© Claudia Herzog

Hinweis: Lukas Bärfuss hat diesen Text Anfang März 2022 geschrieben. 

Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Der Krieg in der Ukraine macht den morgigen Tag, die kommende Stunde, die nächste Minute unvorhersehbar. Je näher das Epizentrum des Kriegs, umso kürzer die Berechenbarkeit. Auf ihrem Minimum ist sie in diesen Februartagen in Kiew, in Mariupol, in Charkiw. Der nächste Augenblick kann den Tod bringen oder die Rettung, Ausbombung oder gelungene Flucht, eine Hand, die tötet, eine andere, die den Verlorenen noch aus den Flammen zieht.
Alles hat sich verändert. Was noch gestern verrückt schien, ist heute vollkommen vernünftig. Die Möglichkeit eines Atomkriegs einzuplanen ist keine Frage des Wahnsinns mehr, jetzt es eine Frage der Verantwortung.
Alles ändert sich, zuerst das Verständnis für die Dinge und die Begriffe, die wichtigen und die weniger wichtigen. Auch der Titel einer Veranstaltungsreihe steht im neuen Licht. Vor kurzem haben wir in Die Natur des Menschen zuerst die Natur gesehen, die Fragen und die Aufgaben, die sie uns stellt. Jetzt sticht uns plötzlich der Mensch ins Auge, sein innerstes Wesen, seine Möglichkeiten, die metaphysischen und irrationalen Dimensionen seiner Existenz. Ist er böse? Und war er es immer? Und wird ein Teil immer böse sein? Gibt es eine Eigenschaft, auf die wir uns verlassen können? Oder bleibt alles an ihm schwankend, den Umständen geschuldet?

Wie kann man sich diesen Fragen verweigern, wenn man morgens und mittags und abends den Blutdurst sieht, die Lust an der Vernichtung, der unbedingte Wille zum Krieg, der Glaube an die Bomben, an den Terror? Wir sehen zu deutlich, wozu Menschen fähig sind. Die Städte in Schutt und Asche, Millionen auf der Flucht, der Tod regiert, das menschliche Leben ist nichts wert.

Alles verändert sich, und alles bleibt sich gleich.
Jeder Krieg entwertet. Er makuliert Ideen, zerstampft Hoffnungen, verbrennt Träume. Er vernichtet Wirtschaftspläne, die außenpolitische Doktrin, Konjunkturerwartungen, wissenschaftliche Analysen, die Faltblätter für das Publikum. Die eigene Geschichte verliert ihre Gewissheiten. Alles steht unter einem Vorbehalt, alles muss sich erklären. Die Sprache, die Eliten, die Sprache dieser Eliten, die Modelle, die Analysen und Vorhersagen, das gesicherte Wissen und die instinktiven Vermutungen: All dies war untauglich, nutzlos gegen diesen Krieg. Kein Abkommen, keine Einschätzung, kein Plan und keine Untersuchung haben ihn verhindert. Warum ist das so? Was haben wir nicht bedacht? Wofür waren wir blind? Oder ist es bloß, weil das Böse an die Macht gekommen ist? Aber das ist nur eine Entlastungskonzentration. Aus den Irrtümern werden Entschuldigungen.
Das Böse erscheint als Mensch, das irgendwie in seinen Palast gekommen ist. Auch das Böse muss sich realisieren, es braucht eine Umwelt, Bedingungen und Prozesse. Machtlos ist das Böse nur eine Möglichkeit. Wer hat dem Bösen also beim Bösesein geholfen? Wer wurde ihm Komplize? Wir? Wer ist dieses Wir? Wer hatte Einfluss, wer hatte die Verantwortung, wer hätte etwas tun können? Wer hat sich einer Unterlassung schuldig gemacht? Wo wurden die falschen Entscheidungen getroffen? In der Familie? In den Schulen, den Betrieben, in der Politik? Wo? Werden wir es wagen, diese Fragen zu stellen und die Schlüsse daraus zu ziehen?

DIE EIGENE GESCHICHTE VERLIERT IHRE GEWISSHEITEN. ALLES STEHT UNTER EINEM VORBEHALT, ALLES MUSS SICH ERKLÄREN. Lukas Bärfuss

Die Glaubenssätze der westlichen Gesellschaften entpuppen sich als Lebenslügen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit führt nicht zwingend zu Integration, und Integration führt nicht zwingend zum Frieden. Was dort gelungen ist, ist anderswo ein Schaden. Das Prinzip der Montanunion hat Frieden und Wohlstand für Deutschland und Frankreich gebracht. Die Produktionsmittel sollten so eng verflochten sein, dass keine Partei sie nach territorialen Grenzen trennen kann. Das eigene fällt zusammen mit gemeinsamem Interesse: Dieses Prinzip steht am Beginn der europäischen Einigung. Nach innen erfolgreich, hat es an seinen Rändern Widersprüche sichtbar gemacht, die seit vielen Jahren offen auf dem Tisch lagen: in Griechenland, in der Türkei, im Mittelmeer, in Großbritannien, auf dem Balkan, in Russland. Aus diesen Widersprüchen wurden soziale, wirtschaftliche, kulturelle und schließlich, in der Ukraine, ein militärischer Konflikt.
Es gibt für diese Lebenslüge eine große Zahl geschichtlicher Parallelen. Jede ist fürchterlich.

Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Wir wissen nicht, was der morgige Tag bringt, die nächste Stunde.
Und gleichzeitig verstehen wir genau, wie unsere Zukunft aussieht. Das Fenster schließt sich. Viel Zeit bleibt nicht, um die Katastrophe abzuwenden. Wir wissen alle, was getan werden muss. Das Ziel jeder politischen Maßnahme muss sein, den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren, und zwar jetzt, und zwar in einer Größenordnung, die unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft, zu einer neuen, zu einer nächsten industriellen Revolution zwingt. Woher die Energie für weniger Energie?

UNSERE GESELLSCHAFT, DIE WESTLICHE, LIBERALE DEMOKRATIE, IST VERLETZLICH, WEIL SIE EINEN INNEREN WIDERSPRUCH NICHT GELÖST HAT. Lukas Bärfuss

Wir wissen auch, dass diese Aufgabe die nächsten Generationen beschäftigten wird, und wir wissen auch, dass diese Aufgabe nur global gelöst werden kann. Aber wie soll das geschehen, in einer Welt, die in strategische Hemisphären zerfällt? In einer Welt, die den Krieg als Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen nicht überwunden hat? Denken wir an eine CO2-neutrale Aufrüstung? An Panzer aus erneuerbaren Energien? Waffen werden moderner, der Krieg bleibt, was er war: blutig, hoffnungslos, am teuersten bezahlt von den Ärmsten, von jenen, die nicht fliehen können, nicht vor der Einberufung und nicht vor den Bomben.

Brauchen wir neue Glaubenssätze, brauchen wir einen neuen Irrtum? Die Illusionen, die Erzählungen bestimmen die Geschichte. Die Projektionen, die Ängste und die Sehnsüchte der Menschen leiten ihr Tun. Wir glauben, was uns dienlich ist, was unsere Vorstellung nicht ins Wanken bringt, die Vorstellung, wie die Welt zu sein hat. In den letzten vier, fünf Generationen sollte die Welt vor allem wirtschaftlich und berechenbar sein. Wir haben Informationen gesammelt, wir haben das menschliche Leben zu einem Datensatz gemacht, wir vergleichen diese Daten und erstellen Rankings und Ratings, die wir global anwenden. Wir vermessen, wir fügen die Zahl in eine Tabelle, sie erscheint in einer Spalte und in einer Zeile, und beides bedarf der Erfindung einer Kategorie. Ohne Kategorien keine Preise, keine Werte, keine Währung, kein Vermögen und kein Status. Aber die Kategorien wie die Warte, die Spalten wie die Zeilen, die X- und die Y-Achse: Alles Modelle, nichts davon ist die Welt.

Die Welt ist reich, und sie ist weder friedlich noch sicher. Frieden und Sicherheit sind betriebsökonomisch ein Mangel: Die Angestellten gewöhnen sich an Abläufe, während das Unternehmen, will es am Markt bestehen, sich beständig transformieren muss.
Unsere Gesellschaft, die westliche, liberale Demokratie, ist verletzlich, weil sie einen inneren Widerspruch nicht gelöst hat. Sie ist abhängig von Tyrannen, von Autokraten und Diktatoren. Unsere demokratische Gesellschaft ist erpressbar durch ihren Energiehunger, durch diese unstillbare Gier nach Öl, nach Gas, nach Kohle.
Die westlichen Demokratien sind süchtige Gesellschaften. Auf gewisse Betriebsstoffe können sie nicht verzichten, sie kann sie höchstens ersetzen, substituieren, und dies nur mit Geduld und unter Qualen.

Die Betriebsmittel unserer westlichen Demokratien werden nach Rezepten eingesetzt, nach Regeln, die heute esoterisch erscheinen. Die makroökonomischen Heilsworte lauten Wettbewerb, Wachstum, Marktdynamik. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Krieg und Wirtschaft. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Öl, das unsere Stuben heizt, und dem Öl, das die Waffensysteme herstellt und antreibt.

Vorstellungen, wie wir aus dieser tödlichen Falle entrinnen können, in die uns die moderne Gesellschaft geführt hat, gibt es zwar, aber auch das Okapi und den Schneckenkönig gibt es, einfach sehr selten. Selbst der Gedanke, jemand könnte eine Utopie haben, wirkt utopisch. Entwürfe sind nutzlos. Die Welt ist schließlich gebaut, wir können sie im besten Fall entwickeln. Dazu brauchen wir den technologischen Fortschritt. Er ist das Äußerste an visionärer Kraft. Die Lösung muss und wird instrumentell sein, höhere Effizienz, geringere Kosten, verbesserte Produktivität. Für den Rest, für die Kolbenklemmer, für die porösen Stellen des Systems bedienten wir uns einer alten Methode, der Flickschusterei.

Wie wichtig nahmen wir den Nutzen, wie nebensächlich war uns die Freude! Wer traute sich, auf ihr zu bestehen? Wer wagt es jetzt noch, aus der Fülle seiner Lebenswelt, außer der Knappheit seiner Lebenszeit zu argumentieren? Wer versucht eine Politik, die auf die guten Momente im menschlichen Leben setzt? Wer begreift die Freude als soziale Größe? Wer begreift, wie kostbar sie ist, wie selten, wie knapp? Wer darauf besteht, muss mit Kürzungen rechnen und mit dem Hohn und Spott der Macht. Die Macht verlangt Kennzahlen, und in eine solche passt die Freude nicht, der Hass nicht, die Träume nicht, nicht die süßen, nicht die Albmahre.

Was berechenbar war, hielt man für realistisch, hielt man für die Wirklichkeit, aber Gleichungen sind Traumgebilde, bestenfalls Symbole, und sie neigen dazu, Fetische zu werden. Sie bilden ab, was sie fassen können, und sie schließen damit das meiste, das Wesentliche aus. Gleichungen schaffen Abwesenheiten, in das Fassbare kehren sie zurück als Gespenster.

Das Bewusstsein des Menschen, wozu er fähig ist, im Guten wie im schlechten, nichts passt in eine Formel, in keine Evaluation, in keine Zahl. Das menschliche Wesen ist weder mit Buchhaltung noch mit Rechnungsführung zu fassen, nicht mit ihren Instrumenten, nicht in den Prozessen, und alle, die glauben, das Controlling würde den Betrieb durch Kontrolle sicherer machen, sind gefährliche Phantasten.

VORSTELLUNGEN, WIE WIR AUS DIESER TÖDLICHEN FALLE ENTRINNEN KÖNNEN, IN DIE UNS DIE MODERNE GESELLSCHAFT GEFÜHRT HAT, GIBT ES ZWAR, ABER AUCH DAS OKAPI UND DEN SCHNECKENKÖNIG GIBT ES, EINFACH SEHR SELTEN. Lukas Bärfuss

Widersprüche verursachen Spannung. Wenn diese zu groß wird, bricht jedes System. Dauerhaft kann es werden, wenn es über seine eigenen Grenzen hinausdenkt, wenn es seine Negation in die Perspektive nimmt, wenn es zur Kritik fähig bleibt und diese Kritik zur Grundlage seiner Entscheidungen macht.

Viele unserer gesellschaftlichen Institutionen verfolgen einen anderen Zweck. Sie wollen Widersprüche nicht bennen, sie wollen sie verdecken. Und wenn das nicht gelingt, macht man sie wenigstens erträglich. Sollte gerade noch die ökonomische Logik uns vor allen Widersprüchen retten, so flüchtet man sich jetzt übergangslos in die militärische. Aber vielleicht haben die beiden Logiken den selben Ursprung in der einen Logik, in jener des Krieges. Wir zerstören Städte, Staaten, wir zerstören das Klima, wir zerstören die natürlichen Lebensgrundlagen, wir führen Krieg gegen uns selbst.

Einem beliebigen Bewusstsein das Wissen über die eigenen Defizite, Grenzen und Aporien zu tilgen, ist mit Aufwand verbunden. Menschen kennen verschiedene Strategien der Verleugnung und der Selbsttäuschung. Die Vorbedingung dazu ist der Instinkt für Brüche, für die schlechten Gerüche, wenn an einer Sache etwas faul ist. Menschen erkennen die Grenzen der eigenen Welt, die Inkohärenzen und die Paradoxien, sie wissen von der Endlichkeit der Existenz, und sie stellen Fragen nach den ersten und nach den letzten Dingen.

People always fight the last war. So heißt es in der englischen Redensart. Bedeutet sie, dass die Menschen die gegenwärtigen Konflikte an den geschichtlichen messen, an jenen, in denen sie schon eine Erfahrung gesammelt haben? Das würde einen Fehlschluss, aber gleichzeitig die Möglichkeit beweisen, aus der Geschichte vielleicht nicht zu lernen, aber immerhin Schlüsse zu ziehen. Wenn diese Redensart aber Blindheit für das Momentane und das Zukünftige bedeutet, dann könnte man an keine Politik glauben, nur noch an den Zufall, das Schicksal oder die Vorsehung, auf Größen, die jenseits der menschlichen Einflussnahme stehen.

Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Und wir wissen genau, was mit uns geschieht. Beide Sätze sind wahr. Sie beschreiben keinen Widerspruch, sie beschreiben einen Zusammenhang. Die Natur des Menschen lässt sich nur in diesem Zusammenhang darstellen. Und Literatur ist nichts anderes, versucht nichts anderes. Wann immer Menschen geschrieben haben, haben sie über die eigene Unzulänglichkeit nachgedacht, über die Grenzenlosigkeit des Gedankens in der Beschränktheit des eigenen Daseins. In der Kunst, so steht irgendwo, sei nichts ohne sein Gegenteil wahr. Wer findet eine bessere Beschreibung für die Größe, für die Fürchterlichkeit, für die Macht und die Hilflosigkeit, für die Natur des Menschen?

LUKAS BÄRFUSS, geboren in Thun (Schweiz), Dramatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u.a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, ist Kurator und Gastgeber der musikalischen Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen, die wir in dieser Festivalausgabe zu den Themen Natur und Propaganda, Natur und Demokratie und Natur und Bewusstsein fortsetzen. Sie stellt sich die Fragen der doppelten Lesbarkeit ihres Titels: »Was ist das Wesen des Menschen?« und »Mit welchem Begriff der Natur operiert der Mensch eigentlich in den gegenwärtigen Diskussionen?«