»System« ist ja eigentlich auch ein Euphemismus, der die Verantwortung verschiebt. Wir sind das System.
Das stimmt. Der Erfolgszug des Kapitalismus ist ja inzwischen längst auch in Russland und China angekommen, auch wenn dies dort ideologisch anders verkauft wird und zu großen Friktionen führt, wie wir sie gerade erleben. Und was uns betrifft: Dass wir am Abgrund unseres Lebensentwurfs stehen, haben wir theoretisch begriffen, aber bislang ziehen wir keine Konsequenz daraus. Ich halte allerdings nicht den Kapitalismus an sich für verwerflich, sondern seine völlig entfesselte und enthemmte Pervertierung in Form einer neoliberalen Marktwirtschaft, deren Konsequenzen – nämlich die himmelschreiende Ungerechtigkeit der Verteilung von Wohlstand und Zugang zu Bildung und Gesundheit, die viel zitierte immer weiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich – sich letztlich gegen uns wenden, von außen wie von innen. Die Entfesselung auf der einen Seite verursacht eine Entfesselung auf der anderen Seite. Das manifestiert sich in der wachsenden Wut der Benachteiligten auf die Profiteure, die dann in Phänomene wie Terrorismus mündet oder dem Populismus Tür und Tor öffnet, letztlich auch in diesem Krieg, der auch als Krieg der Systeme gelesen werden muss. Da ich dennoch an der freien Entfaltung des Einzelnen festhalten möchte, aber nicht akzeptieren will, dass solch banale Amoralitäten wie die Anhäufung unglaublicher Besitzmengen durch einige wenige Profiteure der entfesselten Marktwirtschaft unüberwindbar sind, glaube ich naiv, aber fest an einen Paradigmenwechsel. Mein Schlachtruf, der vielleicht auch so etwas wie ein Fazit in EUPHORIA ist, lautet daher: Educate capitalism!
Liegt in der gegenwärtigen Erziehung das Problem? Unser Bildungssystem richtet junge Menschen von früh an auf Konsum und Wettbewerb aus, auf Konkurrenz, lehrt, wie sie ihre Lebensläufe attraktiv für den Markt gestalten, weckt Begehren und definiert die Zeichen des Erfolgs, die nahezu alle materiell sind. Die Zeit für Geistesbildung wird verknappt, das frühere Eintreten in den Arbeitsmarkt als Vorteil verkauft.
Ich glaube, der Reiz einer solchen Produktion besteht unter anderem gerade auch darin, für etwas zu arbeiten, das sich den gewöhnlichen Gesetzmäßigkeiten der Vermarktung entzieht. Das setzt überraschenderweise ungeheure Energien frei.
Es ist ganz klar: Es braucht eine Neukalibrierung unseres Wertesystems. Cool und sexy sollte es bald nicht mehr sein, viel zu besitzen, sondern vielmehr gesellschaftlich verantwortlicher zu handeln und zu teilen. Der Wunsch, sich frei zu entfalten, soll dabei weiterhin nicht staatlich unterdrückt werden, eine Gleichmacherei wie im Kommunismus wünscht sich kaum jemand zurück. Und dennoch liegt für mich die Hoffnung in einem Werteverständnis, welches das Teilen über das Besitzen stellt. Es werden gegenwärtig bereits Ideen formuliert, die noch utopisch klingen, aber keine Utopie bleiben müssen. Ich bin hoffnungsvoll, ich beobachte, dass sich unsere Kinder in diese Richtung schon auf den Weg machen. Die sind im Umdenken längst weiter als ich.
Warum trägt deine Arbeit den Titel EUPHORIA?
Der Titel begleitet mich jetzt schon seit vielen Jahren, in denen ich Texte und Ideen für das Projekt gesammelt habe. Ich hatte nach einem Begriff gesucht, der die mitreißende Energie der kapitalistischen Idee zum Ausdruck bringt, der hemmungslosen Begeisterung an Besitz und Wachstum, die nicht nur Investmentbanker:innen und Firmenchef:innen, sondern auch uns ergreift.
Ist Euphorie für dich angesichts der dystopischen Bilder, mit denen du sie in deinem Projekt einfängst, negativ besetzt?
Darauf gibt der Tiger zum Schluss eine Antwort, die ich nicht vorwegnehmen möchte.
Wie eingangs erwähnt, wurden deine Dreharbeiten zu EUPHORIA durch den Krieg gegen die Ukraine jäh unterbrochen. Kannst du uns die Situation beschreiben?
Wir waren in den letzten Monaten insgesamt vier Mal in Kiew und haben zweimal dort gedreht. Beim ersten Mal die Bankszene – wir hatten dafür die Wartehalle des Kiewer Hauptbahnhofs umgebaut. Der Dreh war wie ein surreales Fest. Während noch das Set gebaut wurde, wurden in der Halle Kostüme anprobiert, Tänze choreografiert; Magier:innen und Akrobat:innen probierten ihre Tricks und Kunststücke. Fast 200 Leute waren vor und hinter der Kamera beteiligt, die Energie war überall zu greifen, es hat bei aller Anstrengung unheimlich Spaß gebracht. Wir kehrten dann kurz vor Kriegsbeginn noch ein zweites Mal nach Kiew zurück, um weitere drei Szenen zu drehen. Eine hatten wir gerade abgedreht, als die Nachricht kam – es war die letzte Woche der Olympischen Spiele in Peking –, dass der US-amerikanische Geheimdienst Informationen hätte, denen zufolge Putin in ein paar Tagen den Angriff auf die Ukraine befehlen würde. Die USA und England riefen dann zur sofortigen Evakuierung ihrer Bürger:innen auf, Deutschland und andere europäische Länder folgten. Unsere ukrainischen Teammitglieder lebten bereits seit acht Jahren in einem Infokrieg und haben, abgestumpft durch das ständige Säbelrasseln, diese Warnung nicht ernst genommen. Aber unsere amerikanischen und englischen Schauspieler, die wir erwarteten, reisten nicht mehr an. Da wir die Verantwortung für unser Team nicht tragen konnten und wollten, schickten wir auch alle anderen aus Berlin angereisten Teammitglieder nach Hause. Ryanair hob seine Flugpreise an – Flüge für 28 Euro kosteten schlagartig 900 Euro. Auch ein Beispiel für die Wucherungen der entfesselten Marktwirtschaft – die Nachfrage nach einem gegebenenfalls lebensrettenden Sitzplatz im Flugzeug regelt den Preis. Zu dritt blieben wir dann noch einen Tag, um mit dem ukrainischen Team wenigstens noch einige Räume zu filmen und Drohnenaufnahmen zu machen. Letztlich verließen auch wir das Land: sechs Tage, bevor der zivile Luftraum geschlossen wurde, wie sich dann kurz darauf herausstellte. Ich hoffte damals noch, nach kurzer Zeit wieder zurückkehren zu können. Es fühlte sich falsch an, alles stehen und liegen zu lassen. Heute lebt die Familie unseres ukrainischen Location-Managers mit uns in unserer Wohnung in Berlin, Freunde aus unserem Team in der Nachbarschaft und bei Freunden. Es werden weitere kommen. Und andere Teammitglieder, mit denen wir gerade noch gearbeitet und gefeiert haben, die glaubten, es würde nie so weit kommen, kämpfen jetzt und wir bangen um sie.