© Wermke / Leinkauf, VG Bild-Kunst, Bonn, 2019

In einem seiner Hauptwerke – Macht und Masse (1960) – beschreibt der bulgarische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti die Phänomene, welche sich einstellen, wenn sich Individuen ihres in westlichen Gesellschaften wichtigsten immateriellen Gutes, der Individualität, entledigen und in einer größeren Menge an Menschen aufgehen und sich als Gleiche unter Gleichen fühlen. Die auffallendste Eigenschaft der Masse, so Canetti, sei dabei ihre „Zerstörungssucht“, mit der die gleichgeschaltete Menge sich auf alles stürzt, das „andersartig“ aussieht, handelt, denkt. Diese Andersartigkeit bezieht sich im Zusammenhang von organisiertem Fußball oder den Ultras in erster Linie auf die jeweils andere Mannschaft und ihrer Anhänger; aber auch die Bekämpfung der zunehmenden Kommerzialisierung des Sports spielt bei den Ultras eine wichtige Rolle. Die bei Canetti diagnostizierte „Zerstörungssucht“ wird bei den Ultras in überwiegendem Maße in produktive Energie umgewandelt, mit welcher der gegnerische Verein und seine Anhänger auf vielfältige Weise eingeschüchtert werden sollen – eine Strategie, die weitgehend nach dem eigentlichen Fußballspiel umgesetzt wird, in der sogenannten 3. Halbzeit.

Die raumgreifende immersive Medieninstallation 4. Halbzeit des Berliner Künstlerduos Wermke / Leinkauf setzt sich auf einer geradezu physisch erfahrbaren Ebene mit dem Phänomen von Macht und Gewalt von Menschenmassen auseinander. Im Zentrum der Installation stehen found footage-Sequenzen organisierter Fußballfans und Ultras, welche im Zusammenhang mit vielfältigen politisch motivierten Protestbewegungen die ästhetischen als auch strukturellen Merkmale des Widerstandes der Massen als bildmächtige Video- und Klanginstallation aufzeigen, doch ohne zu werten. Ergänzt und kombiniert werden diese aus dem Netz gezogenen Szenen durch eigene Aufnahmen der Künstler. Zwei große, gegenüberstehende LED-Wände zeigen dabei einerseits friedliche, auf allgemeine Verbesserungen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse abzielende Demonstrationen, andererseits in blanke Aggression ausartende Szenen, der blinde Zerstörungswut folgt. Unterlegt sind die Bildsequenzen von bassgewaltigen Sounds, die das eindrücklich Visuelle durch physisch erfahrbare Klänge noch verstärkt. Der Besucher steht inmitten dieser Szenen und fühlt sich nicht nur den direkten Eindrücken, sondern auch den Massen nahezu schutzlos ausgeliefert.

In der Gegenüberstellung der Szenen wird das durchschlagende Potential der Protestäußerung von Ultras mit voller Wucht veranschaulicht, welches auch von neuen Gruppierungen jenseits des Stadions für den Widerstand im öffentlichen Raum adaptiert wird. Wie sehr die in Teilen geradezu wechselseitige Verbindung von extremer Fankultur und politischem Aufbegehren gegeben ist, hat sich in den letzten Jahren an Orten wie Kiew, Kairo und Istanbul manifestiert. Dies sind auch die Orte, von der das found footage-Material stammt, das in 4. Halbzeit verwendet wurde. Auch durch die beginnende Entwicklung der Ultra-Bewegung Anfang der 1970er-Jahre in Italien im Nachgang der 68er-Proteste zeigt, dass dieser heute größten Jugendsubkultur ein politischer Ursprung zugrunde liegt, der über die ganze Bandbreite gesellschaftspolitischen Engagements vom karitativen Einsatz bis hin zu politisch randständigen Aktionen deutlich wird.

4. Halbzeit bietet gerade in Zeiten von zunehmenden und sich potenzierenden Dynamiken realer sowie virtueller Massen und Meinungen und ihren teils tiefsitzenden, oft auf Fehlinformationen oder Vorurteilen basierenden Aggression gegenüber Andersdenkenden, Andersfühlenden und Andersgläubigen einen künstlerischen Erfahrungsraum. In ihm wird über die immersiven Qualitäten der Installation die Macht der Masse und das aus ihr erwachsende Potential zum Guten wie zum Schlechten, eindrücklich vermittelt. Das Zusammenspiel aus faszinierenden und zugleich abstoßenden Bildern, sowie der gewaltigen Sounds führt zu einem enorm intensiven Erlebnis, das über die übliche Rezeption von Kunst weit hinausführt.

Dr. Andreas Beitin studierte Kunstgeschichte, Angewandte Kulturwissenschaften sowie Neuere und Neueste Geschichte. Nach seiner 2004 erfolgten Promotion war er am ZKM | Museum für Neue Kunst in Karlsruhe tätig. Nachdem er zunächst in verschiedenen wissenschaftlichen und kuratorischen Positionen gewirkt hat, übernahm er im Jahr 2010 die Leitung des Museums. Von 2016 bis 2019 war er Direktor des Ludwig Forum für Internationale Kunst; seit 2019 leitet Andreas Beitin als Direktor das Kunstmuseum Wolfsburg.