Lisandro Rodriguez aus Buenos Aires begann seine Annäherung damit, dass er uns Fragen schickte, listenweise. Zunächst beantworteten wir sie ihm mithilfe von Statistiken und Grafiken, dann mit immer persönlicheren Einschätzungen und später auch mit Fantasie und Quatsch. Lisandro merkte irgendwann, dass das Fragenstellen seine eigentliche Kunst werden würde. Er probierte die Fragen an den Straßenrändern in Buenos Aires aus und entwarf einen Fragenkatalog für den Weg vom Duisburger Hauptbahnhof zum Landschaftspark Duisburg-Nord. Die Passant:innen werden sie entdecken, still auf sie antworten, sie als Frage weitergeben oder als Infragestellung behalten. RUHRORTER aus Mülheim umschreiben anlässlich dreier seiner Fragen ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Arbeitsansätze:
Lisandro Rodríguez: Ist Kunst der neue Bergbau?
RUHRORTER: Bergbau ist die arbeits- und technologieintensive Extraktion von Rohstoffen zur Energiegewinnung. Mit deiner Frage können wir darauf schauen, inwiefern Kunst hier in der Gegend eine neue Arbeitsform des Abbaus von Rohstoffen und dementsprechend der Gewinnung neuer Energien darstellt. Anhand der Gründung von Kunstinstitutionen, ungefähr ab Ende der 1990er-Jahre, lässt sich beobachten, dass das Ruhrgebiet seit rund 20 Jahren immer dichter von Künstler:innen und Kunstinstitutionen beackert wird. Zu sehen ist das etwa an der Ruhrtriennale, bei PACT Zollverein, Maschinenhaus Essen, Zeche Eins Bochum, Urbane Künste Ruhr, Hartware KunstMedienVerein Dortmund usw. Sie gesellen sich zu den schon älteren Institutionen, den Stadttheatern, Museen und Konzerthäusern.
Es scheint gute Bedingungen für die Produktion von Kunst zu geben: Geld und Räume für die Institutionen, auch für die Künstler:innen.
Lisandro Rodríguez: Wessen Arbeit ist das?
RUHRORTER: Künstlerische Arbeit ist etwas ganz anderes als der industrielle Abbau von Steinkohle. Sie ist in der Regel weniger körperlich anstrengend und stellt eine geringere Gefahr für das Leben dar. Auch die langfristigen Umweltfolgen sind weniger schwerwiegend. Ohne die Montanindustrie wären aber wir alle, die diese Antwort schreiben, und diejenigen, die sie lesen, das Magazin, in dem der Text steht und auch das Festival der schönen Künste, das das Magazin herausbringt, gar nicht hier. Nun ist die Kohleindustrie schon lange weg, dorthin, wo die Arbeit billiger ist. Viele Leute bedauern das, weil damit auch ein bestimmtes Lohnniveau verschwunden ist. Es gibt hier einfach nicht ausreichend gut bezahlte Arbeit. Und die Kulturinstitutionen beschäftigen nicht all die Leute.
Die Kultur soll trotzdem einlösen, was der Begriff Strukturwandel (und die sozialdemokratischen Politiker:innen, die ihm das Wort reden) verspricht. Ersetzen, was nicht gleichwertig ersetzt werden kann. Sie sollen einen neuen Raum beschreiben, im Zusammenhang mit Universitäten, Einkaufshäusern und so weiter. Wie das genau geht, ist immer noch nicht ganz klar. Was dann passiert, auch nicht.
Lisandro Rodríguez: Was möchtet ihr zu Tage fördern?
RUHRORTER: Im Zuge unserer Arbeit sind wir ständig mit Situationen, Menschen und Problemen konfrontiert, auf die wir erst mal keine Antwort haben. Das ist manchmal unangenehm, aber immer eine gute Ausgangsbasis, etwas nicht zu wissen. Es klingt vielleicht kitschig, aber wir lernen und verändern uns dadurch, wenn wir mit Menschen sprechen; etwas aufnehmen und wieder hören.
Unsere Gruppe RUHRORTER hat sich gegründet, um Menschen mit Fluchterfahrung in Mülheim an der Ruhr ein Theaterangebot zu machen. Zum Zuschauen und Selberspielen. Unsere Proben sind Möglichkeiten, zusammenzukommen und sich auszutauschen, sie basieren auf gemeinsamen Improvisationen und nicht auf der Verwendung von Biografien.
Was wir aus der Arbeit ziehen, ist ein anderer Blick auf uns selbst, unsere Nächsten und die Umgebung. Und das möchten wir teilen.