© Regina Jose Galindo

Künstlerin Regina José Galindo im Gespräch mit Dramaturg Aljoscha Begrich über ihr Projekt Aparición, was im letzten Jahr bei der Digitalen Ruhrtriennale präsentiert wurde, indem jeden dritten Tag ein Bild von ihr hochgeladen wurde. 2022 werden die 15 entstandenen Motive in der Bochumer Innenstadt plakatiert.

Aljoscha Begrich: Kannst du uns ein bisschen darüber zu erzählen, wie dieses Projekt zustande kam und warum es für dich so wichtig ist?

Regina José Galindo: Ich beschäftige mich seit Beginn meiner Karriere, seit ich Ende der 90er-Jahre als Dichterin angefangen habe, mit dem Thema der genderspezifischen Gewalt. Das verwundert wenig angesichts der Tatsache, dass ich aus Guatemala komme:  Es ist bekannt, dass wir hier seit in der sogenannten »Dritten Welt« seit langem in starkem Maße mit Frauenfeindlichkeit und Frauenmorden konfrontiert sind. Wir hatten einen mehrjährigen Bürgerkrieg, und es wurden unzählige Verbrechen gegen Frauen begangen – gewissermaßen als Kriegsbeute. Und diese Verbrechen waren stets Elemente in sämtlichen Konflikten und Kriegen. Als ich anfing auch außerhalb Guatemalas zu arbeiten, wurde mir bewusst, dass dieses Leid nicht nur uns Frauen auf dieser Seite des Ozeans und nicht nur ausschließlich Entwicklungsländer betrifft. Die Zahlen in Europa zu hören, war sehr aufschlussreich für mich. Da ist mir bewusst geworden, dass Verbrechen an unseren Körpern zu den ältesten Verbrechen der Geschichte der Menschheit gehören. Vermutlich erreichten diese Verbrechen unsere Dörfer, unsere Länder, unsere Gegenden durch die koloniale Eroberung; durch all diese Prozesse, die sich in mehr als 500 Jahren vollzogen haben. Guatemala besteht aus 21 unterschiedlichen Gemeinschaften mit 21 unterschiedlichen Sprachen – und in keiner dieser 21 Maya-Sprachen existiert der Begriff »Gewalt«. Wenn also bei Gerichtsverfahren in Guatemala von diesen Verbrechen die Rede ist, dann nutzt man die Sprache der spanischen Kolonisatoren um über diese Verbrechen zu sprechen. Für diese Arbeit hab ich mich aber nicht mit den Verbrechen in meiner Region, sondern mit den Verbrechen auf der anderen Seite des Ozeans, mit den Zahlen in  Deutschland beschäftigt. Für mich war es schockierend zu erfahren, dass alle drei Tage eine Frau von ihrem Partner oder ihrem Ex-Partner in Deutschland ermordet wird. Das sind alarmierende Zahlen, aber noch alarmierender ist die Tatsache, dass in einem derart entwickelten Land wie Deutschland der Begriff »Femizid« kaum Verwendung findet und diese Art von Verbrechen keinen eigenen Straftatbestand darstellt.

AB: Aufgrund der Tatsache, dass wir keinen Begriff für dieses Verbrechen haben, scheint es nicht zu existieren. Es gibt keinen Begriff dafür, es wird nicht darüber in Deutschland gesprochen. In Südamerika und in Zentralamerika hingegen ist Gewalt gegen Frauen schon länger ein Thema und die feministischen Bewegungen haben diesen Begriff im Diskurs etabliert.

RG: Die Begriffe rund um den Femizid sind auf dieser Seite der Welt entstanden. Femizid beschreibt den Mord an einer Frau, schlichtweg, weil sie eine Frau ist. Der Begriff feminicidio, der von einer Feministin in Mexiko geprägt wurde, beschreibt ebenfalls den Mord an einer Frau; hier spielt allerdings das Nicht-Handeln des Staates mit eine Rolle. Auch die Gewalttaten in Europa fallen also unter den Begriff des feminicidio, da der Staat diese Taten stillschweigend hinnimmt und sie nicht einmal als eigenständigen Straftatbestand anerkennt.

AB: Der Kampf gegen das Schweigen ist sehr präsent in deinen Arbeiten. Deine Kunst regt oft an, etwas sichtbar zu machen oder über etwas zu sprechen, wie eben über diese Gewalttaten. Das Werk trägt ja nicht zufällig den Titel Erscheinung. Diese alle drei Tage erscheinende Figur erinnert uns an die Verbrechen wie ein Gespenst, das nicht verschwindet. Ein Körper, der mitten in der Stadt, mitten im Leben erscheint. Ist damit auch eine religiöse Erfahrung gemeint?

RG: Die Religion ist eine äußerst wichtige Säule in frauenfeindlichen und chauvinistischen Gegenden, in denen es zu diesen Verbrechen kommt. Fungiert die Religion in gewisser Weise als Deckmantel in Bezug auf Amoralität gegen Frauen und Schuld? Die gegen uns und unsere Körper gerichteten Verbrechen durch Partner oder Ex-Partner sind in hohem Maße von Schuld und Strafe geprägt. Und das steht in einem direkten Zusammenhang mit der Religion. Die moralischen Werte, die man uns seit Kindestagen an einschärft; die Vorstellungen, wie wir als Frauen zu sein haben und der jungfräuliche Zustand, den wir zu verkörpern haben, lassen durchaus auch einen religiösen Kontext in Zusammenhang mit den Erscheinungen zu.
Und das gefällt mir. Der Titel Erscheinung ist auf gewisse Weise auch eine Kritik, ein spielerischer Umgang mit dieser furchtbaren Situation und den wiederkehrenden Meldungen wie: Heute gab es zwei tote Frauen. Gestern gab es eine tote Frau. In Guatemala kommt es am Tag zu zwei bis vier ermordete Frauen. Und wir stellen immer wieder klar, dass es diese toten Frauen nicht einfach »gibt«. Es geht darum, die Sprache zu modifizieren, mit der wir über diese Umstände sprechen: Diese Frauen werden ermordet. Diese Art von Gewalt existiert auf der ganzen Welt. Die Frauen sind nicht plötzlich auf magische Weise tot. Sie werden vorsätzlich und absichtlich ermordet.

AB: Und es gibt einen Mörder. Es geschieht nicht einfach von selbst; sondern da sind Menschen – Männer – die töten.

RG: Es fällt schwer zu akzeptieren und auszusprechen, dass es sich dabei um Männer handelt, die uns nahestehen. Diese Verbrechen werden von Partnern und Ex-Partnern begangen. Das ist schrecklich. Ein anderes Thema, das in Deutschland eine Rolle spielt und das unbedingt berücksichtigt werden muss, ist Rassismus. Wie geht der Staat mit dieser Situation und diesen schrecklichen Zahlen um? Oftmals werden diese Verbrechen fälschlicherweise der migrantischen Bevölkerung zugeschrieben. Doch 70 Prozent der Verbrechen gegen Frauen in Deutschland gehen von der deutschen Bevölkerung aus. Es ist also ein Trugschluss, dass diese Verbrechen von den Migranten und ihren Gewohnheiten nach Europa eingeschleppt wurden. Der Prozentsatz, den wir in Deutschland sehen, ist derselbe wie in Spanien oder in Italien. Man muss auf das Problem hinweisen, dass viele Industrieländer ähnliche Zahlen aufweisen.

AB: Wie würdest du deine Arbeit einordnen – verortest du es eher als Kunstwerk oder als das Projekt einer Aktivistin? Ist es beides zu gleichen Teilen? Machst du da überhaupt Unterschiede?

RG: Ich verorte die Arbeit an einem Schnittpunkt. Das bedeutet, dass es als Reaktion auf eine soziale Situation entstanden ist und eine konkrete Anklage gegen diese Situation ist, aber es ist gleichzeitig eine künstlerische Aktion. Die Arbeit fällt in beide Bereiche. Wir haben eine erzählerische Prämisse, die über die Fakten informiert. Aber wie wir über diese Fakten reden, ist ebenso von Bedeutung.

AB: Die Premiere fand in Berlin im Rahmen der von Lutz Henke kuratierten Ausstellung Owned By Others statt – und danach folgten Aufführungen im Ruhrgebiet. Die Performance gelangt also an viele unterschiedliche Orte. Inwiefern war es anders, die Performance im öffentlichen Raum im Ruhrgebiet zu präsentieren?

RG: Das Projekt ist während der Pandemie entstanden. Ich erhielt eine Einladung von Lutz Henke, an dem Projekt Owned By Others teilzunehmen, das während der Pandemie Raum bietet für künstlerische Arbeiten und Interventionen im öffentlichen Raum bot. Ich bereitete mein Projekt aus der Ferne vor. Es ging um eine Serie von Erscheinungen: Verschleierte Monumente in Form von Frauen, die vollständig von einem grauen Umhang bedeckt sind, erscheinen an imposanten Orten auf der Museumsinsel in Berlin. Zentraler Bestandteil des Projekts waren also lebendige Monumente, die alle drei Tage erscheinen und in einen zementgrauen Umhang gehüllt sind, um die Dichotomie zwischen Körper und Skulptur aufzuzeigen. Als wir uns entschieden haben, das Projekt ein zweites Mal zu zeigen – diesmal bei der Ruhrtriennale – haben wir uns überlegt, dass ich die Hauptrolle der Performance übernehmen würde. Das war eine bedeutende Aufgabe für mich, denn ich performe sehr gern; mir gefällt der Moment der Katharsis, die Energie, das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein. Bei dieser zweiten Aufführung stand ich dem Projekt also noch näher, weil ich mitgemacht habe und selbst unter dem Umhang steckte. Da gab es zum Beispiel diese Momente, in denen ich verhüllt mitten auf der Straße standen und am eigenen Leib die Erfahrung gemacht habe, wie der Körper mal sichtbar, mal unsichtbar ist. Ich erlebte, dass einige Leute sich näherten, Kinder an öffentlichen Orten auf mich reagierten – und doch auch das komplette Gegenteil: Ich wurde schlichtweg ignoriert, als wäre dieser Körper, diese Figur, gar nicht da. Es war für mich eine enorme Bereicherung, aktiv teilzunehmen statt lediglich konzeptuelle Anweisungen zu geben.
Und als sehr faszinierend empfand ich den Überdruss, den dieses Projekt ausgelöst hat. Das stete Wiederholen führt zu einer Ermüdung, die von grundlegender Bedeutung für das Projekt ist: Uns ist bewusst, dass die Wiederholung und die alle drei Tage wiederkehrenden Bilder für Erschöpfung und Verdruss sorgen können, aber genau darin liegt die Intention des Projekts. Wie sprechen wir über diese Erschöpfung, mit der wir Frauen uns konfrontiert sehen in Anbetracht der Situation in Ländern, deren Regierungen nichts dagegen unternehmen? Ermattung und Verdruss dürfen nicht nur im Rahmen eines Kunstprojekts verspürt werden, sondern müssen auch im realen Leben wahrgenommen werden, um in der Lage zu sein, die Situation dahingehend zu verändern, dass sie sich nicht mehr wiederholt. Die Repetition ist also beabsichtigt.

AB: Als ich dich bei der Performance beobachtet habe, bemerkte ich auch, dass die Mehrheit der Leute dich nicht hinsah, wie du es gerade geschildert hast. Aber ich glaube nicht, dass die Leute aus irgendwelchen Gründen Hemmungen haben, sich zu nähern. Ich hatte den Eindruck, dass einige Leute die Erscheinung tatsächlich einfach nicht gesehen haben, und das hatte für mich einen symbolischen Wert. Es ist eine namenlose Thematik, die nicht sichtbar ist, die nicht vernommen wird.

RG: Es ist ein großer Unterschied, etwas nicht zu sehen und etwas nicht sehen zu wollen.
Wir haben die Performance auch an anderen Orten gezeigt, zum Beispiel in Argentinien, wo die Leute durchaus reagiert haben. Man muss auch den Charakter einer Gesellschaft berücksichtigen. In Deutschland fielen die Reaktion viel diskreter, schweigsamer und abstrakter aus, weil sich die Gesellschaft auch viel zurückhaltender zu sozialen Problematiken verhält.

AB: Kannst du uns ein bisschen mehr über die Performance in Buenos Aires erzählen? Da hast du ja nicht aktiv teilgenommen, sondern die Idee wurde von anderen Leuten aufgegriffen. Wie siehst du bei diesem Projekt die Frage der Urheberschaft?

RG: Im Falle von Aparición war es für mich interessant, ein Projekt erarbeitet zu haben, das möglichst oft realisiert wird. Ich freue mich immer, wenn jemand das Projekt inszenieren möchte. In Argentinien sollte es in Buenos Aires und auch in Córdoba und an weiteren Orten in Argentinien gezeigt werden. Marcela Cortez, Sofia Smaldone und Leticia Spinosa wollten das Projekt über mehrere Monate hinweg zeigen und haben mich angeschrieben. Wir gaben die Regieanweisungen durch, die ja recht simpel sind: Man benötigt einen 4x4 Meter großen Umhang und geeignete Orte, an denen die Skulpturen erscheinen. Aktuell haben wir eine Einladung aus München; interessierte Leute kontaktieren uns in den sozialen Netzwerken. Es handelt sich also um ein Projekt, das keine Urheberschaft in diesem Sinne hat. Je mehr Leute es zeigen wollen, umso besser.
Natürlich eignen sich sämtliche Orte, um eine derartige Anklage auszusprechen, zu reden und zu schreien. Doch die größte Stärke liegt stets darin, uns den öffentlichen Raum anzueignen, um unsere Anklagen und Anliegen auszusprechen. Und eine der Stärken von Aparición ist, dass das Projekt auf der Straße funktioniert und sehr einfach umzusetzen ist. Und so hoffe ich sehr, dass es weiter gehen wird.