© Mario Zamora

Mein Kollege und Freund Mats Staub schenkte mir vor einigen Jahren ein Fünf-Jahres-Tagebuch, wo ich jeden Tag etwas eintragen kann und sich dann Jahr für Jahr neue Ringe durch das Buch ziehen. Eine schöne Erfindung. Hinten im Buch aber gibt es neben einem »Travel Log« noch einen »Book Log«, wo ich eintragen kann, welche Bücher ich im Jahr gelesen habe. Ich füllte all die Seiten pflichtgemäß aus, und neben der Erkenntnis, dass ich zwei Jahre hintereinander am gleichen Tag in Baden-Baden war, fiel mir auf, wie viel ich gelesen hatte. Bei jedem Buch plagt mich die Angst, dass es zu Ende geht. Nun schien mir plötzlich diese Liste Angst zu machen, die gute Literatur gehe bald aus. Ich begann mir Gedanken über mein Verhältnis zur Literatur zu machen. Ich lese gern, aber was lese ich eigentlich? Plötzlich sah ich die Liste und vieles, was weit weg von jeder Form der Theatralisierung ist. Durch die Liste erkannte ich einerseits, dass ich eine starke Zuneigung zu einer ganz bestimmten Form von Literatur entwickelt hatte – und mir im Gegenzug gerade jene Formen des Theaters gefielen, die möglichst wenig Nähe zur Literatur hatten. Nur so konnten beide Sphären für mich glücklich und zufrieden existieren, bis ich eines Tages in das falsche Stück ging.

Anfang 2019 ging ich ins HAU, das Hebbel am Ufer in Berlin. An diesem Abend stießen beide Welten aufeinander und in mir etwas zusammen. Ich ging ins Theater und musste LESEN. Ich war irritiert und schaute mich hilflos um, aber alle anderen saßen auf ihren Sitzen und lasen. Also las ich auch:

Du sitzt vor einer fast völlig abgedunkelten Bühne.
Du siehst LA PLAZA von El Conde de Torrefiel.
Ein Stück, das simultan an 365 Tagen
in 365 Theatern auf der ganzen Welt aufgeführt wird.
Die Inszenierung findet in einem schwarzen,
subtil beleuchteten Raum statt.
Einziges Bühnenelement ist eine Landschaft
aus Blumen und Kerzen, gleich einem Gedenk-Altar.
So weit entfernte Städte wie Kyoto, Kairo, Medellín,
Jerusalem, Seoul,
Antwerpen, Barcelona, Portland, Damaskus, Gondar oder
Belo Horizonte
haben sich angeschlossen und zeigen dieses Projekt.

Irgendwie merkwürdig, aber auch faszinierend, denn ich las nicht allein, sondern alle lasen zusammen, und zwar gleichzeitig. Das Wechseln der Übertiteltafeln gab den Rhythmus des kollektiven Lesens vor:

Während der Vorstellung
kann das Publikum kommen und gehen, wie es möchte,
und sogar die Karten anderen überlassen,
sodass sie die Vorstellung besuchen können.
Ein ganzes Jahr lang bist du immer wieder vorbeigekommen,
um für eine kurze Weile Platz zu nehmen.
In der Aufführung ist absolut nichts passiert.
Ein ganzes Jahr lang jeden Tag dasselbe Bild.
Während der Stunden, die du im Theater verbracht hast,
hat sich deine Aufmerksamkeit automatisch auf dich
selbst gerichtet.
Anstatt zwischen Schauspielern,
Tänzern, Videos und Lichteffekten hin und her zu wandern,
hat dein Gehirn innegehalten und dich
zum Protagonisten des Stückes gemacht.
So stellte sich dir unausweichlich die Frage:
Wie lange bist du in der Lage, die Betrachtung
ein und desselben Bildes zu genießen?

Das Geschehen auf der Bühne hatte nichts mit dem im Text Beschriebenen zu tun, aber diese Überforderung schien langsam Spaß zu machen. Auf der Bühne gingen Menschen mit Strumpfmasken auf und ab, schoben Fahrräder und Kinderwägen herein und wieder heraus, standen herum und bewegten sich lässig. Eine interessante Mischung von Bildchoreografien – aber eben mit Text darüber. Literatur.

Du beginnst abzuschweifen.
Du denkst an die Zukunft.
Du denkst häufig an die Zukunft.
Als du jung warst, hast du Isaac Asimov und Jules Verne
gelesen,
und heute begeistert dich die Serie Black Mirror.

Aber abschweifen war ja nicht möglich. Selten war ich so wach in einer Theaterinszenierung. Und noch danach, ich war wie elektrisiert. Selbst am nächsten Tag sprach ich noch die ganze Zeit von diesem Ereignis. Was war passiert? Konzeptuelle Literatur und postdramatische Performance sind ineinandergefallen, aber war das wirklich die Aufregung? Ich spürte, es war etwas anderes, und fand heraus: Der Trick war eigentlich ganz einfach. Der Text sprach mich die ganze Zeit in direkter Rede an und hielt mich wach, und die Lücke zwischen Text und Darstellung sorgte für die Aktivierung meiner Fantasie. Meine Begeisterung für diese Arbeit war der ureinfachste Trick der Theatergeschichte, das Mittel aller guten Arbeiten: meine eigene Vorstellungskraft. Stücke, die alles zeigen oder alles aussprechen, gelten als langweilig, weil sie der eigenen Fantasie keinen Platz lassen. Und hier wurde sie entfesselt. Ich war stolz, aber eine so große Erkenntnis war es auch wieder nicht, hieß es doch schon am Anfang der Inszenierung: DIE AUFFÜHRUNG HAT DICH ZUM PROTAGONISTEN DES STÜCKS GEMACHT.

Wenig später nehme ich Kontakt zu den Künstler:innen Pablo Gisbert und Tanya Beyeler auf und es entwickelt sich eine Folge von Gesprächen über Arbeitsweisen, philosophische Ansichten und ihr aktuelles Projekt. Sie wollen die grundlegenden theoretischen, künstlichen Konstruktionen untersuchen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Unter allem lägen verwurzelte Ideen, die als natürlich und real gelten, wie die Struktur des Marktes. Aber was bezeichnet eigentlich Realität? Wie wird sie konstruiert und zu wessen Vorteil? Ich beginne Mark Fisher zu lesen, von dem Pablo und Tanya oft zitieren: »Im kapitalistischen Realismus ist man einer Realität unterworfen, die unbegrenzt formbar ist und sich selbst jeden Moment rekonfigurieren lässt. Die höchste Form der Ideologie ist diejenige, die sich als empirische Tatsache und Notwendigkeit präsentiert … Die Realität unterdrückt das Reale. Dementsprechend sollte eine Strategie gegen den kapitalistischen Realismus sein, dass man die Formen des Realen anruft, die die Realität, die der Kapitalismus uns gegenüber präsentiert, zugrunde liegen.«

Klingt nachvollziehbar und sinnvoll. Doch dann bricht die Covid-Pandemie aus und verschiebt den ganzen Diskurs. Infragestellungen der Realität und Bloßstellungen von Machtzentren, Biopolitik und kritische Lektüre sind plötzlich nicht mehr Domäne französischer Philosophen wie Baudrillard und Foucault, sondern Aussagen von esoterischen Rechtspopulist:innen aus Thüringen und völkischen Selektrionsanhänger:innen aus Baden-Württemberg. Ich merke, dass ein Diskurs nicht nur weggenommen, sondern zerstört wird, und dessen Konsequenzen noch weit nach dieser Pandemie zu spüren sein werden. Doch was tun? In ihrem Stück GUERRILLA hatten El Conde de Torrefiel die Lust am Umsturz, am Zerfall der Gesellschaft, an der Unmöglichkeit der Verständigung schon thematisiert. Wie werden sie jetzt mit all diesen losen Fäden, angefangenen Gedanken und philosophischen Herausforderungen umgehen? Als Vorbereitung auf das neue Stück machen sie erste Probebohrungen, ULTRAFICCIÓN 1–4. Auf dem Santarcangelo Festival läuft eine Schafherde durch das verwunderte Publikum in einer Open-Air-Aufführung, während kurz danach in einem Museum für Moderne Kunst Taubstumme eine Geschichte zeigen und in Barcelona Architekturstudierende ein Totem herstellen und gleich wieder zerstören. Ich bin gespannt, bekomme es nicht mehr zusammen, kann auch nicht darüber schreiben, ich kann ja nur lesen:

Du beschließt, dich ins Bett zu legen,
nicht zu denken und in Stille zu verharren.
Wegen der Stille hörst du deine Magengeräusche
und spürst deinen Herzschlag.
Du überlegst, dass die Substanz des Blutes, die dich am
Leben erhält,
das Begehren und die Ambition
einer einzigen primitiven Zelle ist,
die über Jahrmillionen, sich beständig transformierend
und reproduzierend,
in unzähligen Körpern gereist ist,
damit genau diese einzelne primitive Zelle überleben kann.
Diese einzelne primitive Zelle,
die vor Millionen von Jahren entstand,
wird nach deinem Tod in anderen Körpern überleben.
Und die gleiche Zelle findet sich auch im Bettler,
der dich auf der Straße um Geld bittet.
Sie findet sich im Freund, den du täglich triffst,
im Blinden, den du scheel anschaust,
im Touristen, der deine Stadt besucht,
im schlafenden Kind im Haus gegenüber,
in der Mutter, die dir eines Tages diese Zelle übertrug.
In all diesen anonymen Gesichtern,
die dir täglich auf der Straße begegnen,
bist du.
Endlich kommt der Schlaf.
Heute bist du aufgestanden und hast die Stadt durchquert,
um im Theater das Finale eines Stücks zu sehen,
das ein Jahr lang gedauert hat.
Endlich schließen sich ganz langsam deine Augenlider
und du sinkst in einen tiefen Schlaf.
Wie gut, dass der Schlaf die Tage voneinander scheidet.

Ich wache auf und gucke nach, was ich eigentlich am 22. Februar 2019, am Tag der Vorstellung von LA PLAZA, eingetragen habe. Ich erwarte etwas Gewichtiges, aber es ist leer. Ich blättere herum und finde im Juli ein schönes Zitat von Eva Maria Keller: »7000 Gedanken hat jeder Mensch pro Tag.« Aber welcher bleibt hängen?

 

ALJOSCHA BEGRICH, liest seit 1983, arbeitete das erste Mal als Assistent und Dolmetscher 2000 bei La Fura dels Baus in Castelldefels, Barcelona. Seit 2021 Dramaturg bei der Ruhrtriennale.