JD: In deinen Partituren sind den Stücken oft Textzitate vorangestellt, die nicht wörtlich auskomponiert sind. Vor Tür steht beispielsweise: »Je länger man vor einer Tür zögert, desto fremder wird man.« Franz Kafka
SN: Die Texte begleiten mich in unterschiedlichen Intensitäten für den Zeitraum des Komponierens. Ihr Einfluss muss dann nachher aber gar nicht immer für das Publikum re-interpretierbar sein. Bestimmte literarische Figuren wie Virginia Woolf oder Sylvia Plath sind schon lange wichtig für mich. Auch ihre Biografien als weibliche Künstlerinnen gehen mir nahe. Mich auf sie zu beziehen, war für mich, als ich den Zyklus vor zehn Jahren begonnen habe, auch ein feministischer Ansatz. Seither hat sich viel getan, ich habe viel dazugelernt und bin – auch durch die Begegnung mit Heinrich – viel aufmerksamer geworden für queere Positionen.
HH: Wenn ich eine Choreografie entwickle, fange ich auch immer bei einem Textimpuls an oder bei Referenzen anderer Künstler:innen. Diese Ausgangspunkte verbinden sich für mich wieder in Richtung Improvisation und Begegnung. Auch in deinen Arbeiten empfinde ich die Textzitate nie als starre Definition oder Programm. Im Gegenteil habe ich das Gefühl, dass du damit viele Assoziationsräume öffnest.
JD: In diesem Musiktheater gibt es keine Sängerdarsteller:innen. In HAUS konzentriert sich die theatrale Performance auf die Instrumentalist:innen.
HH: In meiner Regiearbeit interessieren mich die »unprofessionellen« Körper, weil sie durch sich selbst sprechen, in ihrer eigenen Form. Körper durchbrechen Zeit- und Raumachsen und das gibt ihnen das Potenzial, sich zu transformieren. Diese Haltung hat für mich viel mit Gender zu tun, denn ich suche nicht nach Zuschreibungen, sondern nach diversen Ausdrucksmöglichkeiten, die den Körper befähigen, sich von einem Habitus zu lösen. In HAUS werde ich choreografisch mit einer Art von Glitch (Anm. d. Red. »Fehler« oder »Makel«; ein im queer-feministischen Diskurs positiv aufgeladener Begriff) arbeiten. Ich frage mich, wo die Reibung in unser aller Körper ist, die Leerstelle, und wie man diese zu einer eigenen Sprache ermächtigen kann. Damit setzte ich mich auf eine Art auch mit den versehrten Maschinisten an den Turbinen auseinander, von denen Henriette gesprochen hat: Menschen, die vielleicht nicht mehr voll funktionstüchtig waren, aber neue Bewegungsstrukturen erfunden haben. Diese Stärke will ich freilegen. Auf der anderen Seite interessiert mich das Kollektiv, das Ensemble, die Vereinheitlichung. Was teilen wir? Was ist Gemeinschaft? Eine Gemeinsamkeit? Wie können die Organismen sich vereinigen – wie vervielfältigen? In der Choreografie werden sie zu Protagonist:innen der Zukunft.
JD: In deinem Artikel Alienation and Queer Discontent stellst du, Henriette, queere künstlerische Strategien vor, (hetero-)normative Zeitkonstruktionen zu erschüttern. Könnte sich das auch in HAUS einlösen?
HG: Die Desorientierung scheint mir in diesem Projekt auf mehreren Ebenen ein zentrales Element zu sein. Zum Beispiel entsteht sie durch die Videoarbeit, indem der Raum verdoppelt, verschoben, gedreht wird. Die Desorientierung bringt nicht nur unsere vermeintlich stabile Blickstruktur durcheinander, sondern auch eine Wahrnehmung von Zeitlichkeit. Der Blick auf den Horizont stabilisiert unsere Betrachter:innenposition auf eine Zukunft hin. Unsere gewohnten Blickachsen sind häufig durch koloniale Positionen definiert, wie Hito Steyerl in ihrem Artikel In Free Fall: A Thought Experiment on Vertical Perspective schreibt. Im Moment der Desorientierung bricht etwas auf, das uns zwingt, unsere Umgebung anders wahrzunehmen und uns anders zu bewegen. Das beinhaltet auch ein anderes Hören, denn die Desorientierung führt immer zu einem bewussteren Verhältnis zum In-der-Welt-Sein. Das macht sich dieses Projekt in vielerlei Hinsicht zunutze, etwa, indem ihr das Setting selbst, die Wände, Geräte und herumliegenden Maschinenteile erklingen lasst. Gerade im Bereich der Infrastruktur ist Desorientierung eine interessante Methode: Wie kann man das, was sich unserem Auge oder Ohr entzieht, hör- und sichtbar machen? Also das infra (lat. »unterhalb«) ernst nehmen und diesem nachspüren? Da gibt es natürlich Grenzen, aber ich glaube, das ist auch genau das, was dich interessiert, Sarah, dass eben nicht immer alles erfassbar ist, dass es immer etwas gibt, das sich unserem Wissen entzieht. Eure aufgelöste Raumsituation schafft Angebote, den Raum anders wahrzunehmen und sich darin auch zu bewegen.
JD: Die Cyborg-Identität – ein Mischwesen aus Maschine und menschlichem Organismus – finde ich auch in Sarahs Musik wieder, die oft die Grenzen menschlich-analoger Klangerzeugung mit den Mitteln der elektronischen Musik zusammenlötet.
SN: Das Hybride interessiert mich sehr. Das hat schon bei Zimmer begonnen, in dem die Harfe durch ein Kaosspad verfremdet wird. Es entsteht etwas, das nicht mehr ganz Harfe, aber auch nicht rein elektronische Musik ist, sondern irgendwas dazwischen. Das Undefinierte gefällt mir sehr, insbesondere, weil an Instrumenten in der Regel eine nicht unbedingt immer schöne Kulturgeschichte hängt, die man unfreiwillig miterzählt. Durch elektronische Verfremdung kann man sie umdeuten. Analoge Effektgeräte wie das Kaosspad finde ich auch deshalb toll, weil sie intuitiv von den Musiker:innen bedient werden können. Anders als hochkomplexe Live-Elektronik, für die man eine extra Ausbildung braucht. Wenn die Geräte innerhalb des Kammermusikrahmens gespielt werden, hat das für mich auch etwas Rebellisches.
Das neue Stück Halle wird auf die Geschichte der Turbinenhalle Bezug nehmen. Der Pianist / Keyboarder / Synthesizerspieler Sebastian Berweck hat mich auf das virtuelle Instrument, den digitalen Synthesizer »Mysteria« aufmerksam gemacht, der mit Stimm-Samples und Chören bestückt ist, die man zum Beispiel verfremden oder damit androgyne Stimmen schaffen kann. Ich denke an einen vielstimmigen Geisterchor der Menschen, die an diesem Ort gearbeitet haben. Auch mich interessiert das Dysfunktionale, weil es sehr menschlich ist. Nach meiner Erfahrung steckt in dem, was gesellschaftlich als Schwäche aufgefasst wird, oft ein besonderes Kraftzentrum.
JD: Den Makel zur Superkraft aufzuwerten, um sich aus einer marginalisierten Position heraus zu behaupten, bedarf kreativer Zukunftsvisionen. Ein Tool, das in einer extremen Form in afrofuturistischen Erzählstrategien und Ästhetiken Anwendung findet, an denen du, Henriette, schwerpunktmäßig forschst. Siehst du da Anknüpfungspunkte?
HG: Ich musste eben daran denken, dass der Synthesizer ein ganz wichtiger Träger der afrofuturistischen Vision ist, der bei Sun Ra zum Beispiel mit dem Jazz oder bei George Clinton mit dem Funk fusioniert und in diverse Musikrichtungen ausgestrahlt hat. Den Afrofuturismus macht ein nicht-lineares Zeitverständnis aus. Das unterscheidet ihn von anderen Futurismen, die nur nach vorne blicken wollen. Der Afrofuturismus besteht darauf, dass die Vergangenheit Teil der Zukunft ist.
Unter Einbezug der spektralen Vergangenheit ist HAUS in meinen Augen auch ein futuristisches Projekt, weil es ein Begehren danach gibt, den Raum zu transformieren, damit er offen wird für alle, ohne Ausgrenzung. Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen utopischem Denken und politischem Agieren, aber die Imagination ist ein erster Schritt. Sarah schreibt in ihren Notizen zu den Stücken auch davon, Räume zu träumen. Auch in dem in der Partitur zitierten Gedicht Dark House von Sylvia Plath geht es darum. In der künstlerischen Imagination wird bereits ein Prozess der Transformation aktiviert. Das Einreißen der Wände geschieht in der Imagination von etwas Zukünftigem, hat aber bereits Auswirkungen auf das Jetzt. Es ist eine Intervention im Heute.
JD: Du hast auch geheime Räume komponiert, Sarah. Willst du uns einweihen?
SN: Es gibt zwei akustische Verstecke. In Amplified Imagination hat die Flötistin Kopfhörer auf, worüber eine verfremdete Bach-Collage abgespielt wird, sodass sie ihr eigenes Spiel nicht hört. Sie kann sich nur vorstellen, wie sie klingt, und kann es aber nicht kontrollieren. Andererseits kann das Publikum nicht hören, was sie hört. Einsamkeit und Vereinzelung thematisiere ich oft in meinen Stücken. In HAUS hat der Schlagzeuger seinen eigenen Raum hinter dem Donnerblech, in dem er Bilder und Fotos sieht, die er zum Teil auch mittels Live- Kamera nach außen bringt. Geheime Innenräume hat jeder: Gedanken, Gefühle und Erinnerungen im Verborgenen, die man nicht teilen kann, aber vielleicht gerne mitteilen würde. Das ist jedoch auch ein Schutzraum, ein Rückzugsort, um im Positiven allein sein zu können.
* Heinrich Horwitz bei einem Konzeptionstreffen