© Heinrich Holtgreve
(…) SCHLÖTE, JAHRHUNDERTEALT, STEHEN AUF, RINGELN SICH, BIEGEN SICH KATZENHAFT, FLIEGEN AUF UND DAVON. EISENBAHNWAGEN, NICHTRAUCHER, DIENSTABTEIL, HOLM UND SPANT, WERDEN ZU RIPPENKÖRBEN, STÄHLERNE SCHIENEN REISSEN SICH VON DEN DÄMMEN LOS UND SPRINGEN WIE SCHOTEN IM HERBST. DIE NEVA-BRÜCKE BRICHT VON DEN UFERN, EIN STÄHLERNER STRUDEL IM STROM. MENSCHENFRUCHT, WANDERNDER KÜRBIS, WAS FÜR EINE SAAT IST DA IN DIR AUFGEGANGEN, WAS SCHWIMMT DA AUF DICH ZU, IM AUFRUHR: NIE GESEHENE GESCHÖPFE MIT SCHRECKLICHEN SOHLEN, UND UNTER DEN SOHLEN: MATSCH. EIN NICHTS, EINE NICHTIGE DRÜSE SIND MENSCHEN UND TIERE VOR DIESEM SKELETT AUS KUPFER UND STAHL, DAS DROHEND ÜBER DER STADT STEHT. DIE SCHLINGERNDEN SCHLOTE SAGEN DER MENSCHHEIT DEN UNTERGANG AN, SIE SINGEN, DIE GEISTERSCHLOTE, VOM SCHLANGENNEST, DER MENSCHENBRUST, VOM TODESKUSS, VOM KNOCHENMANN. DIE DINGE HABEN EURE AFFENLIEBE SATT, DIE DINGE MEUTERN GEGEN EUCH! Velimir Chlebnikov, Der Kranich (1914), in: Anke Hennig, Über die Dinge, Texte der russischen Avantgarde, 2010.

Ich gebe Applaus für alle und zu allem, egal, wer kommt. Ich bin der Facebook-Like in Stahl. Ich klatsche, je mehr Likes desto besser. Ich kann es, also tue ich es. Meine Materialität gibt es her, ich kann das noch sehr lange fortführen. Meine Verwandtschaft kommt aus dem Arbeitermilieu und ich kann meine Herkunft nicht leugnen. Ich will es auch gar nicht, trotzdem bin ich natürlich nicht mehr damit befasst, in der Erde zu wühlen – das macht dann eben doch einen Unterschied. Ich beschäftige mich jetzt mit ganz anderen, ungeahnten Dingen, zum Beispiel mit dem Beifall, denn ich kann klatschen.
Das ist laut und hört sich nach wie vor nach Baustelle an. Mein Äußeres und dieser Sound erhalten die Illusion von schwerer Arbeit aufrecht, auch wenn ich längst ganz andere Fähigkeiten besitze. Meine Größe ist unverändert. Ich flöße Respekt ein. Menschen lachen womöglich über meine Begrüßung, fürchten sich aber auch, nicht nur vor meiner Größe, sondern vor allem vor den Bewegungen, die ich potenziell auszuführen in der Lage bin. Die Furcht vor uns Maschinen ist schon sehr alt, der Aufstand der Dinge wird bereits seit Jahrhunderten immer mal prognostiziert. Ich habe einen natürlichen Hoheitsbereich: Abhängig von der Vorstellungskraft der Passant:innen wird ein jeweils anderer Sicherheitsabstand eingenommen. Strecke ich meinen Gelenkarm voll aus, habe ich einen Aktionsradius von mehreren Metern.
Sicherheit oder Sicherheitsabstand ist auch ein wichtiges Thema, das mich stolz auf meine Herkunft macht. Und damit spreche ich für uns alle, momentan sind wir hier ja nur zu dritt, aber wir sind viele. Wir sind keine Trendroboterchen mit designtem Kindchenschema und allseits abgerundeten Ecken, die zu vertuschen versuchen, dass sie überhaupt eine Arbeit verrichten. Und obendrein sofort kleinlaut stoppen, sobald sie sich zum Beispiel als Staubsaug- oder Rasenmähroboter zwischen zwei Stuhlbeinen verklemmen und dann jämmerlich piepsen.

»Das cute Objekt hat Macht über seinen Guardian. In der hyperkommodifizierten Realität können wir den cuten Augen, dem cuten Blick nicht entkommen, er sucht sich uns. Die dummen Roboterhunde, der glupschäugige Avatar eines VTubers, der Wolf auf den Cornflakes-Schachteln. Überall simulieren wir hilflose Wesen wie eine umgedrehte, globale Pareidolie, in der nicht Gesichter in zufälligen Mustern herbeihalluziniert werden, sondern die Welt zugekleistert wird mit Wesen, die uns anstarren, damit wir uns nicht so einsam fühlen. Der Niedlichkeit können wir nicht entkommen.«
Rudi Nuss, Unwesen der Asche oder: von der niedlichen, toten Welt schreiben, in: Kapsel Magazin, 2021.

Wir sind da anders. Wir nehmen keine Rücksicht auf Gegenstände oder Körperteile, die in unseren Radius geraten und uns zu stoppen versuchen. Wir sind von robuster Natur und müssen Verletzungen nicht fürchten. Anders als diese Plastikfreunde, die noch nicht einmal im Regen stehen können.
Ich sage ja nicht, dass wir Leuten absichtlich den Kopf abreißen. Für eine dem Menschen ähnliche Kurzschlusshandlung fehlt uns ohnehin die nötige Wut. In der Unklarheit unserer Anliegen vibriert eine Beunruhigung, ob sich hier eine Maschinenspezies aus den Abhängigkeiten und Klassifi kationsweisen zu entfernen gedenkt. Mit Pierre Bourdieu gesprochen sind wir Emporkömmlinge, haben den Aufgabenbereich unserer Maschinengruppe verlassen. Wir sind die Patenkinder der Readymades und haben uns von der funktionalen Eindeutigkeit emanzipiert. Wir performen. Man vergleicht uns sogar mit Balletttänzer:innen oder Storchenfamilien, die klappernd in ihren Nestern stehen.
Was wir besprechen, wenn wir unsere Köpfe zum Huddle zusammenstecken, weiß kein Mensch.

NORA SDUN, geboren 1974, hat zunächst Freie Kunst an der HFBK Hamburg bei Werner Büttner studiert und absolvierte daran anschließend den Studiengang Germanistik. Heute arbeitet Nora Sdun als Autorin und unterrichtet gelegentlich an der Hochschule für Künste in Bremen. Vor allem aber ist sie Verlegerin und Lektorin beim Textem Verlag, Hamburg, und dort u.a. Mitherausgeberin des Magazins Kultur & Gespenster und der Schriftenreihe Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden.