Am Abend des 7. März 1983 ging der französisch-kanadische Komponist Claude Vivier auf einen Drink in eine Bar im Pariser Stadtteil Belleville. Dort gabelte er einen jungen Mann auf und brachte ihn zum Sex in seine Wohnung. Sie trafen sich mehrmals. Später erstach der Mann Vivier. Hätte der Mörder vor seiner Flucht einen Blick auf die Komposition Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele geworfen, an der Vivier gerade arbeitete, hätte er den in die Partitur unhörbar eingewobenen Text lesen können, der damit endet: »Ich konnte meine Augen nicht von dem jungen Mann abwenden, es kam mir vor, als säße er mir schon eine Ewigkeit gegenüber, und dann sprach er mich an: ›Ganz schön langweilig, diese U-Bahn, was?‹ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und sagte, etwas verwirrt darüber, dass mein Blick erwidert wurde, ›ja, ziemlich‹, woraufhin sich der junge Mann ganz selbstverständlich neben mich setzte und sagte: ›Ich heiße Harry.‹ Ich antwortete ihm: ›Ich heiße Claude.‹ Dann zog er ein Messer aus seiner schwarzen Weste, die er wahrscheinlich in Paris gekauft hatte, und stach mir mitten ins Herz.« Es ist der Schluss. Vivier hatte die ersten sechs Minuten von Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele fertiggestellt, bevor er den Mann kennenlernte. Der letzte Abschnitt des Werkes wurde während ihrer Beziehung geschrieben. Vivier war 34 Jahre alt, als die Polizei in seine Wohnung einbrach und seine Leiche fand.
Aber spielt das für das Erleben dieser Musik tatsächlich eine Rolle? Spielt es für das Eintauchen in Giacinto Scelsis Klangwelt eine Rolle, dass er in Hotelzimmern im Schrank statt im Bett übernachtete und sich nicht fotografieren lassen wollte? Spielt es eine Rolle zu wissen, dass Grisey unerwartet an einer Aneurysma-Ruptur starb und anders als wir sein letztes Werk gar nie aufgeführt hören konnte?
Ich mache seit Jahren Experimente zur Rezeption von neuer Musik durch Nicht-Profis. Dafür lasse ich auch Studierende Interviews mit Personen aus ihrem Familien- oder Bekanntenkreis führen. Sie hören sich dafür mit jemandem zusammen ein Werk neuer Musik an und führen danach ein Gespräch, das aufgezeichnet und anschließend im Unterricht analysiert wird. Aus den Erkenntnissen entwickeln wir Hörsituationen für ein mit neuer Musik unvertrautes Publikum. Die Befragten sind Kinder, Jugendliche, jüngere und ältere Erwachsene mit diversen Bildungshintergründen – aber alle ohne Vorerfahrungen mit neuer Musik. Die einzige andere Voraussetzung für die Auswahl einer Person als Interviewpartner:in ist, dass sie zur befragenden Person in einer vertrauensvollen Beziehung steht. Die Anwesenheit und zugewandte Präsenz eines anderen Menschen sind zentrale Elemente, um einen Hörprozess mit neuer Musik zu beginnen. Diese Präsenz hilft, dass die mit neuer Musik nicht vertraute Person sich nicht automatisch distanziert von Klängen, die in ihr – wie in den meisten anderen Menschen ohne Vorerfahrung auch – Fluchtreflexe auslösen.
Die Versuchsperson erhält vor dem Anhören keinerlei Informationen über die Musik, sondern bloß Instruktionen über die Art des Zuhörens: Man installiert sich an einem ruhigen Ort, die Augen werden während des Anhörens der Musik geschlossen, und es wird nicht kommuniziert. Die Auswirkungen der Musik auf so (un)vorbereitete Zuhörer:innen sind fast ausnahmslos dieselben: Sie werden gepackt von einer unbekannten Welt, erschüttert durch die Begegnung mit einem noch nie betretenen Kosmos, sie werden geschüttelt von Emotionen. Es geht ihnen nahe. Viele berichten von Bildern, die sie aus dem Arsenal der Filmindustrie entleihen. Die Verwendung von nicht aufgelösten dissonanten Intervallen, von gefährlich stehenden Klängen, von plötzlich einbrechenden scharfen Tönen, von bedrohlich anschwellendem tieftönigem Grollen, von schrillen Trillern, von lauten Atemgeräuschen und nicht erwartbaren Wendungen kennen sie aus Filmszenen, in denen es um existenzielle Gefühle von Angst, Verlassenheit, Düsterkeit, Dunkelheit, Verfolgung und Flucht geht. Profis wissen, wie man sich solchen Empfindungen entzieht.
Gérard Grisey gibt seinem Werk Quatre chants pour franchir le seuil zwar auch Worte mit. Aber diese Worte sind ein Teil der Musik, sie eröffnen den Raum, sie definieren die Bühne für das, was in den Klängen passiert: 1. La mort de l’ange (Der Tod des Engels), 2. La mort de la civilisation (Der Tod der Zivilisation), 3. La mort de la voix (Der Tod der Stimme) und 4. La mort de l’humanité (Der Tod der Menschheit).
Das genügt, mehr braucht es nicht. Auch die Worte, die gesungen und gerufen werden während der Musik, soll man hören, nicht parallel dazu lesen. Und wenn man sie nicht versteht, gehört das zum wirklichen Verstehen des Gesamten dazu. Gérard Grisey stößt unseren Kopf unter die Trennlinie von Wasser und Himmel, von Unbewusstem und Bewusstem, von Hören und Denken, von Erleben und Analysieren.
Veranstalter:innen, Musikwissenschaftler:innen, Komponistenkolleg:innen, Instrumentalist:innen und Musiklehrer:innen geben sich Mühe, das Publikum vor der Gewalt eines Werks neuer Musik zu schonen. Wenn man im Voraus weiß, was einen erwartet, ist man vorgewarnt und kann weniger überwältigt werden. Man kündigt deshalb neue Musik oft mit vielen Worten an, man beschreibt sie sehr genau, man analysiert sie, man diskutiert sie, man erklärt die Architektur im Großen und im Kleinen, die Texte, die Zitate, die Bezüge, die Verbindung zum Leben des:der Komponist:in, die Bezüge zum Werk von anderen Komponist:innen. Man lässt Expert:innen und erfahrene Profis Vorträge dazu halten. Diese können eine Com-Position dekonstruieren, können die einzelnen Bestandteile aus dem Gesamten lösen, bis die Musik fein säuberlich auseinandergenommen auf dem Seziertisch liegt, bevor sie dann als eine Art Leiche endlich ins Konzert überführt wird.
So weiß man als Zuhörer:in schon, was kommen wird. Man eilt der Struktur der Musik voraus. Man ist vor ihrer Gewalt in Sicherheit, weil man etwas weiß, weil man vieles weiß, weil man schon alles weiß. Man weiß sogar, wovon der ermordete Komponist in seiner selbsterfundenen Sprache gesungen hat. Man weiß, was er vor genau dieser Art von Wissen verstecken wollte.