Das lässt mich daran denken, wie arm wir an Gegenmythologien, an dissonanten Darstellungen sind; wie schwierig es ist, etwas zu produzieren, das die Größenordnung des noch nie Dagewesenen, des Unerwarteten hätte und das die Kraft besäße, die abgeschottete Welt unserer verdummenden und, für den sie nährenden Markt, profitablen Vorstellungskraft zu implodieren. Diese Beobachtung impliziert natürlich die Frage nach den Bedingungen einer möglichen Verschiebung, einer Dezentrierung, aber auch einer Umkehrung des Imaginären – das heißt, nach den Bedingungen einer Wiederherstellung des Möglichen. Es reicht nicht, Rotkäppchen zu bewaffnen, damit sie dem Wolf das Maul stopfen kann – es reicht nicht, auch wenn es nicht unangenehm ist, sich das vorzustellen (bei allem Respekt vor der Psychoanalyse), sich dieses zerbrechliche und hilfsbereite kleine Mädchen vorzustellen, das den Wolf fängt und ihm die Kehle durchschneidet, ihm den Schwanz abschneidet und ihn dazu bringt, ihn zu fressen, bevor ihm einfällt, dass er die Großmutter, das Kind massakrieren könnte und damit ganze Generationen verängstigt, die, anstatt Angst vor dem Menschen zu haben, vor dem Großvater, dem Vater, dem Chef, dem Jäger oder dem Nachbarn, sich daran machten, das Tier auszurotten.
Kurzum, es reicht nicht aus, die Rollen umzukehren, auch wenn dies didaktisch sinnvoll sein kann. Aus der Sicht von Gisèle Vienne gibt es einen subtileren, methodischeren Weg: Man muss zunächst die Rahmenbedingungen entwirren, auseinandernehmen, dekonstruieren und dabei Möglichkeiten zur befreienden Neugestaltung eröffnen. Gisèle Viennes Werk besteht also darin, die Zeit anzuhalten: Sie will sich die Zeit nehmen, die nötig ist, um alle Dimensionen dieses kontinuierlichen Moments zu analysieren, in dem die Rahmenbedingungen auf uns und in uns wirken; in dem wir nicht nur das Objekt oder die Relais sozialer Mythen sind, sondern selber »mystifizieren«. So können wir die Blondine bewaffnen. Gisèle hingegen setzt auf die Aufregung und Faszination vom guten Familienvater oder Psychopathen (der lediglich der umgekehrte Doppelgänger ist), der in unserer Vorstellung lauert, anstelle einer Darstellung dessen, was es bedeutet, sich aufzulehnen, sich zu erheben, zu zerstören, zu widerstehen, umzustürzen und sich schließlich gegen tödliche Regimes zu wehren.
Diese, für ihr Schaffen so charakteristische Auseinandersetzung, wurde niemals präziser auf ihre Methodik hin untersucht als bei Crowd / Menge. In diesem Werk befasst sich Gisèle Vienne mit dem Zeitpunkt der Geste, indem sie alle Ideen, alle Emotionen, alle Darstellungen oder Erfahrungen als Bewegungsabläufe begreift; indem sie die sozialen Beziehungen, das politische Geflecht der Interaktionen in und durch das choreographische Denken begreift. Es geht also darum, die soziale und moralische Verschlüsselung dieser Bewegungen zu reflektieren; und sie entscheidet sich dafür, dies zu tun, indem sie den Moment einfängt, in dem diese abgelenkt, umgelenkt, gefügig oder widerspenstig, zurückgehalten oder betont werden; den Moment, in dem sie im Konflikt sind, in dem wir konfliktgeladen sind. Indem sie eine paradigmatische Szene der zeitgenössischen Trance aufgreifen, einen Rave, der gemeinhin als nutzlose, unproduktive, ausschweifende und unmoralische Zusammenkunft wahrgenommen wird, eine Masse der postideologischen, präapokalyptischen, No-Future-Generation ... indem sie das scheinbar Absurdeste aufgreift, was im Hinblick auf die philosophische, künstlerische, kritische und politische Bedeutung das Dürftigste zu sein scheint, befasst sich Gisèle Vienne mit unseren körperlichen Existenzbedingungen, mit der Unreinheit unserer Lebenswege, der Komplexität unseres Lebens, der Ambivalenz unserer Sehnsüchte, dem Antagonismus, der Spannung, der Krise in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zur Welt.
Alles kann schnell, ruckartig, rhythmisch sein, wie um sich besser darauf vorzubereiten, die Bewegung in der Schwebe zu halten. Indem man also eine Bewegung bis zum Äußersten ver-lang-samt, geht es darum, ihre Fragilität zu verstehen, das heißt sowohl ihre Zwänge als auch ihre Widerstandskraft, und so ihr Potenzial wiederherzustellen; aber es geht auch darum, ihre Macht zu verstehen: die, ein Ereignis zu schaffen, sich auf die Realität einzulassen, sich in einer Welt zu verwirklichen, eine Gemeinschaft zu bilden, ein politisches Sprachrohr zu schaffen. In dieser Untersuchung der mikroskopischen Skala des Politischen offenbart sich eine Positivität: Sie untergräbt nicht nur die Mythen, sozialen Konstruktionen, Normen und Disziplinen von Körpern und Leben, Wünschen und Vorstellungen, Weltanschauungen, sondern gibt den gelebten Dimensionen Substanz, für die wir noch keine Worte und Diskurse, Erzählungen und Bilder, Disziplinen und Ästhetiken haben.
Aus diesen Dimensionen, unterirdisch, okkult, komponiert Gisèle Vienne eine Partitur, einen Chor, eine Grammatik, einen Gedanken, ein Ritual, ein Universum. Ihr Universum, unser Universum, ist äußerst kritisch: ... das routinemäßige Summen unserer Mythen, unserer Wünsche und unserer Fantasien, unserer genormten Existenzen, unserer Identitäten als Verbraucher:innen, unserer massenkonsumierten, reproduzierbaren, wegwerfbaren Identitäten, unserer demokratischen, gedächtnislosen und selbstgefälligen, verrohten und verrohenden Impulse … all das ist letztlich nicht der Mittelpunkt, das Ziel der Produktion. Hierfür ist Gisèle Vienne nicht verantwortlich.