Heinrich Ignaz Franz Biber

Das Geistliche und das Weltliche – in der Barockzeit waren es Sphären, die sich nie begegnen sollten, die sich naturgesetzartig ausschließen wie Tag und Nacht, wie Leben und Tod. Ein Leibeigener aus der böhmischen Provinz zog aus, diese scheinbar unumstößliche Regel aus den Angeln zu heben. Sein Mittel? Musik. Und zwar die virtuoseste, eigensinnigste, waghalsigste, die sich seinerzeit denken und finden ließ. Heinrich Ignaz Franz Biber, geboren 1644, gelang allein durch seine Kunst, die seinerzeit explizit als »pizar« eingestuft wurde, ein Aufstieg sondergleichen, und dies trotz seiner exzentrischen Gesinnung, die ohne Zugeständnisse an gültige Konventionen auskam. Mit Titeln wie Fidicinium Sacrum-Profanum oder Sonata die Pauern-Kirchfahrt genannt machte er unmissverständlich klar, worauf er hinauswollte: Wo Gott ist, ist auch die Welt – und wo die Welt ist, ist Gott. So war er sich auch zu einer Sonata representativa nicht zu schade: Violinistische Stimmenimitationen von Hühnern, Fröschen und Nachtigallen bilden hier den musikalischen Kern. Biber hatte weder Komik noch Klassenkampf im Sinn, so viel war auch der Obrigkeit klar, die ihn 1690 in den Adelsstand erhob. Er wollte lediglich verständlich machen, dass Gott keine Grenzen kennt. Er ist niemandem vorbehalten, keinem Klerus, keinem Adel. Er ist für alle und in allen und allem. Im Erzbischof wie im Huhn.

Unter diesen Vorzeichen sind um 1674 auch seine Mysteriensonaten (auch Rosenkranzsonaten genannt) entstanden. Obschon sakrale Musik in aller Regel mit liturgischem Text einherging, während virtuose Soloinstrumentalmusik mit Unterhaltung bei Hofe und in der Kammer assoziiert war, lassen sich die fünfzehn Sonaten für Violine und Generalbass in Tanzsuitenform als sakrales Werk verstehen. Sie durchwandern Stationen im Leben Marias und Jesu: von der Verkündigung über die Geburt, die Geißelung, die Kreuzigung, die Auferstehung, bis hin zur Krönung Mariae im Himmel. Entsprechend ist der Rosenkranz dreigeteilt in einen freudenreichen, einen schmerzhaften und einen glorreichen.

Biber involviert sein Publikum direkt in den Prozess des Unfassbaren: die Transzendenz im Leben, Sterben und Auferstehen Christi. Und er tut es auf dem Weg der Sinnlichkeit, einer Kommunikationsebene potenter, unmittelbarer und konkreter als jedes Wort. So konkret bisweilen, dass man es Programmmusik nennen könnte; denn so wie dort die Hennen gackern und die Frösche quaken, schlägt hier der eiserne Hammer die Nägel ins Kreuz, bohren sich die spitzen Stacheln der Dornenkrone ins Fleisch, erschallen triumphal die Trompeten (auf der Geige), wenn Christus in den Himmel fährt.

Aber Bibers sinnlicher Zugriff macht bei der Bildlichkeit nicht halt, er dringt unter die sichtbare Oberfläche in die immaterielle Welt von Spannung und Atmosphäre, von Farbe, Licht und Glanz ein, die sich über den Klang vermittelt. Dafür greift er zum damals noch kaum genutzten Mittel der Skordatur (Verstimmung der Violinsaiten) – und verfährt damit so kühn, dass es im Extremfall an Dekonstruktion und Umbau des Instruments grenzt (Kreuzung der zwei mittleren Violinsaiten in der Sonate XI). Zum einen ermöglicht ihm die Skordatur gewisse Akkorde, die bei der herkömmlichen Quintenstimmung kaum zu intonieren wären, zum anderen erschließt sich Biber hier durch höhere oder niedrigere Saitenspannung einen Reichtum an expressiven Klangfarben, die in der Geige verborgen sitzen. Dumpf und resonanzarm klingt demnach das Instrument auf Christus’ Kreuzgang, strahlend, hell und voller Leben wiederum bei seiner Auferstehung. Unter Verwandlung und Auflösung instrumentaler und klanglicher Substanz offenbart sich das fünfzehnstufige Exerzitium der Einkehr als große Meditation, die entlang der Christusgeschichte zusehends transzendentere Stadien erreicht, als gehe man Seite an Seite mit Jesus seinen Weg über den Tod hinaus ins ewige Leben.

Gérard Grisey

Bibers Suche nach dem schwer greifbaren, aber umso expressiveren Vokabular, das sich jenseits reiner Tonhöhen verbirgt, war mit diesem Skordatur-Abenteuer nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, sie weist über viele Epochen in die Zukunft, wo dieser Wunsch immer wieder laut wurde – und bei einer Handvoll Komponisten im Paris der 1970er Jahre so laut, dass sie daraus ein neues System ableiteten: Gérard Grisey und seine Kollegen Hugues Dufourt, Michaël Levinas und Tristan Murail gründeten 1973 das Kollektiv L’Itineraire, das sich der Komposition mit dem Obertonspektrum von Tönen verschrieb. Das bedeutet: Anstelle der herkömmlichen 12 Töne, aus denen sich die chromatische Tonleiter zusammensetzt, komponieren sie mit den Obertönen, die beim einzelnen Ton mitschwingen. Diese physikalisch begründeten Naturtöne bilden eine weitläufige Skala, die immer weiter von der temperierten Stimmung in den Bereich kleinster Mikrotöne abweicht, je höher sie steigt. Sie bildet die Grundlage einer eigenen Harmonik, die hauptsächlich auf die Klangfarben (Timbres) ausgerichtet ist, die man erzielen möchte. Denn die spezifische Konstellation von Obertönen ist es, die die Farbe eines jeden Klangs generiert und definiert. Anders als der vordergründig erklingende Grundton wird die Klangfarbe auf einer schwer zu verortenden Ebene wahrgenommen: Es ist gewissermaßen die Aura des Tons.

© Gerard Grisey Estate

Spektralmusik (musique spectrale) ist die offizielle Bezeichnung, wobei Grisey den Begriff Schwellenmusik (musique liminale) bevorzugte, da ihre Domäne die hochaufgelösten Randgebiete und Binnenstrukturen der Töne sind. Dank der besagten mikrotonalen Technik werden aus harten Tongrenzen durchlässige Membrane, lebendige Gewebe, durch die man in andere, scheinbar unzugängliche Sphären übergehen – oder metaphysisch gesprochen: transzendieren kann. In keinem seiner Werke erfüllt sich dieses Potenzial musikalisch wie inhaltlich so umfassend und explizit wie in seinen Quatre chants pour franchir le seuil (Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten) von 1998, Griseys letztem Werk, bevor er 52-jährig plötzlich an einem Aneurysma starb. Die Schwelle, die er hier viermal passiert, ist jene ultimative zwischen Leben und Tod. Die Gesänge sind poetische, metaphysische Manifestationen von Leere, Stille, Verschwinden, von Echos und Schatten im existenziellen wie im akustischen Sinne. Tatsächlich sah Grisey in den Obertonspektren eine Art immaterielles Schattenreich: »Mit dem Schatten der Klänge zu komponieren, bedeutet das Imaginieren einer Instrumentierung, die die Tiefen beleuchtet, in denen die verschiedenen Farben (timbres) zum Leben erwachen«, schreibt er in seinem Buch Ècrits ou l’invention de la musique spectrale. Vier poetische Fragmente aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen führen in den Quatre chants über die Schwelle: in Tod des Engels offenbart der Dichter Christian Guez-Ricord, dass die Lebensaufgabe eines jeden in seinem Sterben liegt; in Tod der Zivilisation stellen altägyptische Sarkophaginschriften den Eingang in eine astrale Dimension nach dem Tod in Aussicht; in Tod der Stimme blickt die 19-jährig verstorbene griechische Dichterin Erinna ins Reich der Schatten, wo jeglicher Schall erstickt; in Tod der Menschheit schließlich beschwört eine Passage aus dem Gilgamesch-Epos die apokalyptische Sintflut - und die Ruhe, die ihr folgt: Alles, auch die Menschheit, hat sich aufgelöst, verflüssigt. Das schlammartige Meer, das zurückbleibt, ist die Quelle neuen Lebens. So wird das Wiegenlied, mit dem Grisey seine Schwellengesänge beschließt, zum Geleit nicht in den ewigen Schlaf, sondern in ein neues Dasein. Leben ist Tod ist Leben. Anfang ist Ende ist Anfang.

Olivier Messiaen

Auch Griseys Lehrer Olivier Messiaen, 1908 geboren, assoziierte mit dem Tod des Leibes nicht eine Begrenzung oder gar das Ende. Ganz im Gegenteil – wie schon seine Antwort auf die Frage, ob er sich für Raumfahrt interessiere, nahelegt: »Ja, das ist wunderbar, aber ich denke, dass sie mir nach meinem Tod auf ganz natürliche Weise ermöglicht werden wird, wenn weder Entfernungen noch die Materie mich mehr werden aufhalten können.« Messiaen ist ein Mann des Überzeitlichen. Der Tod ist kein grimmiger Schnitter, der allem Schönen und Lebendigen ein Ende setzt. In Messiaens Liederzyklus Harawi (1945) bringt der Tod wahre Liebe überhaupt erst zur Erfüllung. Inspiriert von der transzendenten Idee des Liebestods aus dem Tristan-Mythos schuf Messiaen eine ganze Werktrilogie. Und Harawi, deren erster Teil, beschwört einen Typus Liebeslied aus der Andenregion, bei dem der Tod der Liebenden das definierende Element ist.

© Malcolm Ball

Messiaens sublimierter Liebesbegriff geht aus seinem christlichen Glauben hervor, der die göttliche Liebe als die einzig wahre anerkennt. Und im Liebestod wird die menschliche Liebe quasi von der göttlichen berührt, wodurch sie selbst zu einer ewigen wird. Ob als Komponist, Ornithologe oder Organist – Messiaen widmete sein ganzes Schaffen der Fassbarmachung des Heiligen, Immateriellen, Spirituellen. Ekstase und Exzess, die notwendig sind, um den Menschen seiner alltäglichen spirituellen Begrenztheit zu entheben, sind daher Schlüsselmomente seiner Musik. Häufig dienen ihm Kontemplation und Meditation als Mittel, die christlichen Mysterien musikalisch erlebbar zu machen. Aber auch der indirekte, oft rauschhafte Weg über vermittelnde Instanzen wie Farben (als Synästhet sah er Klänge tatsächlich als konkrete Farben vor Augen) oder Vogelgesang (er übertrug dessen melodische und rhythmische Strukturen in Musik) ermöglichte ihm, das Unbegreifliche hörbar zu machen. Dass er in seiner Musik als zutiefst Gläubiger meist Ungläubigen von Gott kündete, empfand er als Tragödie seines Lebens. Bereits in seinem frühen Orchesterwerk Les offrandes oubliées (Die vergessenen Opfer) von 1930 klingt diese verzweifelte Erkenntnis Messiaens an. In dieser sinfonischen Meditation ruft er das Opfer Christi, der für die Menschheit am Kreuz gestorben ist, in Erinnerung. Ein sanfter Farbenrausch, in dem er den Zuhörer ertrinken lässt, um die Liebe Christi spürbar zu machen, rahmt das Werk. Im Zentrum aber steht der Schmerz, die musikalische Inkarnation der Sünde, die diese Atmosphäre scharf und jäh zerschneidet, das göttliche Liebesopfer quasi schändet.

Galina Ustwolskaja

Eine Frau, die Messiaen in seinem Schmerz und seiner Verzweiflung verstanden hätte, ist Galina Ustwolskaja, die vielleicht kompromissloseste Komponistin des 20. Jahrhunderts. So kompromisslos, dass sich ihre Musik in der Welt, in der sie lebte, gänzlich verbat. Und sie sie trotzdem schrieb. Und sei es für die Schublade. Fremd und ungestüm schlug ihre Klangsprache, die keiner Schule und keiner Strömung folgte, in die zeitgenössische Musiklandschaft im Russland der Nachkriegszeit ein. Das Handwerk hatte sie von Dmitri Schostakowitsch erlernt, dessen Schüler:innen für ihre Schostakowitsch-Mimesis bekannt waren. Nicht so Galina Ustwolskaja. Ihr Lehrer bewunderte ihre Eigenständigkeit, hielt sogar um ihre Hand an, ohne Erfolg.

Mit ihrem unbestechlichen Charakter war Galina Ustwolskaja 1919, zwei Jahre nach der Oktoberrevolution, in eine denkbar ungünstige Zeit hineingeboren. Die Familie lebte in materieller Not, ihre Kindheit und Jugend waren von profundem Einsamkeitsgefühl überschattet. Einzelgängertum pflasterte ihren Lebensweg, auch wenn dies der normierenden Staatsdoktrin des Sozialistischen Realismus, der seit Anfang der 30er Jahre den Kulturbetrieb bestimmte, quer entgegenstand. Religiöse, spirituelle Inhalte in Musik zu verarbeiten, wofür Ustwolskaja bekannt wurde, war selbst nach Stalins Tod 1953 jahrelang tabu. Die meisten ihrer Werke der 40er und 50er Jahre, die der Staatsdoktrin zumindest äußerlich Rechnung tragen (darunter ihre 1. Sinfonie von 1955), wollte die Komponistin später aus ihrem Werkkatalog, der nur 25 gültige Stücke zählt, verbannt wissen.

Zwischen 1960 und 1970 ergriff Ustwolskaja die konsequent drastische Maßnahme, praktisch gar keine neuen Kompositionen mehr an die Öffentlichkeit zu bringen. Nach ihrem Wiederauftauchen im sowjetischen Musikleben weisen ihre Werke fast ausnahmslos religiöse, liturgische Titel und Texte auf. Im Unterschied zu Messiaen ist Ustwolskajas Religiosität aber an eine abstrakte göttliche Macht gerichtet, stellt sich nicht in den Dienst einer Glaubensinstitution. Auch ästhetisch dominiert bei ihr eine ganz andere Sprache: Anstelle von Entwicklung, Fluss und Farbenrausch stehen hier Klarheit, Bruch und Kollision. Harmonik kennt ihre vollkommen horizontal konzipierte Musik höchstens in Form von Clustern (dichten Tonballungen), wie sie etwa die 3. Sinfonie in eindringlicher Wiederholung eröffnen.

Während das politische Tauwetter der 70er Jahre viele russische Komponist:innen veranlasste, die westliche Avantgarde zu erforschen und für ihre Arbeit fruchtbar zu machen, veränderte sich Ustwolskajas Musik nur dahingehend, dass sie charakteristische Eigenschaften noch radikalisierte: dynamische Extreme, Reduktion der Mittel und ungewöhnliche Konstellationen von Instrumenten. Dazu kommt die Eigenart, in ihren Sinfonien kein volles Orchester mehr einzusetzen. Nicht einmal annähernd: Instrumente der Mittellage entfallen typischerweise, manchmal sogar ganze Instrumentenfamilien: in der 2. Sinfonie etwa die gesamte Streichersektion. Mit jeder Sinfonie wird die Besetzung kammermusikalischer und die klangliche Kontrast- und Konturschärfung intensiver, was Ustwolskaja mit ihrer Tendenz zu schmerzhaft scharfen, harten Einsätzen noch potenziert.

Schmerz ist nicht nur ihr Begleiter im Rückzug von der Welt, Schmerz ist auch das Transportmittel, das Galina Ustwolskaja in ihrer Musik in eine andere Sphäre befördert. Das Gefühl der Überwältigung wird bisweilen zu einem geradezu körperlichen Erlebnis, hinter dem sich eine metaphysische Dimension auftut – und um diese scheint es der Komponistin zu gehen. Der Schmerz, der in die wiederholten Faustschläge auf das Klavier und die brachialen Paukenschläge eingeschrieben ist, evoziert in der 3. Sinfonie Gedanken an Selbstkasteiung und Selbsterniedrigung angesichts der höchsten, rettenden Macht, die sie im Text anruft. Es ist, als würde im Schmerz der in der Realität gefangene Körper zum Fluchtweg in eine überkörperliche, sublimierte – oder eben metaphysische Sphäre.

Iannis Xenakis

Dass auch die physische Welt mit all ihren Gesetzmäßigkeiten mehr als nur eine Fessel sein kann, die uns in der irdischen Realität verhaftet hält, hat ein Komponist bewiesen, der Schmerz ebenso kannte wie Galina Ustwolskaja. Als politischer Flüchtling kam Iannis Xenakis mit schwerer Gesichtsverletzung 1947 in Paris an. In Griechenland hatte er im Widerstand gegen die Okkupation durch die Deutschen gekämpft, war verwundet worden, im Gefängnis gesessen, zum Tode verurteilt. Im Pariser Exil fand er in seinem erlernten Beruf als Architekt und Ingenieur im Atelier von Le Corbusier Anstellung. Komponiert hatte er bis dahin nur autodidaktisch, um nun aber das Handwerk systematisch zu erlernen. Seine naturwissenschaftlich geprägte Biografie hatte ihn mit einer Denkstruktur ausgestattet, die in Komponistenkreisen zunächst fremd anmutete. Ausgerechnet Olivier Messiaen, musikalisches Sprachrohr der christlichen Mysterien, erkannte das Potenzial in der Voraussetzung seines Schülers und ermutigte ihn, exakt dieses Denken und Wissen für seine Musik kreativ zu nutzen. Das Resultat: eine in der Musikgeschichte einzigartige, fulminante Stimme, die über ein halbes Jahrhundert zahllose Konventionen (auch die eigenen) produktiv in Frage gestellt hat und für zahllose Komponist:innen ein Quell der Bewunderung und Inspiration wurde.

Die Werke seines umfangreichen Oeuvres beziehen sich nahezu ausnahmslos auf mathematische oder physikalische Gesetze und Phänomene wie Stochastik, Spieltheorie, Mengentheorie, Chaostheorie oder Siebtheorie. Letztere liegt auch seinem Ensemblestück Thalleïn zugrunde. Die ungestüm rohe Kraft seiner glissandostarken, gestischen Musik deutet an, dass hinter diesen scheinbar kühl analytischen Vorgängen emotional prägende Erinnerungen stecken, die für einen musikalischen Ausdruckswillen ausschlaggebend sind, und folge die Komposition auch noch so abstrakten Prinzipien. So lieferte ihm etwa das konkrete Erlebnis der Demonstrationen und Straßenschlachten die gedankliche Substanz zu seinem mathematisch streng durchkalkulierten Durchbruchsstück Metastaseis (im Programm der Ruhrtriennale 2021). »Ich hörte den Klang der Massen, wie sie auf das Zentrum Athens zumarschierten, die Parolenrufe, und dann, als sie auf die Panzer der Nazis trafen, die unregelmäßigen Schüsse der Maschinengewehre, das Chaos«, schilderte er dem Musikverleger Bálint András Varga in einem Gespräch. »Ich werde niemals diese Verwandlung des regelmäßigen, rhythmischen Lärms hunderttausender Menschen in ein fantastisches Durcheinander vergessen... Nie hätte ich gedacht, dass das alles eines Tages wieder hochkommen und zu Musik werden würde.« In diesem Wissen erscheinen auch die sumerischen und assyrischen Silben und Phoneme in seinem Chorstück Nuits als direkte, klar artikulierte Schreie der Widmungsträger dieses Nachtstücks: politischer Gefangener dieser Welt, wie Xenakis selbst einer war, denen die Stimme geraubt wurde.

© Ralph Fassey

So wie die Kriegserlebnisse hatten sich aber auch Natureindrücke aus Vorkriegszeiten in sein Bewusstsein eingraviert, wie er sich später in demselben Gespräch erinnert: »Ich machte oft Ausflüge aufs Land in der Nähe von Athen. Ich nahm dann mein Fahrrad, suchte mir einen Ort aus, wo ich mein Zelt aufstellte, und hörte den Klängen der Natur zu. Zikaden zum Beispiel: Ihr Zirpen kam aus allen Richtungen und veränderte sich ständig. Auch das sind Massenklänge, verstehen Sie?« Paradoxerweise, aber auch faszinierenderweise, erlaubt ihm das Mittel, das ihn einschneidende Erfahrungen mathematisch systematisieren und analysieren lässt, auch ihre emotionale Gewalt deutlicher zum Vorschein zu bringen.

Sarah Nemtsov

Die Essenz einer Sache aus ihrem natürlichen Habitat herauszulösen und auf anderer Ebene sinnlich erfahrbar und tiefer verstehbar zu machen, ist eine Eigenschaft, die auch die Musik der Berliner Komponistin Sarah Nemtsov auszeichnet – wenn auch auf gänzlich andere Weise. Den Impuls zu ihrem Ensemblestück MOOS gewann sie tatsächlich aus einem Naturphänomen, das oberflächlich jedem bekannt ist. Jeder kennt das Gefühl, auf Moos zu gehen, wie es dem Fuß den festen Tritt auf dem Boden versagt, wie der luftig weiche Pflanzenteppich ein angenehm instabiles, fast märchenhaftes Gefühl hervorruft. Sarah Nemtsov hat das Gewächs von Nahem betrachtet. Aus der scheinbar chaotischen Verästelung, die sich horizontal nach allen Seiten ausbreitet, hat sie für ihre Komposition ein System abgeleitet, bei dem die Schlaginstrumente reine Resonatorenfunktion haben. Durch sie erklingen die Instrumente des Ensembles, deren Klang durch Mikrofone abgenommen und über Transducer an sie übertragen wird. Das indirekte Spiel des Schlagzeugers gleicht dem Gang auf Moos: Er reguliert Lautstärke und Verfremdung der Verstärkung, schlägt selbst auf seinen Instrumenten jedoch keinen Ton an.

Zugleich greift Nemtsov die scheinbar unzerstörbare und kaum nachvollziehbare Wucherstruktur von Moos auf anderer Ebene auf: »Kompositorisch sind verschiedene musikalische Elemente horizontal verwoben, momentweise vertikal ›zertreten‹, werden entwickelt und wieder vergessen«, beschreibt sie die Struktur ihrer Komposition und lässt darin das Prinzip Überleben durch Vergessen anklingen – eine Gnade, zu der nicht nur Moos, sondern auch das menschliche Gehirn in der Lage ist.

© Neda Navaee

Immer wieder und in unterschiedlichsten Kontexten übersetzt Sarah Nemtsov ein System auf ein anderes: ein verbales auf ein musikalisches, ein organisches auf ein künstliches, ein psychisches auf ein akustisches. Und so wie sie 2012 in ihrem instrumentalen Musiktheater A Long Way Away Geschichten über Erinnerung von Marcel Proust, W. G. Sebald, Walter Benjamin und Mirko Bonnés ohne Worte, nur durch Instrumente und den Klang von Alltagsgegenständen erzählte, sodass man meint, man hätte die Geschichten gehört, geradezu in ihnen gelebt, beschreibt sie gemeinsam mit der Regisseur:in Heinrich Horwitz in ihrem inszenierten Instrumentalzyklus HAUS durch die Bochumer Turbinenhalle hindurch den Prozess des sich verwandelnden Transkörpers. Wer oder was ermöglicht ihr, allein kraft ihrer Musik den Verwandlungsprozess eines Körpers durch ein altes Industriegebäude hindurch erlebbar zu machen, wenn nicht das Vertrauen in die Macht der Imagination? Das Haus der Imagination ist das Gehirn, das mit Sicherheit metaphysischste Organ innerhalb der menschlichen Physik.

BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater und Konzert der Ruhrtriennale 2021–23. Als Autorin und Moderatorin im Bereich Neuer Musik ist sie seit vielen Jahren für den Deutschlandfunk und die verschiedenen Programme des ARD-Hörfunks tätig. 2018–2020 war sie Dramaturgin für Oper und Konzert an der Staatsoper Stuttgart.