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Hillbrowfication wurde 2018 von der Choreografin Constanza Macras in Zusammenarbeit mit der Choreografin Lisi Estarás im Hillbrow Theater in Johannesburg produziert. In der Produktion kamen Performer:innen mehrerer Generationen zusammen; so wirkten 21 Kinder und Jugendliche aus Hillbrow im Alter von 5 bis 19 Jahren und drei professionelle Tänzer:innen aus Berlin und Johannesburg mit.
Vier Jahre nach der Uraufführung sind die Ensemblemitglieder, die damals Kinder waren, inzwischen Teenager. Diejenigen, die Teenager waren, sind nun junge Erwachsene. Einige wohnen immer noch in Hillbrow, andere sind weggezogen. »Mit der Zeit wachsen wir, und ich glaube, die Inszenierung wächst mit uns. Inzwischen betrachten wir sie anders als früher. Und die Welt sehen wir auch anders, unsere Ansichten haben sich verändert,« meint Nompilo Hadebe.
Heute schauen wir gemeinsam auf den Entstehungsprozess zurück und denken darüber nach, wie unsere Erlebnisse der letzten vier Jahre unsere Vorstellungen von der Arbeit, von Hillbrow und von einer Zukunft geprägt haben. Der folgende Text verfolgt die Spuren der Gespräche zwischen den Mitwirkenden Nompilo Hadebe, Tshepang Lembelo, Jackson Magotlane, Tisetso Maselo, Pearl Sig-wagwa aus Hillbrow und mir, Tamara Saphir, einer argentinischen Künstlerin aus Berlin, die im Projekt als Dramaturgin mitgewirkt hat.

Weltraumgeschichten, Zukunftsstädte

Hillbrow ist ein Stadtteil von Johannesburg in Südafrika. Einst als Vorzeigebezirk geplant, wurde das Viertel während der Siebzigerjahre zu einem ausschließlich weißen Gebiet. Mit seinen herrlichen Parks, Hochhäusern und Cafés wurde es später ein eher gemischtes Viertel und ein Schwerpunkt der aufsteigenden Schwarzen Mittelklasse. Gegen Ende der Apartheid verließ die Mittelklasse das Viertel eilig und zog in die Außenbezirke. Immer mehr Gebäude wurden besetzt. Mit dem Verfall des Bezirks gingen die Preise abrupt in den Keller, und Hillbrow wurde attraktiv für Migrant:innen aus anderen afrikanischen Ländern auf der Suche nach günstigerem Wohnraum. In den Neunzigern wurde das Viertel entkernt, Verbrechen, Bandenaktivitäten und fremdenfeindliche Gewalt boomten. Seitdem steht Hillbrow häufig synonym für Verbrechen, Gewalt und Armut.

Tshepang: An Hillbrowfication finde ich gut, dass al­les wirklich dort stattfindet. In Hillbrow gibt es näm­lich nicht nur Gewalt, es hat auch positive Seiten. Es gibt einen starken Zusammenhalt und viele Vereine, die den Leuten helfen. Es ist sehr vielfältig. Hier leben Menschen aus verschiedenen Ländern, vor allem aus Afrika (Mosambik, Namibia, Kongo, Nigeria ...). Für uns Südafrikaner:innen ist das prima, wir können andere Kulturen kennenlernen, sie respektieren und miteinan­der reden.
In Hillbrow war die Gewalt vor vier Jahren schlimmer als jetzt. Ständig wurde ich auf der Straße überfallen. Das war total stressig! Aber seit dem Lockdown habe ich den Eindruck, dass es irgendwie ruhiger geworden ist ... Polizei und Soldaten haben ständig patrouilliert.

Nompilo und Jackson sind anderer Meinung. Wie Tshepangwohnen sie immer noch in Hillbrow, finden aber nicht, dass es sich im Vergleich besonders verändert hat.

Jackson meint sogar: »In vieler Hinsicht ist es schlim­mer geworden. Aber auch unsere Sicht auf das Viertel hat sich verändert.«

Pearl führt das aus: Als ich klein war, war Hillbrow für mich einfach ein Ort mit vielen Leuten. Aber als Teen­ager habe ich mit einem neuen Bewusstsein auch neue Ängste entwickelt. Man hört zum Beispiel von gefähr­lichen Sachen und Drogen. Man sieht, wie die Leute da leben, und kapiert, wie arm die sind! Die wohnen zusammengequetscht in kleinen Wohnungen, die meis­ten Gebäude sind ziemlich heruntergekommen. Die Lebensbedingungen sind ziemlich mies. Ich habe mich eher gefragt: Wieso müssen wir uns damit abfinden? Vielleicht kann man nicht viel ändern, aber wir kön­nen uns doch fragen: Wie können wir das verbessern? Solche Fragen habe ich mir damals gestellt (...) und ich glaube, ein paar von den Fragen kamen in der Pro­duktion vor. Mit viel Fantasie und Humor vermischt, aber sie sind da...

Nompilo: Als wir zum Beispiel über die Verbrechens­rate hier nachgedacht haben, kamen wir schließlich auf eine Geschichte, in der uns Handys aus den Händen wachsen, so dass sie niemand klauen kann!

Als Pearl und Nompilo beschreiben, wie biografische Elemente in die fiktionalen Motive der Produktion einflossen, kommen wir auf die Proben und die Zusammenarbeit zu sprechen.

Die Inszenierung kommt zustande

Tshepang: Ich weiß noch, wie wir am Anfang der Proben einfach zusammengesessen und miteinander über Hillbrow gesprochen haben, über die Tänzer:innen, die hier wohnen, über die Zukunft ... Das hat mir Spaß ge­macht. Der Probenprozess war nicht gerade einfach, andererseits haben wir uns richtig frei gefühlt. Wir konnten alles, was uns damals durch den Kopf ging, auf der Bühne ausprobieren und hier miteinander be­sprechen.

Jackson: Zuerst waren die Proben komisch. Wir haben so viel ausprobiert und hatten keine Ahnung, wie das nachher zusammenkommt. Aber mit der Zeit habe ich begriffen, wie das Stück von einem Thema zum ande­ren übergeht.

Pearl: Ich habe viel über meinen Körper herausgefun­den und was der so draufhat. Ich weiß noch, dass ich irgendwas einmal nicht hinbekommen habe und am nächsten Tag aufgewacht bin und es besser machen wollte. Das hat mir das Selbstvertrauen gegeben, mich nicht einzuschränken, nur weil ich kein Profi bin. Das Team hat immer unterschiedliche Fähigkeiten und Ta­lente gefördert. Dadurch konnten wir uns weiterent­wickeln und das auch zeigen und etwas Besonderes sein. Das war auch gesundheitlich gut! Nach der In­szenierung war ich nicht mehr so müde. Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber ich bin mir ziemlich si­cher, dass wir auch in der Schule besser wurden. Hier bei den Proben fühlten wir uns auch sicher. Wir waren praktisch eine Familie. Hier konnten wir zusammen­arbeiten und uns gegenseitig respektieren.

Nompilo: Die Leute, die da für dieses Stück zusam­menkamen, haben sich respektiert und unterstützt, trotz und wegen aller Alters­ und sonstiger Unterschie­de. Oft haben die Älteren auf die Jüngeren aufgepasst.

Pearl: Und diese Dynamiken, die wir im Theater ent­wickelt haben, reichten darüber hinaus bis in unser Privatleben hinein. Wenn jemand etwas durchmachte oder auf krumme Gedanken kam, haben wir uns zu­sammengetan und geholfen. Wir waren für einander da. Und irgendwie spürt man das in unserem Umfeld, bei unseren Eltern zum Beispiel. Ich will nicht sagen, dass sie Freunde wurden, aber trotzdem haben sie sich wahrgenommen: Sie haben sich geholfen, wenn die Kinder etwas brauchten, wenn jemand Corona kriegte, haben sie Essen gemacht usw. Diese Dynami­ken betrafen also nicht nur uns.

Pearls und Nompilos Bemerkungen über die Gruppendynamik während der Proben erinnert mich an all die Diskussionen über eine »Politik der Achtsamkeit«, die heute in der Kunstszene und der akademischen Welt so verbreitet sind. Ich staune darüber, wie die jungen Darsteller:innen die künstlerische Arbeit spontan mit einer weitergehenden Beziehung verbinden und so einige der Dauerfragen aus Kunst und Politik ganz konkret in den Vordergrund bringen.

Die Zukunft schleicht sich von hinten an

In »Science fiction and the future« berichtet die Autorin Ursula Le Guin über die Vorstellung »quechuasprachiger Andenvölker [...], dass man die Vergangenheit, die man  ja kennt, sehen kann, sie liegt vor einem, direkt vor der Nase. Das ist eher eine Wahrnehmung als eine Handlung, ein Bewusstsein eher als ein Vorgang. (...) Die Zukunft liegt im Rücken, über die Schulter sozusagen. Die Zukunft ist das, was man nicht sehen kann, sofern man sich nicht umdreht und quasi einen Blick erhascht. Und manchmal wünscht man sich, man hätte das nicht getan, denn man wirft einen Blick auf das, was sich von hinten an einen anschleicht.«
Der futuristische Ansatz dieses Projekts hat uns einen gewissen Spielraum gegeben, Gefühle und Gedanken über unsere damalige Gegenwart zu formulieren. Vier Jahre später liegt einiges dieser »Zukunft« bereits hinter uns. Oder vielmehr, um in Le Guins Bild zu bleiben, direkt vor unserer Nase – da es ja unsere Vergangenheit wurde. Wenn wir uns unterhalten, wird uns klar, dass die Zeit für uns unterschiedlich schnell vergeht. Wir lachen darüber, dass vier Jahre für jemanden im mittleren Alter wie mich nicht besonders lang ist, während das den jungen aus der Gruppe ausgesprochen lang vorkommt.

Tisetso: In unserem Stück geht es um die Zukunft, aber eigentlich habe ich den Eindruck, dass die Zu­kunft jetzt geschieht! Wie soll ich das sagen ... Wie die Technik sich entwickelt und langsam, aber sicher die Kontrolle übernimmt. Zum Beispiel haben wir frü­her mit unseren Lehrerinnen und Lehrern gesprochen. Jetzt holen wir uns die Hausaufgaben aus den Sozialen Medien. Hätte ich nicht gedacht, dass die Technik sich dermaßen breit macht.
Man kann nirgends mehr hin ohne Handy. Man geht nicht mehr zur Bank, man überweist Geld mit einer App auf dem Handy. Man besucht seine Freunde nicht mehr, stattdessen ruft man über Video an oder schickt eine SMS, wenn man sich vermisst. Und egal, wo man hingeht, man macht immer Fotos mit dem Handy. Un­ser Gedächtnis befindet sich jetzt auf unseren Handys anstatt in unseren Herzen und Gehirnen.

Tshepang: Vor vier Jahren war mein Bild von der Zukunft noch weniger technologisch, weniger digital ... und dann kam das Metaverse! Alles wird technischer, die zwi­schenmenschlichen Verbindungen gehen verloren.

Pearl: Wenn ich jetzt an die Zukunft denke, kriege ich richtig Angst!
Als die Pandemie losging, waren wir zu Hause, das ging ja noch. Aber dann wurde meine Mutter ernsthaft krank und kam ins Krankenhaus, und zu Hause wurde meine Schwester richtig krank, und noch jemanden aus der Familie im Krankenhaus konnten wir uns nicht leisten, und ich dachte plötzlich: Jetzt kann alles Mög­liche passieren!
Ich höre oft, wie jemand davon spricht, dass das Leben wieder wie früher wird, aber keiner will darüber spre­chen, wie wir jetzt unter diesen neuen Bedingungen leben. Ich glaube, die denken rückwärts. Wir müssen akzeptieren, dass sich Dinge ändern und nach Mög­lichkeiten suchen, wie wir damit klarkommen.

Ich frage mich, ob Pearls Bild davon, dass jemand »rückwärts denkt«, in dieselbe Richtung weist, wie das Konzept der »toxischen Nostalgie« von Naomi Klein: »ein krampfhaftes Festhalten an einer toxischen Vergangenheit und die Weigerung, eine verwickeltere Zukunft mit mehr Querverbindungen zu akzeptieren« – welches der Grund für viele unserer demokratischen, geopolitischen und klimatischen Krisen ist.

Pearl: Wenn ich an all die gefährlichen COVID-­Varian­ten denke, die noch kommen könnten (...) und diesen Überlebensmodus, so »jeder kämpft für sich allein« ... denke ich an Zombies! Ja, ich glaube, wenn ich heute ein Stück über die Zukunft machen sollte, kämen darin Zombies vor.
Als es bei uns in Südafrika noch Apartheid gab, stan­den die Schwarzen auf der einen Seite und die Weißen auf der anderen und so weiter ... Jetzt gehen die Leute anders miteinandern um, je nachdem, wie sie zu die­ser ganzen Impfgeschichte stehen, und niemand hört dem anderen zu. Und wenn man geimpft ist, darf man rein, aber die Ungeimpften nicht. Hierzulande weckt so etwas alte Ängste! Wir durchleben die Geschichte von Ausgrenzung und Trennung noch einmal.

Nompilo: Für mich sieht die Zukunft jetzt düsterer aus. Mir fällt es im Moment schwerer, eine hellere Zukunft zu sehen als vor vier Jahren.

Tshepang antwortet relativ optimistisch: Ich glaube, in Zukunft wird man einen viel breiteren Denkhorizont ha­ben. Alle lernen gerade bestimmte Dinge, alle lesen ... das macht Hoffnung, dass die Menschen sich ohne Stereotype verstehen. Während der letzten Jahre haben wir auf der ganzen Welt Black Lives Matter erlebt. Das hat zu einem Bewusstsein geführt, dass Schwarze an­gegriffen werden. Es ging aber nicht nur um Schwarze. Auch Weiße, die nicht Rassisten sind, fühlen sich an­gegriffen, weil alle sie für Rassisten halten. Alle waren also gestresst, und ich frage mich, wie das am Ende zu einer Einheit führen soll.
Mir ist klargeworden, dass ich für Hillbrow eine Zukunft sehen will, in der alle friedlich und harmonisch zusam­menleben ... Leute mit verschiedener Herkunft leben zusammen und bilden eine Gemeinschaft. Ich will hier Liebe und Harmonie in Vielfalt sehen. Irgendwie glaube ich, dass das jetzt schon hier entsteht, aber ich finde, das könnte noch viel mehr sein.

Über Fiktionen und Realitäten

»Ich will eine Zukunft sehen, in der ...«: Wenn Tshepang seine Gedanken formuliert, muss ich wieder an Le Guins Bild der Zukunft als etwas denken, das per definitionem etwas ist, das wir nicht sehen können. »Wenn wir auf das schauen, was wir nicht sehen können, sehen wir nur Zeug, das wir im Kopf haben. Unsere Gedanken und Träume, die guten wie die schlechten.« Ist dieses »Zeug« derselbe Stoff, aus dem auch unsere Fiktionen sind, die Manifestationen der endlosen möglichen Kombinationen der Elemente unserer Erfahrungen und Realitäten?
Wir diskutieren weiter über die besondere Kraft von Fiktionen und fragen uns, welche Rolle sie für mögliche Realitäten spielen.

Nompilo: Ich glaube, wenn ich ein Bild einer helleren Zukunft male und das irgendwo aufhänge, dann kann jemand, der das sieht, auf bestimmte Ideen kommen. In diesem Sinne glaube ich, dass Kunst tatsächlich die Welt verändern kann!

Pearl: Ich glaube, mit Vorstellungskraft und Fantasie kann man die Realität überdenken. Und allem, was schwierig und traurig und so ist, mal einen Augenblick lang entkommen. Als wir das Stück gemacht haben, hat das uns und unsere Familien, die sich das ange­sehen haben, verändert. Das kam gut an, dass wir Kin­der uns selbst vorgestellt haben, wie alles anders sein könnte und dass wir um uns herum etwas verändern wollten. Davon konnten sie etwas mitnehmen.

Nompilo spricht über eine Szene im Stück, die ihr ge­fällt; darin steht sie mit Lwadlile Thabethe (damals fünf Jahre alt) auf der Bühne:
Ich spreche einen Monolog und er tanzt neben mir, er strahlt so eine weiche und intensive Energie aus. An der Stelle im Stück habe ich das Gefühl, dass wir als Men­schen aufgegeben haben (uns in das gefügt haben, was die Aliens in der Fiktion des Stücks von uns wollten). Das war irgendwie nostalgisch. Ich finde nämlich, dass wir Menschen in der echten Welt auch eine Menge auf­geben ... Wir lassen Politiker Sachen entscheiden, die komplett sinnlos sind. Aber in dem Stück gibt es gleich nach dieser Stelle einen Kampf. Und da spüre ich die Energie, ich denke, wenn wir in echt so zusammenhalten könnten wie da auf der Bühne und zusammen kämpfen könnten, würde es so etwas wie Rassismus und Xeno­phobie nicht geben. Mit so etwas wie dem Coronavirus würden wir im Handumdrehen fertig!

Auch für Tshepang ist das der schönste Moment im Stück. Für ihn geht es dabei um Einheit, darum, für einander einzustehen: Verschiedene Leute aus verschiedenen Ländern – was wäre, wenn wir uns zusammentäten und für Harmonie und Frieden sorgten? Das ist für mich etwas ganz Besonderes. Einheit bleibt bestehen, trotz aller Unruhe und verschiedener Ansichten.

ICH MUSS ETWAS ERLEDIGEN, ABER ES IST HOFFNUNGSLOS. ICH WILL WEG, EHE MIR DAS MORGEN UM DIE OHREN FLIEGT. HE, DAS MORGEN IST NOCH NICHT GESCHEHEN. ICH WÜRDE SAGEN, GIB IHM MAL EINE CHANCE. Andrea Hairstone, Mindscape

TAMARA SAPHIR, studierte Tanz und Theater in Buenos Aires und Paris, wo sie außerdem ihren Master in Philosophie machte. Seit 2009 lebt sie in Berlin und arbeitet als Performerin und Dramaturgin für Unternehmen wie Constanza Macras/Dorkypark, Ariel Efraim Ashbel and Friends, Eva Meyer-Keller, Juli Reinartz, Santiago Blaum and Dirk Cieslak/Lubricat. Sie gründete das Perfomer-Kollektiv ‘TnT’ mit ihrer Schwester Tatiana Saphir. Sie arbeitete auch als choreografische Beraterin für Theaterprojekte mit dem Jungen DT und Showcase Beat Le Mot u.a.