hauptprotagonistinnen unserer Erzählung, zuschreiben werden.
Welche Rolle spielt die Jahrhunderthalle Bochum für diese Inszenierung?
ES: Die Jahrhunderthalle Bochum in ihrer riesenhaften Dimension wird zum Schattenreich, ähnlich dem Limbo in Dantes Göttlicher Komödie oder dem Hades in der griechischen Mythologie. In diese Unterwelt steigen die vier Frauen hinab und agieren ihr Sterben aus – was für uns bedeutet, dass sie sterben, wie sie gelebt haben, denn eine Grenze ziehen wir da ganz bewusst nicht. Diese Zone der Schatten (repräsentiert von 12 Chorsolist:innen des Chorwerk Ruhr, einem Sprecher und den Musiker:innen des Klangforum Wien) ist diffus, grenzenlos, ein weitläufiges Nichts. Wir haben also nach einem Bühnenraum gesucht, der aus nichts besteht. Und uns entsprechend mit dem konkreten Spielort auseinandergesetzt...
Hermann Feuchter: Wir versuchen, die Elemente der Halle in unseren Aufbau mitaufzunehmen: Stahl, Eisen, Gitter. Es wird vier monumentale Stege für die vier Frauen geben, Transitwege in das Schattenreich, das es zu erkunden gilt. Das Theater kann dieses Unvorstellbare, kann es schaffen, den Zustand dieses Übergangs, von dem wir alle nichts wissen, zu simulieren, darzustellen. Anhand von vier Frauen zeigen wir, was uns alle berührt: Sie gehen den Weg, den wir alle vor uns haben, und der für jede:n doch wieder anders sein wird. Die Metall-Streben der Stege sind dabei keine Theaterdekoration, kein Bühnenbild, sondern reale, materialisierte Richtungen, auf denen sich Menschen auf den Weg machen.
ES: Wenn man lange genug hinsieht, bekommt man vielleicht das Gefühl, dass die Halle in sich zusammenfällt, dass sie aus sich heraus in eine weitere Dimension morpht, wie bei einer Wahrnehmungsstörung, einer Perspektivverschiebung...
Diese eröffnende Produktion der Ruhrtriennale 2022 wird also in vielerlei Hinsicht sehr besonders?
HF: Es wird ein anspruchsvoller, ganz eigener Klangraum, keine Frage. Es wird darin nichts an Routine geben, sondern in allen Bereichen, visuell, szenisch, akustisch, die Grenzen des Machbaren, Hörbaren, Sichtbaren abgeschritten. Wir wollen versuchen, eine Singularität herzustellen mit dieser Kreation, die es nur so in diesem Raum an diesem Ort geben kann.
Die Musik versetzt uns, wenn wir uns auf sie einlassen, in Schwingung. Wir sind ein Teil davon, wir alle. Und wagen den Schritt ins Unbekannte, ins Nichts, in etwas völlig Neues.
Ich geh unter lauter Schatten, ab 11. August 2022, Jahrhunderthalle Bochum