Film Still: Valeria Kafelnikov
Film Still: Valeria Kafelnikov | © Rosa Wernecke

Komponistin Sarah Nemtsov und Regisseur:in Heinrich Horwitz im Gespräch über das Musiktheaterprojekt HAUS mit Henriette Gunkel, Professorin am Lehrstuhl Transformationen audiovisueller Medien unter der besonderen Berücksichtigung von Gender und Queer Theory (Ruhr-Universität Bochum), moderiert von Dramaturgin Johanna Danhauser.

Johanna Danhauser (JD): Der HAUS-Zyklus ist nicht aus einem Guss, sondern über Jahre hinweg entstanden.

Sarah Nemtsov (SN): HAUS ist gewuchert. Es fing 2013 mit Zimmer I–III für das Ensemble Adapter an, und immer, wenn ich dachte, jetzt ist es abgeschlossen, kamen neue Wendungen und Ebenen dazu. Mit der Einladung in die Turbinenhalle und der Inszenierung von Heinrich Horwitz haben sich neue Räume aufgetan. Dafür komponiere ich gerade die Stücke Halle, Keller, Flur und Luke. Auch die schon bestehenden Teile erhalten neue Bedeutungszusammenhänge, selbst wenn die Noten gleich bleiben. Das Werk transformiert sich durch die Personen, mit denen ich in unterschiedlichen Phasen daran gearbeitet habe und wird wahrscheinlich auch durch das Publikum nochmal ganz anders aufgeladen werden.

JD: Es ist widersprüchlich, eine ehemalige Industriehalle als HAUS zu bezeichnen, denn der Ort ist alles andere als intim, häuslich oder privat. In Sarahs Komposition bleibt das HAUS ein abstraktes Gebilde. Wie löst du, Heinrich, diese Metapher in deinem Regiekonzept auf?

Heinrich Horwitz (HH): In meinen Arbeiten suche ich einen queer-feministischen Ansatz. Das Haus wird im bürgerlichen Verständnis oft dem Konzept der Kleinfamilie zugeordnet: Küche, Bad, Schlaf-, Wohn- und Kinderzimmer. Das wollen wir aufbrechen. Im queeren Kontext gibt es andere Visionen von Zuhausesein: Orte, an denen Begegnungen, Austausch, Care und ein feministischer Kampf stattfinden können. Doch diese Orte haben in den Pandemiejahren sehr gelitten.
Die Geschichte gibt Beispiele von verlassenen Orten, die aus Mangel an Alternativen von queeren Communites mit neuer Vitalität besetzt wurden. Ich denke etwa an die Piers in New York, wo sich die Gay-PoC Community zum Cruisen getroffen hat. Das Vakuum der Industriebrache weckt in mir ein Begehren, eine Begegnungsstätte oder ein Zuhause für marginalisierte Gruppen zu stiften. Im Rückgriff auf Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein wollen wir auch auf das feministisch erkämpfte Recht verweisen, als Frau einen Ort zum Arbeiten zu haben.
Indem Kunst und Kultur an diesen ehemaligen Produktionsstätten Einzug gehalten haben, finden darin ohnehin schon Transformationsprozesse statt. Der Raum mutiert immer wieder neu. Das ist eine Dynamik, die ich in der Inszenierung weitertreiben und auf eine queere Idee von Transformation und Cyberfeminismus übertragen will. Wir begreifen das Gebäude als Körper, den wir aufreißen, umstrukturieren und umbauen. In unserem Konzept steht HAUS für den Trans-Körper – wir reißen ihn auf, sortieren ihn neu, fügen Unbekanntes zusammen. In den Löchern, den Schnitten und Leerstellen können neue Räume imaginiert werden, neuen Körpern und ihren Welten Platz geschaffen werden.

SN: In gewisser Weise ist der Zyklus auch musikalisch ein fluider Körper, der in verschiedenen Formen auftauchen, sich präsentieren und wieder neu zusammengesetzt werden kann.

Henriette Gunkel (HG): Die Turbinenhalle befindet sich in einer Region im strukturellen Wandel. Ehemalige Industriegebäude künstlerisch zu besetzen oder umzunutzen, ermöglicht die Öffnung, Aneignung und Überschreibung von Raum. Euer Konzept finde ich im Kontext des Ruhrgebiets interessant, weil es eben nicht darum geht, einen frischen Anstrich zu verpassen, um leichte Verschiebungen, sondern um grundlegende Transformationsprozesse. Die Frage, ob Reparatur
überhaupt möglich ist, nachdem man machtvoll und zerstörerisch in die Natur oder eine Kultur eingegriffen hat, ist komplex und zeigt sich unter anderem in den hiesigen Renaturalisierungsansätzen. Sie wird aber auch in den Black Studies im Kontext der Sklaverei und im Postkolonialismus gestellt.
Im Rückblick waren der Bergbau und die gigantische Stahlindustrie des Ruhrgebiets ein futuristisches Industrieprojekt, in dem auch eine Gewaltgeschichte steckt. Der Bochumer Verein hat von Zwangsarbeiter:innen profitiert, hinzu kommen migrantische Arbeitserfahrungen und Arbeitsunfälle. In der Turbinenhalle wurden vermehrt invalide Arbeiter eingesetzt, weil es dort Maschinen gab, die auch mit körperlichen Einschränkungen bedienbar waren.
Deshalb steht das Abreißen und der damit intendierte Neuanfang für mich im Spannungsfeld mit der Frage, wie man mit den im Raum gespeicherten Erfahrungen umgeht. Wie lässt sich dieser untoten Zeugenschaft nachspüren und sie in die Zukunft mitnehmen?

HH: Ich will das Publikum sinnlich aktivieren. Deshalb werden die Zuschauer:innen das HAUS in einem explorativen Teil zunächst eigenständig durchlaufen, entdecken und durchkreuzen können. Ich finde es wichtig, dass es zu einem Ort der Gemeinschaft wird, in dem Blick- und Bewegungsrichtung selbstständig entschieden werden können.

HG: Das Prozesshafte scheint bei euch zentral zu sein, auch wenn es zumindest musikalisch nicht direkt um Improvisation geht.

HH: Improvisation steckt für mich in jeder Form der künstlerischen Interpretation. Es geht ja nicht nur um die Erfüllung von dem, was da auf dem Notenpapier steht, sondern darum, etwas zum Leben zu erwecken. Das ist ein Gespräch oder ein Teilen von Wissen, eine feministische Geste des Beisammenseins.

SN: Auch wenn ich eine feste Notation vorgebe, interessiert mich die Freiheit des Musizierens selbst: das, was durch die individuelle Interpretation entsteht. Es bereichert mich zu erleben, wie unterschiedlich Solist:innen oder Ensembles meine Werke spielen, wie anders die Energie eines Stücks sein kann, ohne dass etwas richtig oder falsch wäre.

JD: In einigen Werken provozierst du die Verschiebung richtiggehend: Zum Beispiel können die Stücke Zimmer I und Zimmer II entweder nacheinander oder gleichzeitig als Schichtung aufgeführt werden. Außerdem ergeben sich im installativen Teil zu Beginn des Abends zufällige Korrespondenzen zwischen den Soundstationen im Raum.

SN: Die Schichtung interessiert mich als eine Art musikalische Metapher für unsere geschichtete Wirklichkeit, die Gleichzeitigkeit verschiedener Welten, das Virtuelle, Reale, Innere, Äußere, das Nebeneinander, auch das Urbane. Kompositorisch entsteht da eine besondere Form des Kontrapunkts.

HAUS IST EIN FLUIDER KÖRPER, DER IN VERSCHIEDENEN FORMEN AUFTAUCHEN, SICH PRÄSENTIEREN UND WIEDER NEU ZUSAMMENGESETZT WERDEN KANN. Sarah Nemtsov

JD: In deinen Partituren sind den Stücken oft Textzitate vorangestellt, die nicht wörtlich auskomponiert sind. Vor Tür steht beispielsweise: »Je länger man vor einer Tür zögert, desto fremder wird man.« Franz Kafka

SN: Die Texte begleiten mich in unterschiedlichen Intensitäten für den Zeitraum des Komponierens. Ihr Einfluss muss dann nachher aber gar nicht immer für das Publikum re-interpretierbar sein. Bestimmte literarische Figuren wie Virginia Woolf oder Sylvia Plath sind schon lange wichtig für mich. Auch ihre Biografien als weibliche Künstlerinnen gehen mir nahe. Mich auf sie zu beziehen, war für mich, als ich den Zyklus vor zehn Jahren begonnen habe, auch ein feministischer Ansatz. Seither hat sich viel getan, ich habe viel dazugelernt und bin – auch durch die Begegnung mit Heinrich – viel aufmerksamer geworden für queere Positionen.

HH: Wenn ich eine Choreografie entwickle, fange ich auch immer bei einem Textimpuls an oder bei Referenzen anderer Künstler:innen. Diese Ausgangspunkte verbinden sich für mich wieder in Richtung Improvisation und Begegnung. Auch in deinen Arbeiten empfinde ich die Textzitate nie als starre Definition oder Programm. Im Gegenteil habe ich das Gefühl, dass du damit viele Assoziationsräume öffnest.

JD: In diesem Musiktheater gibt es keine Sängerdarsteller:innen. In HAUS konzentriert sich die theatrale Performance auf die Instrumentalist:innen.

HH: In meiner Regiearbeit interessieren mich die »unprofessionellen« Körper, weil sie durch sich selbst sprechen, in ihrer eigenen Form. Körper durchbrechen Zeit- und Raumachsen und das gibt ihnen das Potenzial, sich zu transformieren. Diese Haltung hat für mich viel mit Gender zu tun, denn ich suche nicht nach Zuschreibungen, sondern nach diversen Ausdrucksmöglichkeiten, die den Körper befähigen, sich von einem Habitus zu lösen. In HAUS werde ich choreografisch mit einer Art von Glitch (Anm. d. Red. »Fehler« oder »Makel«; ein im queer-feministischen Diskurs positiv aufgeladener Begriff) arbeiten. Ich frage mich, wo die Reibung in unser aller Körper ist, die Leerstelle, und wie man diese zu einer eigenen Sprache ermächtigen kann. Damit setzte ich mich auf eine Art auch mit den versehrten Maschinisten an den Turbinen auseinander, von denen Henriette gesprochen hat: Menschen, die vielleicht nicht mehr voll funktionstüchtig waren, aber neue Bewegungsstrukturen erfunden haben. Diese Stärke will ich freilegen. Auf der anderen Seite interessiert mich das Kollektiv, das Ensemble, die Vereinheitlichung. Was teilen wir? Was ist Gemeinschaft? Eine Gemeinsamkeit? Wie können die Organismen sich vereinigen – wie vervielfältigen? In der Choreografie werden sie zu Protagonist:innen der Zukunft.

JD: In deinem Artikel Alienation and Queer Discontent stellst du, Henriette, queere künstlerische Strategien vor, (hetero-)normative Zeitkonstruktionen zu erschüttern. Könnte sich das auch in HAUS einlösen?

HG: Die Desorientierung scheint mir in diesem Projekt auf mehreren Ebenen ein zentrales Element zu sein. Zum Beispiel entsteht sie durch die Videoarbeit, indem der Raum verdoppelt, verschoben, gedreht wird. Die Desorientierung bringt nicht nur unsere vermeintlich stabile Blickstruktur durcheinander, sondern auch eine Wahrnehmung von Zeitlichkeit. Der Blick auf den Horizont stabilisiert unsere Betrachter:innenposition auf eine Zukunft hin. Unsere gewohnten Blickachsen sind häufig durch koloniale Positionen definiert, wie Hito Steyerl in ihrem Artikel In Free Fall: A Thought Experiment on Vertical Perspective schreibt. Im Moment der Desorientierung bricht etwas auf, das uns zwingt, unsere Umgebung anders wahrzunehmen und uns anders zu bewegen. Das beinhaltet auch ein anderes Hören, denn die Desorientierung führt immer zu einem bewussteren Verhältnis zum In-der-Welt-Sein. Das macht sich dieses Projekt in vielerlei Hinsicht zunutze, etwa, indem ihr das Setting selbst, die Wände, Geräte und herumliegenden Maschinenteile erklingen lasst. Gerade im Bereich der Infrastruktur ist Desorientierung eine interessante Methode: Wie kann man das, was sich unserem Auge oder Ohr entzieht, hör- und sichtbar machen? Also das infra (lat. »unterhalb«) ernst nehmen und diesem nachspüren? Da gibt es natürlich Grenzen, aber ich glaube, das ist auch genau das, was dich interessiert, Sarah, dass eben nicht immer alles erfassbar ist, dass es immer etwas gibt, das sich unserem Wissen entzieht. Eure aufgelöste Raumsituation schafft Angebote, den Raum anders wahrzunehmen und sich darin auch zu bewegen.

JD: Die Cyborg-Identität – ein Mischwesen aus Maschine und menschlichem Organismus – finde ich auch in Sarahs Musik wieder, die oft die Grenzen menschlich-analoger Klangerzeugung mit den Mitteln der elektronischen Musik zusammenlötet.

SN: Das Hybride interessiert mich sehr. Das hat schon bei Zimmer begonnen, in dem die Harfe durch ein Kaosspad verfremdet wird. Es entsteht etwas, das nicht mehr ganz Harfe, aber auch nicht rein elektronische Musik ist, sondern irgendwas dazwischen. Das Undefinierte gefällt mir sehr, insbesondere, weil an Instrumenten in der Regel eine nicht unbedingt immer schöne Kulturgeschichte hängt, die man unfreiwillig miterzählt. Durch elektronische Verfremdung kann man sie umdeuten. Analoge Effektgeräte wie das Kaosspad finde ich auch deshalb toll, weil sie intuitiv von den Musiker:innen bedient werden können. Anders als hochkomplexe Live-Elektronik, für die man eine extra Ausbildung braucht. Wenn die Geräte innerhalb des Kammermusikrahmens gespielt werden, hat das für mich auch etwas Rebellisches.
Das neue Stück Halle wird auf die Geschichte der Turbinenhalle Bezug nehmen. Der Pianist / Keyboarder / Synthesizerspieler Sebastian Berweck hat mich auf das virtuelle Instrument, den digitalen Synthesizer »Mysteria« aufmerksam gemacht, der mit Stimm-Samples und Chören bestückt ist, die man zum Beispiel verfremden oder damit androgyne Stimmen schaffen kann. Ich denke an einen vielstimmigen Geisterchor der Menschen, die an diesem Ort gearbeitet haben. Auch mich interessiert das Dysfunktionale, weil es sehr menschlich ist. Nach meiner Erfahrung steckt in dem, was gesellschaftlich als Schwäche aufgefasst wird, oft ein besonderes Kraftzentrum.

JD: Den Makel zur Superkraft aufzuwerten, um sich aus einer marginalisierten Position heraus zu behaupten, bedarf kreativer Zukunftsvisionen. Ein Tool, das in einer extremen Form in afrofuturistischen Erzählstrategien und Ästhetiken Anwendung findet, an denen du, Henriette, schwerpunktmäßig forschst. Siehst du da Anknüpfungspunkte?

HG: Ich musste eben daran denken, dass der Synthesizer ein ganz wichtiger Träger der afrofuturistischen Vision ist, der bei Sun Ra zum Beispiel mit dem Jazz oder bei George Clinton mit dem Funk fusioniert und in diverse Musikrichtungen ausgestrahlt hat. Den Afrofuturismus macht ein nicht-lineares Zeitverständnis aus. Das unterscheidet ihn von anderen Futurismen, die nur nach vorne blicken wollen. Der Afrofuturismus besteht darauf, dass die Vergangenheit Teil der Zukunft ist.
Unter Einbezug der spektralen Vergangenheit ist HAUS in meinen Augen auch ein futuristisches Projekt, weil es ein Begehren danach gibt, den Raum zu transformieren, damit er offen wird für alle, ohne Ausgrenzung. Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen utopischem Denken und politischem Agieren, aber die Imagination ist ein erster Schritt. Sarah schreibt in ihren Notizen zu den Stücken auch davon, Räume zu träumen. Auch in dem in der Partitur zitierten Gedicht Dark House von Sylvia Plath geht es darum. In der künstlerischen Imagination wird bereits ein Prozess der Transformation aktiviert. Das Einreißen der Wände geschieht in der Imagination von etwas Zukünftigem, hat aber bereits Auswirkungen auf das Jetzt. Es ist eine Intervention im Heute.

JD: Du hast auch geheime Räume komponiert, Sarah. Willst du uns einweihen?

SN: Es gibt zwei akustische Verstecke. In Amplified Imagination hat die Flötistin Kopfhörer auf, worüber eine verfremdete Bach-Collage abgespielt wird, sodass sie ihr eigenes Spiel nicht hört. Sie kann sich nur vorstellen, wie sie klingt, und kann es aber nicht kontrollieren. Andererseits kann das Publikum nicht hören, was sie hört. Einsamkeit und Vereinzelung thematisiere ich oft in meinen Stücken. In HAUS hat der Schlagzeuger seinen eigenen Raum hinter dem Donnerblech, in dem er Bilder und Fotos sieht, die er zum Teil auch mittels Live- Kamera nach außen bringt. Geheime Innenräume hat jeder: Gedanken, Gefühle und Erinnerungen im Verborgenen, die man nicht teilen kann, aber vielleicht gerne mitteilen würde. Das ist jedoch auch ein Schutzraum, ein Rückzugsort, um im Positiven allein sein zu können.

* Heinrich Horwitz bei einem Konzeptionstreffen