© Sabrina Weniger

»Wofür schämst du dich heute nicht mehr?«
»Für mich.«

Diese Antwort am Schluss eines langen Gespräches über Sex leuchtet mir sofort ein und verblüfft mich doch. In der vergangenen Stunde hat mir Marco* seine Geschichte erzählt, die von Schikane, Einsamkeit und rohem Sex handelt. Wir haben darüber gesprochen, warum er innerhalb einer Beziehung selten bis nie Sex hatte und mit Fremden oft. Davon, wie er im Kino gemerkt hat, dass er schwul ist, und wie er panische Angst davor hatte, seine männlichen Heterofreunde zu verlieren.

WENN MAN BEDENKT, DASS DIE MEISTEN MENSCHEN REGELMÄSSIG SEX HABEN, DANN IST DIE TATSACHE, DASS DAS SPRECHEN DARÜBER DENNOCH SO SELTEN STATTFINDET, EIGENTLICH UNBEGREIFLICH. Anna Papst

Marco ist einer Einladung auf einen »Open Call« gefolgt, den Mats Staub und ich gestreut haben. Seit mehr als einem Jahr treffen wir immer wieder Menschen, um mit ihnen über Sex zu sprechen, genauer, um mit ihnen darüber zu sprechen, wann und wie sie im Lauf ihres Lebens Sex neu gelernt, entlernt, umgelernt haben. Zu Beginn hatten wir kaum mehr in den Händen als die Feststellung, dass Sex zwar medial omnipräsent ist, aber ehrliche Gespräche darüber, was Sex uns gibt und was wir von Sex erwarten, spärlich gesät sind. Selbst den Menschen, die auf uns zukamen, die also bereit waren, über Sex zu sprechen, fehlten im Lauf des Gesprächs oft die Worte, um zu beschreiben, was in ihnen vorgeht, wenn sie Sex haben. Mit jedem Gespräch trat deutlicher zutage, dass wir nie »nur« über Sex sprechen, wenn wir über Sex sprechen.

Wir sprechen über Angst, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Freiheit, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Vertrauen, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Rausch, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Identität, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Schmerz, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Zugehörigkeit, wenn wir über Sex sprechen.

Die Menschen, die mit uns sprechen, lassen sich nicht in eine Kategorie einordnen. Sie sind zwischen zwanzig und siebzig, haben eine Behinderung oder haben keine Behinderung, sind queer, hetero, bi, lesbisch, schwul, trans, fühlen sich unterschiedlichen Geschlechtern oder keinem zugehörig. Sie leben auf dem Land oder in der Stadt, sind Akademikerinnen, Sozialhilfeempfänger oder Angestellte. Was sie aber alle gemeinsam haben, ist, dass sie eine eigene intime Revolution erlebt haben und, dass sie bereit waren, ihre Geschichte mit uns zu teilen.

Marco: »Ich habe viel Sex gehabt. Trotzdem weiß ich nicht, worauf ich eigentlich stehe. Ich habe immer ge­macht, was der andere wollte, weil ich für ihn interes­sant sein wollte. Ich will lernen, was mir selbst gefällt. Und dafür einstehen.«

Mit unserem Langzeitprojekt Intime Revolution schaffen wir einen geschützten Raum, in dem unsere Gesprächspartner:innen eine Sprache suchen und erproben können, um die beflügelnden und die schmerzhaften Ereignisse ihrer sexuellen Biografie zu beschreiben. Sie tasten die Worte auf ihre Beschaffenheit ab, zögern, setzen nochmals an, suchen weiter. Damit leisten sie Pionier:innenarbeit für alle, die ihre Geschichte zu hören bekommen werden: Sie erweitern die bestehende, sehr dürftige Sprache, die uns zur Beschreibung von Sex zur Verfügung steht, um ihre eigenen Ausdrücke und Metaphern. Wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen regelmäßig Sex haben, dann ist die Tatsache, dass das Sprechen darüber dennoch so selten stattfindet, eigentlich unbegreiflich. Eine Gesprächspartnerin hat den Vergleich zum Trinken eines guten Weins gezogen. Dafür, wie Wein schmecke, gebe es mindestens dreitausend Adjektive und Bilder, während einem auf die Frage, wie sich Sex anfühlt, oft nur die Worte »gut« oder »geil« einfielen. Diese sprachliche Armut und der Mangel an Kommunikation stehen auch dem Erreichen einer erfüllenden Sexualität im Weg. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihr Leben lang nie gefragt, ob Ihnen das Essen schmeckt, das man Ihnen vorsetzt. Es würde stillschweigend angenommen, dass es wohl gut sei oder, dass Sie es, wenn es Ihnen nicht schmecken sollte, irgendwie runterwürgen und sich anderen Dingen im Leben zuwenden würden. Und käme endlich der Tag, an dem jemand Sie fragt, ob Ihnen das Essen schmeckt, könnten Sie zwar vielleicht mit »Nein« antworten, aber nicht weiter beschreiben, was Sie gerne hätten. An der Sprache wird deutlich, dass es für Wein offensichtlich eine Wertschätzung und einen Willen zur Präzision gibt, während man Sex sprachlich der Vulgär- oder der Medizinalsprache überlässt. Und wem von uns wurde eine schamfreie, ermutigende Aufklärung zuteil? Während Familienrezepte für Weihnachtskekse traditionell weitergegeben werden, scheinen Rezepte für eine genussvolle Sexualität nicht vererbt zu werden. Dabei hat unser Verhältnis zu Sex viel mit sozialer Prägung zu tun.

In der Sexualität eines Menschen werden die eigenen Bedürfnisse und der Umgang damit überdeutlich sichtbar. Gespräche über Sex gehen aber über die eigene Bedürftigkeit hinaus. Es geht immer auch um die strukturellen Verhältnisse, in denen die Person lebt: Warum habe ich geglaubt, Sex gehöre zu meinen ehelichen Pflichten? Warum glaube ich, kein »echter« Mann mehr zu sein, wenn ich keine Erektion bekommen kann? Warum können wir uns nicht zu dritt als Lebenspartner:innen eintragen lassen?

Wir sprechen über Politik, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Machtverhältnisse, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Glaubenssätze, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über mediale Darstellungen, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über Religion, wenn wir über Sex sprechen.
Wir sprechen über das Verlangen nach einer Revolution, wenn wir über Sex sprechen.

Mit Intime Revolution möchten Mats Staub und ich ein kollektives Erlebnis ermöglichen und doch einen Rahmen bieten, der den Besucher:innen genügend Privatheit bieten kann. Wir verzichten auf jegliche Bilder und konzentrieren uns ganz auf das Zuhören – alle Erzählungen werden über Kopfhörer zu hören sein, aber niemand ist beim Hören allein. Inspiriert vom Vergleich zwischen Wein und Sex, haben wir uns für die Weinbar als Präsentationsort entschieden. Die Sitzordnung an Tischen, an denen die Zuhörer:innen entweder allein oder mit ihrer Begleitung Platz nehmen, schafft eine private Situation innerhalb eines Raumes voller fremder Menschen. Uns gefällt auch die Haltung, die mit dem Besuch einer Vinothek einhergeht. Ein Lokal aufzusuchen, um ein Glas Wein zu genießen, ist nichts Luxuriöses, aber dennoch etwas Besonderes, das man sich gönnt. Diese Vorfreude und das Gefühl, sich damit etwas Gutes zu tun, wünschen wir auch den Besucher:innen unserer Audio-Vinothek. Und dass sie beim Hören der biografischen Erzählungen zu eigenen intimen Revolutionen angestiftet werden. Zum Beispiel von Marco:

»Ich habe jetzt seit Ewigkei­ten zum ersten Mal wieder jemanden kennengelernt, der mir gefällt. Ich habe ihn durch mein politisches En­gagement für die ›Ehe für alle‹­-Initiative getroffen. Es ist ganz frisch, wir sind seit drei Wochen zusammen. Sex hatten wir bisher noch keinen.«

*Dieser Name wurde geändert.

ANNA PAPST, wuchs im Zürcher Oberland auf und arbeitet als Regisseurin, Autorin und Dramaturgin. Seit dem Abschluss ihres Regiestudiums an der ZhdK arbeitet sie an divers­en Theaterhäusern der Freien Szene und Stadttheatern. Neben Stücken für Erwachsene inszeniert sie regelmässig für ein junges Publikum und arbeitet kollaborativ mit Küns­tler:innen aller Disziplinen zusammen. Intime Revolution ist das erste kollektives Lang­zeitprojekt mit Mats Staub.