Die 2021 begonnene künstlerische Bespielung der Wege zwischen den Spielorten der Ruhrtriennale wird auch in diesem Jahr fortgesetzt. Drei internationale Künstler:innen entwickeln Begleitformate für drei neue Strecken und ergänzen das bestehende Angebot der fünf lokalen Wege. Als besondere Herausforderung – auch im Sinne des Klimaschutzes – entwickelten die Künstler:innen dieses Jahr ihre Werke ohne Anreise, stattdessen versuchten sie das Ruhrgebiet nur durch Gespräche, Videokonferenzen, Fotostapel und Statistiken zu verstehen. Ein wichtiger Baustein war aber auch der direkte Austausch mit den lokalen Künstler:innen und ihren Erfahrungen. So wie im Ruhrgebiet permanent unterschiedliche Raumnutzungskonzepte aufeinanderstoßen (Felder auf Wohnsiedlungen, Autobahnen auf Industrieviertel und Schienenwege auf Erholungsgebiete) – Wissenschaftler:innen sprechen dabei von Begegnungskanten –, so kommen unterschiedliche Arbeits- und Denkweisen zueinander.

LISANDRO RODRIGUEZ & RUHRORTER

Lisandro Rodriguez aus Buenos Aires begann seine Annäherung damit, dass er uns Fragen schickte, listenweise. Zunächst beantworteten wir sie ihm mithilfe von Statistiken und Grafiken, dann mit immer persönlicheren Einschätzungen und später auch mit Fantasie und Quatsch. Lisandro merkte irgendwann, dass das Fragenstellen seine eigentliche Kunst werden würde. Er probierte die Fragen an den Straßenrändern in Buenos Aires aus und entwarf einen Fragenkatalog für den Weg vom Duisburger Hauptbahnhof zum Landschaftspark Duisburg-Nord. Die Passant:innen werden sie entdecken, still auf sie antworten, sie als Frage weitergeben oder als Infragestellung behalten. RUHRORTER aus Mülheim umschreiben anlässlich dreier seiner Fragen ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Arbeitsansätze:

Lisandro Rodríguez: Ist Kunst der neue Bergbau?
RUHRORTER:
Bergbau ist die arbeits- und technologieintensive Extraktion von Rohstoffen zur Energiegewinnung. Mit deiner Frage können wir darauf schauen, inwiefern Kunst hier in der Gegend eine neue Arbeitsform des Abbaus von Rohstoffen und dementsprechend der Gewinnung neuer Energien darstellt. Anhand der Gründung von Kunstinstitutionen, ungefähr ab Ende der 1990er-Jahre, lässt sich beobachten, dass das Ruhrgebiet seit rund 20 Jahren immer dichter von Künstler:innen und Kunstinstitutionen beackert wird. Zu sehen ist das etwa an der Ruhrtriennale, bei PACT Zollverein, Maschinenhaus Essen, Zeche Eins Bochum, Urbane Künste Ruhr, Hartware KunstMedienVerein Dortmund usw. Sie gesellen sich zu den schon älteren Institutionen, den Stadttheatern, Museen und Konzerthäusern.
Es scheint gute Bedingungen für die Produktion von Kunst zu geben: Geld und Räume für die Institutionen, auch für die Künstler:innen.
Lisandro Rodríguez: Wessen Arbeit ist das?
RUHRORTER:
Künstlerische Arbeit ist etwas ganz anderes als der industrielle Abbau von Steinkohle. Sie ist in der Regel weniger körperlich anstrengend und stellt eine geringere Gefahr für das Leben dar. Auch die langfristigen Umweltfolgen sind weniger schwerwiegend. Ohne die Montanindustrie wären aber wir alle, die diese Antwort schreiben, und diejenigen, die sie lesen, das Magazin, in dem der Text steht und auch das Festival der schönen Künste, das das Magazin herausbringt, gar nicht hier. Nun ist die Kohleindustrie schon lange weg, dorthin, wo die Arbeit billiger ist. Viele Leute bedauern das, weil damit auch ein bestimmtes Lohnniveau verschwunden ist. Es gibt hier einfach nicht ausreichend gut bezahlte Arbeit. Und die Kulturinstitutionen beschäftigen nicht all die Leute.
Die Kultur soll trotzdem einlösen, was der Begriff Strukturwandel (und die sozialdemokratischen Politiker:innen, die ihm das Wort reden) verspricht. Ersetzen, was nicht gleichwertig ersetzt werden kann. Sie sollen einen neuen Raum beschreiben, im Zusammenhang mit Universitäten, Einkaufshäusern und so weiter. Wie das genau geht, ist immer noch nicht ganz klar. Was dann passiert, auch nicht.
Lisandro Rodríguez: Was möchtet ihr zu Tage fördern?
RUHRORTER:
Im Zuge unserer Arbeit sind wir ständig mit Situationen, Menschen und Problemen konfrontiert, auf die wir erst mal keine Antwort haben. Das ist manchmal unangenehm, aber immer eine gute Ausgangsbasis, etwas nicht zu wissen. Es klingt vielleicht kitschig, aber wir lernen und verändern uns dadurch, wenn wir mit Menschen sprechen; etwas aufnehmen und wieder hören.
Unsere Gruppe RUHRORTER hat sich gegründet, um Menschen mit Fluchterfahrung in Mülheim an der Ruhr ein Theaterangebot zu machen. Zum Zuschauen und Selberspielen. Unsere Proben sind Möglichkeiten, zusammenzukommen und sich auszutauschen, sie basieren auf gemeinsamen Improvisationen und nicht auf der Verwendung von Biografien.
Was wir aus der Arbeit ziehen, ist ein anderer Blick auf uns selbst, unsere Nächsten und die Umgebung. Und das möchten wir teilen.

AZADEH GANJEH & DIE BEIDEN KÜNSTLER DES KOLLEKTIVS TEHRAN RE:PUBLIC

Azadeh Ganjeh und die beiden Künstler des Kollektivs Tehran Re:public kennen sich bereits aus früheren Tagen, als sie noch im Iran lebten. Da sie alle Farsi sprechen und gegenseitig ihre performativen Arbeiten schätzen, fiel es ihnen nicht schwer, in einem gemeinsamen Gespräch über das Ruhrgebiet, das Projekt, die Routen und ihre Erfahrungen im vergangenen Jahr zu sprechen. Azadeh Ganjeh hat daraus wichtige Erkenntnisse für ihre Hörstationen ziehen können, die für die Ruhrtriennale 2022 auf dem Weg zwischen Essen und Duisburg eingerichtet werden. In ihrer Arbeit schärfen Audiospuren den Blick auf Flusslandschaften in Mülheim Styrum. Eine Perspektive, die von konkreten Geschichten aus dem Iran überlagert wird. Der hier abgedruckte Austausch vermittelt einen Eindruck von der Arbeit, die Amirhossein Mashaherifard und Shahab Anousha für Bochum entwickelt haben.

Azadeh Ganjeh: Ihr seid Tehran Re:public. Wie empfindet ihr die Verbindung zwischen Teheran und Bochum? Gibt es eine Verbindung?
Tehran Re:public:
Für uns ist das eine organische Verbindung, aber abhängig von dem jeweiligen Projekt. Natürlich kommt es vor, dass wir uns bei einem bestimmten Projekt bewusst für ein Thema entscheiden, das sich auf die Beziehung zwischen Teheran und Bochum oder Berlin bezieht, doch meistens entwickelt sich das ganz natürlich. Denn selbst wenn wir über die Berliner Mauer reden, reden wir ja als Menschen, die aus Teheran stammen. Für uns ist es selbstverständlich, unseren Herkunftshintergrund in unsere Kunst einfließen zu lassen. Wir sehen keine Notwendigkeit, das stets aktiv zu betonen.
Azadeh Ganjeh: Der Audiowalk hat mich sehr bewegt. Ich hatte das Gefühl, als Fremde vollständig verstanden zu werden. Ich hörte die Beschreibung eines Ortes, an dem ich mich gar nicht befand, aber der detaillierte Text, seine Länge und die Pausen erlaubten mir, mir die Landschaft vorzustellen, die ich vor mir hätte sehen sollen. Darin lag für mich eine Botschaft. Ihr könnt euch in die Lage eines Fremden in einer Stadt einfühlen. Das hat sicherlich damit zu tun, dass ihr anders seid. Ihr wisst aus Erfahrung, wie es ist, fremd zu sein.
Tehran Re:public:
Ich denke, das hat zwei Gründe: Zum einen sind wir nicht aus Deutschland, und Shabab hat nie in Bochum gelebt. Wir sind also gewissermaßen Fremde oder »die Anderen« in dieser Stadt. Das gab uns die Möglichkeit, unsere Umgebung auf eine neutralere Art und aus gewisser Distanz zu beschreiben. Zum anderen haben wir versucht, die Bewohner:innen der Stadt in Fremde zu verwandeln. Durch die Strategie der Verfremdung hofften wir, unserem Publikum die Möglichkeit geben zu können, die Stadt in einem anderen Licht betrachten zu können – wie jemand, der sie zum ersten Mal besucht. Vielleicht ist das der Grund, wieso du dich angesprochen gefühlt hast, da auch du fremd in der Stadt bist. Du bist gewissermaßen in derselben Situation wie die Teilnehmer:innen des Audiowalks.
Azadeh Ganjeh: Meine letzte Frage bezieht sich auf eure Intention, einen Blick hinter die Dinge zu werfen, wie es auch in den Audioaufnahmen von Inside Out zu erleben ist. Ihr führt die Teilnehmer:innen in den Bedeutungsraum hinter den Dingen. Ich fand es sehr interessant, wie ihr diesem Phänomenen auf den Grund geht. Wenn urbane Körper Phänomene im Raum sind, in welcher Form tauchen sie in eurer Performance auf?
Tehran Re:public:
Der Ansatz des Dahinterblickens kam aus der Natur der Thematik. Wenn wir über soziales Design sprechen – beispielsweise über das Design einer Sitzbank in der Innenstadt –, dann geht es nicht nur um ästhetische Aspekte, sondern auch um die Doppelfunktionalität dahinter. In diesem Fall bedeutet das, dass man auf der Bank sitzen kann, sich jedoch nicht darauflegen oder sie als Skateboarder befahren kann. Die Dualität des Davor und Dahinter hat hier ihren Ursprung.

LAGARTIJAS TIRADAS AL SOL & LOEKENFRANKE

Bei dem Performancekollektiv Lagartijas tiradas al sol aus Mexiko-Stadt und den Dokumentarfilmer:innen loenkenfranke aus Witten sind Sprache, Form und Arbeitsweise sehr unterschiedlich, aber sie eint vielleicht das Interesse an den konkreten individuellen Tragödien im Alltag, ein humorvoller Blick auf Details sowie der Wille zur Verarbeitung des Realen beziehungsweise ihr Ansatz, das Reale verarbeiten zu wollen. Und so ist es kein Zufall, dass, nachdem loenkenfranke die Besucher:innen auf einen Ausflug ins Grüne zwischen Gelsenkirchen und Essen einluden, Lagartijas tiradas al sol nun zu einer Partie in den Süden Essens laden, um ein Ruhrgebiet jenseits des Gewohnten zu zeigen.

Lagartijas tiradas al sol: Wer seid ihr?
loenkenfranke:
Wir richten unseren Blick konkret auf Menschen und ihre Lebenslagen, Lebensumstände und auf gesellschaftliche Phänomene. Wir spiegeln in unseren Filmen das Politische im Privaten wider und machen große gesellschaftliche Themen im Erleben Einzelner sichtbar.
Wenn wie bei der Montagsdemo in Leipzig von der Menge skandiert wird: »Wir sind das Volk« und plötzlich ein einzelnes Schild »Ich bin Volker« auftaucht, dann beginnt es für uns spannend zu werden.
Lagartijas tiradas al sol: Glaubt ihr, dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart
loenkenfranke:
Wir halten es da sehr mit Alexander Kluge: »Ich hüte mich als Schriftsteller, Cassandra zu sein. Wir wissen über die Zukunft nichts. Ich kann nur über Vergangenheiten oder Gegenwarten reden und ich kann über Möglichkeiten sprechen – im Konjunktiv und selbst Futur 2 kann ich noch: Ich werde gewesen sein. Aber mit der Zukunft habe ich es nicht im Sinn.« Wir beschäftigen uns mit den Gegenwarten, Vergangenheiten und Möglichkeiten in den letzten 15 Jahren, bezogen auf den Wandel der Ruhrgebietslandschaft und der Welt, und wie dieser Wandel die Lebensrealität der Menschen beeinflusst. Unsere Arbeitsweise zeichnet sich dadurch aus, dass wir viele situative Momente drehen, begleiten, genau hinsehen und zuhören. So versuchen wir stets, den Dingen von ihrem Wesen her näherzukommen. Die Gegenwart ist ohne das Bewusstsein über die Vergangenheit nicht denkbar. Die Frage, ob die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart, gehört ins Reich der Spekulation. »Besser als etwas sein« ist eine Bewertung – wir versuchen, nicht zu werten...
Lagartijas tiradas al sol: Worauf können die Menschen in der Region stolz sein?
loenkenfranke:
Die Menschen in der Region haben in der Vergangenheit ungeheure Umbrüche gemeistert und sind gegenwärtig wieder mit einer großen Transformation konfrontiert. Kollektiver Stolz hat immer auch mit Identität zu tun. Hier in der Region wurde diese Identität maßgeblich durch ihre gemeinsame Arbeit in der Großindustrie geprägt. Wir glauben allerdings an das Individuum. Kollektiver Stolz einer ganzen Gesellschaft hat für uns einen Beigeschmack.
Lagartijas tiradas al sol: Wo sind die Minen geblieben?
loenkenfranke:
Die Minen sind, wo sie sind, nämlich hunderte Meter unter der Erdoberfläche. Aber ihre Bedeutung für die Menschen hat sich grundlegend geändert. Sie dienen nicht mehr dazu, den Menschen in der Region einen (hohen) Lebensstandard zu sichern, sondern die Menschen müssen sich um ihre Folgen als Ewigkeitsschäden kümmern.
Lagartijas tiradas al sol: Wie geht man mit dem Gefühl um, dass das Leben woanders stattfindet?
loenkenfranke:
Das Leben findet immer im Hier und Jetzt und in der Kunst statt. Das, was uns originär interessiert, ist, Momente und Augenblicke festzuhalten, sie zu archivieren und sie in Beziehung zueinander zu bringen. So entstehen Filme, die ein Stück Zeitgeschichte sind und immer nur im Moment ihrer Rezeption im Verhältnis zur Gegenwart Bedeutung und Sinn ergeben. Große Umbrüche, die immer einhergehen mit Herausforderung. Zeitenwende, Wandel, Verschwinden. Neue Möglichkeiten tun sich auf, mit ihnen neue Identifikationen – alte brechen weg. In einer Zeit, in der der Alltag immer digitaler wird, in der alles jederzeit online verfügbar ist, in der das Internet alle Fragen zu beantworten scheint, entsteht die Sehnsucht nach einer alternativen Realität. Offensichtlich eröffnet die Hinwendung zur Natur (die es ja im ursprünglichen Sinn in unseren Breiten gar nicht mehr gibt) für viele Menschen aktuell den Zugang zu dieser alternativen Realität. Beim Wege-Projekt haben wir uns aus diesem Grund für den ornithologischen Blick entschieden. Ganz allein mit sich und der Natur lässt der Blick durch das Fernglas oder Spektiv die Welt klein und übersichtlich erscheinen. Ein geeigneter Zufluchtsort, um den Herausforderungen und Einschränkungen des Alltags zu begegnen – und ihnen etwas entgegenzusetzen. Dadurch wird der Blick auf das Wesen des Menschen geschärft, auf seine Eigenarten, seine Träume und Ängste. Und damit zu einem Indikator für den Zustand der Gesellschaft. Unweigerlich wird man mit dem konfrontiert, was das Menschsein ausmacht.
Lagartijas tiradas al sol: Wie Fortschritt denken in einer Region, die selbst vergessen wurde?
loenkenfranke:
Unseren letzten Film haben wir mit einem Gedicht von Andreas Gryphius begonnen:

Alles ist eitel (1640)

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein: Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden. Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden. Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein, Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden. (...) Andreas Gryphius

Wandel als ein nie endender Prozess. Ihn nicht als Grundlage allen Denkens zu akzeptieren, käme einer Hybris gleich.

Translated from German by Rose-Anne Clermont