20 Jahre Ruhrtriennale
Was bleibt, was war wichtig und was aufregend?
Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Ruhrtriennale stellt die Dramaturgin Dorothea Neweling, die von 2002 bis 2017 für das Festival gearbeitet hat, hier im Auftrag der Ruhrtriennale einen persönlichen Rückblick zusammen.
Diese Retrospektive wird bis Ende 2022 regelmäßig erweitert. Tauchen Sie mit uns ein in die vielfältigen Erinnerungen der einzelnen Festivaljahre!
2002
Die industriellen Hinterlassenschaften im Ruhrgebiet aus den großen Zeiten des Bergbaus und der Stahlindustrie sind immens. Von 1989 bis 1999 hat die Internationale Bauausstellung IBA Emscher Park Zechen, Kraftzentralen, Waschkauen, Kokereien, Gebläse- und Maschinenhallen, Halden und Brachen sichtbar, zugänglich und nutzbar gemacht. Das Potential zum Wandel dieser Orte war freigelegt. Auf Initiative der Landesregierung wird die Ruhrtriennale gegründet: Ein Festival mit ebenso regionaler wie internationaler Ausstrahlung soll in den nun sogenannten »Industriespielstätten« jährlich im Sommer stattfinden. Am 31. August 2002 findet die Eröffnung der ersten Ausgabe der Ruhrtriennale unter künstlerischer Leitung von Gerard Mortier statt.
Mit einhundert Eisenbahnschwellen verleiht Agustín Ibarolla der Halde Haniel einen eigenen Rhythmus und einen Hauch von Poesie. In dieser ersten Installation steckt schon viel von der Idee und der Gestalt der Ruhrtriennale des Gründungsintendanten Gerard Mortier: Die Belebung der ehemaligen Industriestandorte des Ruhrgebiets mit ebenso politischer wie poetischer Kunst durch internationale Künstlerinnen und Künstler.
In Bottrop fordert Peter Sellars mit seiner Deutung der Children of Herakles eine Diskussion über Asyl und Immigration ein, in Duisburg kommt die Winterreise in einem Boxring zur Aufführung und Hanns Eislers Hollywood Elegien werden in der Salzfabrik auf Zollverein zu einem originären Erlebnis durch den Punkmusiker Schorsch Kamerun.




2003
Engel beschwören 2003 – der zweiten Saison der Ruhrtriennale von Gerard Mortier – die utopische Kraft und das humanistische Potenzial von Theater, Oper, Tanz und Kunst. Da sind zum Beispiel Olivier Messiaens Saint François D`Assise vor der großen Kathedralenkuppel von Ilija Kabakov in der Jahrhunderthalle Bochum und die 8-stündige Aufführung von Der seidene Schuh. Es entfaltet sich viel spirituelle Kraft in diesem zweiten Programm. Mit den Kreationen entsteht eine neue Kunstform aus Theater, Musik und Tanz. Zu den prägendsten Kreationen der Mortier-Jahre gehören Wolf in der Kraftzentrale Duisburg und Sentimenti in der Jahrhunderthalle Bochum. Mit dieser Geschichte einer Bergarbeiterfamilie verbindet sich das Festival explizit mit der Arbeitshistorie der Region. Mit der Konzertreihe Century of Song tritt das Festival den Beweis an, dass auch populäre Musik in dieses neue Festival gehört. Denn in unser aller Biografien und in die Geschichte des 20. Jahrhunderts haben sich Pop Songs fest eingeschrieben – und über viele Festivaljahre hin auch in die Geschichte der Ruhrtriennale.





2004
»Die Wiedererrichtung des Himmels« – so lautet 2004 der Titel der neuen Literaturreihe und so steht es als Leitmotiv über der Saison 2004. Die Programmbroschüre zeigt dazu unveröffentlichte Bilder aus dem Wolkenatlas von Gerhard Richter: Wolken, Himmel, ein offener Raum, voller Utopien. Dazu passt Peter Brooks »Tierno Bokar«, etwas, das mehr einer Meditation über den Umgang mit Gewalt gleicht als einer klassischen Theateraufführung. Dazu passen auf ganz andere Weise die aufwühlenden Szenen, die Ariane Mnouchkine in »Le dernier Caravansérail« findet – sie sind 20 Jahre später mehr als aktuell.
Mit der »Jungen Triennale« entsteht schließlich ein Programm eigens für Kinder und Jugendliche. Kooperationen mit der freien Szene werden im Sonderprogramm »Raum.Pfad« geknüpft. Zum Ende verabschiedet sich Mortier, der aus Salzburg ins Ruhrgebiet kam, mit einer fulminanten Aufführung von »La Damnation de Faust« an die Opéra in Paris. Er lässt uns aber bald darauf wissen: »À la Ruhr war es am schönsten!«.





2005
Eine Ruhrtriennale-Intendanz dauert drei Jahre. Schon der ersten Ausgabe gegenüber zeigen sich die Zuschauer:innen aus dem Ruhrgebiet sehr aufgeschlossen. Offen für Unbekanntes und frei in ihrer Wahrnehmung probieren sie aus und machen Verrücktheiten mit. In diesem Sinne wird 2005 auch der Wechsel zum zweiten Intendanten von Neugierde begleitet. Berufen ist der deutsche Regisseur und Theatermacher Jürgen Flimm.
Flimm und sein Team gehen mit ihrem Programm über drei Jahre kultur- und geistesgeschichtlich rückwärts: Romantik – Barock – Mittelalter. Damit gibt das Festival sich und den eingeladenen Künstler:innen ein Thema auf.
Die erste Saison steht im Zeichen der deutschen Romantik und Verbindungslinien zur Frühzeit der Industrialisierung im Ruhrgebiet werden erkennbar. »Nächte unter Tage« von Andrea Breth und Christian Boltanski in der Mischanlage der Kokerei Zollverein ist ein Erforschen von unbekannter Tiefe, ein Begehen von Abgründen und wie ein zeitloses Schweben ohne romantische Verklärung. In Gladbeck inszeniert Alvis Hermanis Sorokins »Das Eis«. Auch dies eine Art suchendes Stationentheater. Zur »Schule der Romantik« kommen nach Bochum: Patti Smith (die natürlich auch ein Konzert gibt), Michel Houellebecq, Olga Neuwirth und Haroun Farocki. Eine überbordende und lustvolle Hommage an den Alpinismus – dessen Beginn mit der Romantik zusammenfällt – erfinden Sven-Eric Bechtolf und Franui mit »Steine und Herzen« für die Kraftzentrale in Duisburg. Von schöner Leichtigkeit und feinsinnigem Humor ist auch die Musiktheater-Kreation »Das Trojanische Boot« der Musikbande Mnozil Brass.





2006
Von Beginn an wird die Ruhrtriennale finanziell durch Freunde, Stiftungen, Initiativen und Förderer großzügig unterstützt. Ein großes Engagement, das zu einer raschen Verankerung des Festivals in der regionalen, nationalen und europäischen Kulturlandschaft beiträgt.
Die Themensetzungen Romantik – Barock – Mittelalter für die Jahre 2005-2007 sind kein Gedächtnisakt und kein Vorgang des Bewahrens – die Suche nach Reibung und Gegenwartstauglichkeit macht die Verknüpfungen interessant. Nach der Romantik rückt 2006 der Barock in den Fokus. Den Anfang machen Johan Simons und Peter Vermeersch mit »Das Leben ein Traum« von 1653, das in Gladbeck als ein surreales Märchen stattfindet, in dem der Mensch in seine eigene Geschichte eingreifen kann. Die Partitur der Marienvesper von Monteverdi dient Alain Platel in »VSPRS« als Ausgangspunkt für eine Performance über Kontrolle und Verlust. Mit dem Barockgarten an der Jahrhunderthalle Bochum kommt (endlich) etwas Grün auf den Vorplatz – temporär erdacht stehen die Pappeln bis heute! »Rubens und das nichteuklidische Weib« lautet der auch nach Erleben der Aufführung rätselhaft bleibende Titel von Christian Stückls Inszenierung in der Duisburger Kraftzentrale. Bleibenden Eindruck davon hinterlassen haben die Tableaux vivants der Gemälde des übrigens in Oberhausen geborenen Peter Paul Rubens. Die vielleicht größte Anstrengung überhaupt unternimmt das Festival 2006 mit der Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns »Die Soldaten«. Eine 130 Meter lange Szenenfläche, auf Schienen fahrende Tribünen, 22 Solist:innen, allein das Schlagwerk füllt schon einen Orchestergraben... 2008 wurde die Produktion zum Lincoln Center Festival in der Armory Hall New York eingeladen – und ist heute noch als DVD-Aufzeichnung zu erleben.





2007
Das Mittelalter ist der Schwerpunkt für das dritte Jahr der Intendanz Jürgen Flimm. Unabhängig von thematischen Überlegungen sind dabei die Konzerte der Reihe »Century of Song«. Als fester Bestandteil des Programms – seit 2002 kuratiert von Chefdramaturg Thomas Wördehoff – finden sie stets unter einem opulenten Kronleuchter statt. Ein Stückauftrag zum Thema geht an den Autor Wilhelm Genazino: »Courasche oder Gott lass nach«, die Premiere ist in der Duisburger Gebläsehalle. Dieser Raum ist auch der (ideale) Ort für die Aufführung eines anderen mittelalterlichen Stoffes: »Le vin herbé«. Die Regie für dieses weltliche Oratorium von Frank Martin aus dem Jahr 1941 über den Tristan und Isolde-Stoff übernimmt Willy Decker. Einen Werkauftrag erhält der junge Komponist Jörn Arnecke, der »Unter Eis« vertont, einen Text von Falk Richter, der auch Regie führt. Ebenfalls in der Jahrhunderthalle Bochum: Jan Fabres »Requiem für eine Metamorphose«: Bilder von Tod und Verwesung in einem uferlosen Blumenmeer. Der Tanz ist seit 2002 in jeder Saison eine wichtige Sparte im Programm der Ruhrtriennale. Bei PACT Zollverein kuratiert Stefan Hilterhaus das Programm. Choreograph:innen und ihre Kompanien aus aller Welt feiern Premiere im Ruhrgebiet – wie zum Beispiel 2007 Arbeiten von Wim Vandekeybus oder Trisha Brown.





2008
Bereits im Jahr 2006 wird Marie Zimmermann als Nachfolgerin für die Jahre 2008-2010 benannt. Doch die Dramaturgin und erfahrene Festivalleiterin stirbt noch während der Vorbereitungen. Das Team um Jürgen Flimm verlängert daraufhin kurzfristig um ein weiteres Jahr. Zum Programm unter dem Titel Aus der Fremde gehören bereits geplante Projekte von Marie Zimmermann, Neuproduktionen, eine Auswahl an Gastspielen, Konzerte der Reihe Century of Song und Lesungen.
In der Duisburger Gebläsehalle baut Christoph Schlingensief die Oberhausener Herz-Jesu-Kirche nach und zelebriert dort seine Lungenkrebsdiagnose als autobiographische Liturgie. Schlingensiefs letzte Arbeit verschränkt radikal und pathetisch Kunst und Religion. Die Arbeit Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir wird 2009 zum Theatertreffen in Berlin eingeladen. Schorsch Kamerun inszeniert in einem Labyrinth aus milchigen Folientunneln Westwärts. Die Maschinenhalle Zweckel ein Quarantänelager? Sandra Hüller singt und spricht in diesem begehbaren Ausnahmezustand Gedichte und Schriften von Rolf Dieter Brinkmann. Alain Platel ist auch in der Saison 2008 zu Gast bei der Ruhrtriennale. Die Performance pitié. Erbarme Dich! sucht Mitgefühl und Mitleid im Angesicht des Todes und findet dafür berührende Bilder und intensive Momente. Die Fidena ist lange eine Partnerin der Ruhrtriennale. 2008 verbreiten lebensgroße Hasenfiguren in der Figurentheaterperformance Cuniculus. Eine Menschwerdung von Neville Trenter ihren Schrecken bei PACT Zollverein. Viscontis Rocco und seine Brüder wird von Ivo van Hove in der Jahrhunderthalle Bochum inszeniert. Die Geschichte der fünf Brüder erzählt von der Hoffnung auf Glück und der harten Realität der Migration und Entwurzelung: Die Bühne ist ein Boxring. Über den Festivalzeitraum 2008 ist in der Jahrhunderthalle Bochum ein offener Raum für Literatur aufgebaut. In Erinnerung an die verstorbene Festivalleiterin wird dort aus Maries Büchern gelesen.






2009
Die Ruhrtriennale folgt ihrem Anspruch auf permanente Erneuerung durch die Wahl des Musiktheaterregisseurs Willy Decker zum dritten Intendanten von 2009-2011. Der bekennende Buddhist ist der erste Festivalleiter, der auch eigene Inszenierungen zeigt. Wie von Hand geschrieben tauchen das Wort Urmomente und ein wie von einem Zen-Meister gemaltes Logo bei der Ruhrtriennale auf. Decker stellt den drei Jahren jeweils ein Wort voran: Aufbruch – Wanderung – Ankunft. Aufbruch sinnt dem Judentum nach, die Wanderung dem Islam und die Ankunft dem Buddhismus. In den von Spiritualität begleiteten Jahren 2009-2011 erscheint manches fern und unbekannt: Derwische, Rituale und Zeremonien, die Mystik der Sufi. Der Aufbruch gelingt Willy Decker zum Start des Festivals 2009 mit seiner Inszenierung von Arnold Schönbergs Moses und Aron in der Jahrhunderthalle Bochum unter Mitwirkung von Chorwerk Ruhr und den Bochumer Symphonikern. Die Leidensgeschichte des Juden Hiob nach Josef Roth gehört sicherlich zu den schönsten Inszenierungen von Regisseur Johan Simons. In Dritte Generation thematisieren zehn junge Spieler:innen aus Deutschland, Israel und Palästina ihre Herkünfte. Yael Ronen inszeniert sie sparsam und direkt. Ein besonderes Konzert stellt Jordi Savall für die Ruhrtriennale mit jüdischen und palästinensischen Musiker:innen und Texten über die dramatische Geschichte einer besonderen Stadt zusammen: Jerusalem. Die Stadt der zwei Frieden. In der Maschinenhalle Zweckel Gladbeck ist Sing für mich, Tod – ein Ritual für den Komponisten Claude Vivier zu erleben. Viviers Leben und Werk kreiste um Einsamkeit, Angst und um die Suche nach Liebe. Ein fiktives Land in weiter Ferne, fern jeder Zeit – das ist Autland. In diesem Musiktheaterstück trifft Johannes Ockeghems Kanon für 36 Stimmer aus dem 15. Jahrhundert auf Musik der Jetztzeit von Sergej Newski. Von der Ordnung zum Chaos zur Reizüberflutung.






2010
Das Kulturhauptstadt 2010 versetzt das Ruhrgebiet für ein Jahr in eine kulturelle Ideallandschaft. Natürlich steuert auch die Ruhrtriennale ein besonderes Programm bei: So kommt es in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck zur Premiere der letzten Oper des damals 86-jährigen Hans Werner Henze: Gisela! oder: die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks. In Verrücktes Blut nimmt eine Lehrerin ihre Schüler:innen mit vorgehaltener Pistole als Geiseln und zwingt sie, Schillers Räuber zu spielen. Die Koproduktion mit dem Ballhaus Naunynstraße wird zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die Tanzperformance Vertical Road des von den Mythen des Islam inspirierten Choreographen Akram Khan sucht eine spirituelle Verbindung zwischen dem irdischen und dem himmlischen Leben. In Leila und Madschnun steht die vernichtende Realität des Krieges der Utopie einer verbotenen Liebe gegenüber. Viele Tonnen Sand machen für die musiktheatrale Erzählung aus der Jahrhunderthalle Bochum eine Wüste. Am gleichen Ort entsteht ein großer Raum unter einer schweren Platte, die einen Meter über dem Boden schwebt. Die Perspektive des Menschen in William Forsythe‘s The Defenders ist beklemmend. Kaum jemand hat die Mischanlage der Kokerei Zollverein je so schön in Himmel und Hölle versetzt wie Sue Buckmaster und ihre Kollaborant:innen von Theatre-Rites in Paradise. Alltag und Religion aus Orient und Okzident begegnen sich auch im Tanz. Le Cri der Schwestern Belaza verbindet das Kreiseln der Derwische mit der Bewegungssprache des zeitgenössischen Tanzes.







2011






Auch der Regisseur Luk Perceval hat eine Beziehung zum Buddhismus. Sein Macbeth ist eine minimalistische, eindrückliche, ruhige Inszenierung in einer von einem imposanten Stapel Tische und verstreuten Soldatenstiefeln ansonsten leeren Maschinenhalle Zweckel. Toshio Hosokawas Oper Hanjo nach einem traditionellen japanischen Nô-Spiel handelt vom unendlichen Warten dreier Menschen. Ein uralter Stoff wird hier mit den Mitteln des westlichen Theaters neu belebt. Aus Japan nach Essen zu PACT Zollverein kommt der Choreograf Toshiko Okada mit The Sonic Life Of a Giant Tortoise. Ein Paar aus Tokio kämpft mit dem Alltag und gerät dabei in Kollision mit seiner (Zen)Philosophie eines gelungenen Lebens. Die tiefe, verzweifelte Liebe von Tristan und Isolde wird in Willy Deckers Inszenierung in Schwerelosigkeit und Einswerdung erlöst.
Was wäre die Ruhrtriennale ohne die Mitwirkung von Chorwerk Ruhr? Von Anbeginn trägt dieses herausragende Ensemble mit eigenen Konzerten und als Chor bei Musiktheaterproduktionen zum Erfolg des Festivals bei. Im 117 Meter hohen Gasometer Oberhausen findet mit dem Chorwerk Ruhr bei Buddha goes to Bayreuth ein spektakuläre Raum-Klang-Erfahrung statt. Auch unter der Leitung von Willy Decker ist das großartige Festival-Publikum den durchaus gewagten Weg zu den »Urmomenten« mitgegangen. Finalen Ausdruck findet dies in der enormen Resonanz auf das Streuen des Sand-Mandalas in der Jahrhunderthalle Bochum durch vier Mönche aus dem Königreich Buthan – die Besucher:innenströme wollen nicht abreißen. Das Ruhrtriennale-Team um Intendant Willy Decker verabschiedet sich mit der zeremoniellen Übergabe des südasiatischen Sandes in den Dortmund-Ems-Kanal.
2012






»Kunst als Erfahrung, Theater als Realität.«, mit diesen Worten kündigt der Komponist, Theatermacher und Professor für Angewandte Theaterwissenschaft Heiner Goebbels das Programm der Ruhrtriennale von 2012-2014 an. Goebbels und sein Dramaturgie-Team setzen stark auf Musik und das Musiktheater, zeigen viel bildende Kunst, beziehen Museen als Spielorte ein und geben der Performance mehr Raum. Die Eröffnung 2012 ist ein Bekenntnis: Radikale Polyphonie und die Disziplin des Zufalls: Heiner Goebbels erste Regiearbeit bringt John Cage‘s so gut wie nie gespielte Opern Europeras 1&2 in die Jahrhunderthalle Bochum. Boredoms auf der Halde Haniel = Noise. Power. Performance. Folk. von Romeo Castellucci inszeniert das Drama der Gemeinschaft und das Drama des Alleinseins als Taufakt in einem Bassin in der Gebläsehalle in Duisburg. Die schöne Erinnerung an Soapéra von Mathilde Monnier ruft die Worte »Schaum« und »Zeit« ins Gedächtnis. Darüber hinaus lässt sich nur ungenügend beschreiben was da geschehen ist: Theater als Erfahrung. Life and Times 2 des New Yorker Nature Theatre Of Oklahoma ist Theater als Serie – Folge 2 von 10 läuft bei PACT Zollverein in Essen. Viel Publikum lockt der Live Art-Parcours 12 Rooms in das Museum Folkwang. Die Intimität der Räume, die Radikalität der Darstellung, die Kraft der Performer und auch der Humor der internationalen Künstler:innen hinterlassen einen bleibenden Eindruck.
2013
Das Unterlaufen von Genrezuweisungen ist die erklärte Absicht auch des Programms 2013, dem zweiten Jahr von Intendant Heiner Goebbels. test pattern ist das überwältigende Erlebnis der perfekten Synchronisation von reduziertem Bild und reduziertem Ton in der Kraftzentrale Duisburg. Über 22.000 Menschen haben diese 100 Meter-Version der Installation von Ryoji Ikeda im Landschaftspark Duisburg Nord besucht. Globaler Waffenhandel und seine Folgen für das Leben unterschiedlicher Menschen weltweit, davon erzählen die Situation Rooms der Performancegruppe Rimini Protokoll in Form einer einzeln begehbaren Augmented Reality-Installation. »Ein Theaterstück über das, was man nicht sieht.« heißt es im Untertitel zu der Aufführung 300 el x 50 el x 30 el. Bilder anstelle von Worten sind das lustvoll verfolgte Prinzip der Geschichtenerzähler-Gruppe FC Bergman aus Antwerpen. Die Premiere von Boris Charmatz´ Levée des conflits im Amphitheater auf der Halde Haniel hat im Dauerregen stattgefunden. Performer:innen und Zuschauer:innen haben sich vergemeinschaftet und bis zum Ende durchgehalten. Am nächsten Abend ist die Aufführung dann in den Lichthof der Bottroper Berufsschule umgezogen. Außergewöhnlich, selbst für ein produzierendes Festival wie die Ruhrtriennale, ist die Unternehmung, das unbekannte und ungespielte Meisterwerk Delusion of the Fury von Harry Partch aufzuführen. Der Inszenierung von Heiner Goebbels geht der Bau und das Erlernen der abenteuerlichen Instrumente für das 43-Ton-System des amerikanischen Ausnahmekomponisten durch das Ensemble MusikFabrik voraus. Ein weiteres bedeutendes Musiktheaterwerk, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, kommt gegen Ende der Saison 2013 in der Regie von Robert Wilson zur Aufführung. Der Komponist Helmut Lachenmann besucht persönlich die Proben und »kontrolliert« den Klang. Dan Perjowschis Kunst des Bezeichnens und Beschriftens von zuvor in Schwarz getauchten öffentlichen Flächen ist im Sommer 2022 auf der Documenta fifteen zu sehen, 2013 hat er mit wall window workshop die Wände und Fenster der Jahrhunderthalle Bochum zu einem temporären Kunstwerk werden lassen.
![Ryoji Ikeda: »test pattern« [100 m version], Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2013](/media/filer_public_thumbnails/filer_public/5c/2b/5c2ba80a-a255-44c8-a332-8c7f402c70d0/1_test_pattern_wonge_bergmann_frei.jpg__480x0_q85_subject_location-2366%2C1578_subsampling-2_upscale.jpg)






2014
Die Junge Triennale hat während der Intendanz von Heiner Goebbels eine völlig neue Ausrichtung erfahren und wurde in »No education« umbenannt. Zentrum der Arbeit sind The Children´s Choice Awards, eine Initiative der kanadischen Forschungs- und Performancegruppe Mammalian Diving Reflex und Darren O'Donnell: die offizielle Festivaljury aus Kindern und Jugendlichen besucht und beurteilt alle Aufführungen des Festivals, trifft und befragt die Künstler:innen und vergibt Preise wie »Die Show, in der ich dachte wtf?«. Romeo Castellucci nennt es eine »Choreografie für 40 Maschinen mit Musik von Igor Strawinsky.« Sein Le Sacre du Printemps kommt mit einer Einspielung der Musik und ganz ohne Tänzer:innen aus: Es performen Maschinen und tierischer Knochenstaub ersetzt das Menschenopfer. Ohne die Aufführung Louis Andriessens De Materie auf einen Moment reduzieren zu wollen, so bleibt doch der langsame, von einem Leuchtzeppelin behütete Auftritt der Schafherde unvergesslich. Seit 2012 trägt Urbane Künste Ruhr mit einem künstlerischen Beitrag zum Programm der Ruhrtriennale bei. Es handelt sich dabei um Kunstwerke im öffentlichen Raum, meist partizipativ und oft prozesshaft angelegt. 2014 entsteht mit Melt ein auf Federn gebauter Steg aus spiegelnden Aluminiumplatten entlang der Hochofenstraße des Landschaftsparks Duisburg-Nord. Beginn 23 Uhr, Dauer viereinhalb Stunden, »Um größtmögliche Ruhe wird gebeten.« Bei dem »Nachtkonzert« in der Jahrhunderthalle Bochum mit dem Ensemble Modern wird Morton Feldmans For Philip Guston gespielt. Zuschauer:innen und Musiker:innen verschmelzen zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Das letzte der vielen außergewöhnlichen Konzerte zwischen 2012-2014 bildet noch einmal das programmatische Spektrum der musikalischen Werke der vergangenen drei Jahre ab: Das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam spielt Kompositionen von Zuidam, Varèse, Strawinsky, Ockeghem und Ligeti – sein Requiem setzt 2014 den Schlusston der Ruhrtriennale von Heiner Goebbels.






2015
»Seid umschlungen!« rufen Johan Simons, Intendant der Ruhrtriennale 2015-2017, und sein Team den Menschen im Ruhrgebiet zu: Das Festival der Jahre 2015 bis 2017 begibt sich auf die Suche nach den Götterfunken (der Erkenntnis). Der Niederländer Simons ist dem Ruhrtriennale-Publikum wohlbekannt. Von Sentimenti, seiner ersten Inszenierung bei der Ruhrtriennale 2003, hin zu dem »Seid umschlungen«-Programm ergibt sich ein schöner Bogen: Im Zentrum der Mensch und seine Gefühle und das Ruhrgebiet, zu dem das Festival in den kommenden drei Jahren neue Verbindungen herstellt. Es beginnt mit Ritournelle, der langen Nacht der elektronischen Pop-Musik. Die Line-Ups der Jahre 2015-2017 locken neue Zuschauer:innengruppen an. Mit dem ersten Musiktheaterabend kommt 2015 ein Ort von kolossalen Ausmaßen als Ruhrtriennale-Spielstätte neu hinzu: In der stillgelegten Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken inszeniert Johan Simons Pasolinis Accattone. Die Dimensionen der Halle lassen den Menschen klein und nichtig erscheinen, Trost geben die Kantaten von J.S. Bach. Die Jahrhunderthalle Bochum ist wieder zentraler Spielort des Festivals. Das Atelier des niederländischen Künstlers Joep van Lieshout baut auf dem Vorplatz der Jahrhunderthalle ein raumgreifendes Festivalzentrum und gibt ihm den Titel The Good, the Bad, and the Ugly. In der Mischanlage der Kokerei Zollverein in Essen folgt ein radikaler ästhetischer Zugriff auf Monteverdis Oper Orfeo: Susanne Kennedy versetzt die Besucher:innen in sieben installativen Räumen in Zustände von Erwartung und Warten, Erschrecken und Befreiung. Wer zu Luigi Nonos Prometeo in der Kraftzentrale in Duisburg wollte, musste zuvor durch dichten Nebel gehen: Um die Orientierung zu verlieren? Um den Hörsinn für die Tragödie des Hörens zu sensibilisieren? Anne Teresa de Keersmaeker, die große belgische Tänzerin und Choreografin, ist regelmäßig bei der Ruhrtriennale. Die Quelle ihrer Choreografien ist immer die Musik; 2015 tritt nun ein Text sehr präsent in Erscheinung: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Zu den besucherstärksten Aufführungen des Festivals überhaupt gehört Johan Simons´ Rheingold in der Jahrhunderthalle Bochum. Die These lautet: Mit dem Rheingold erzählt Wagner die Geschichte des Ruhrgebiets.







2016
Um Künstler:innen und Zuschauer:innen eine kontinuierliche Verbindung mit Themen der künstlerischen Praxis zu ermöglichen, werden mit drei Künstlern Verabredungen über drei Jahre getroffen: Mit dem Choreografen Richard Siegal und den Regisseuren Luk Perceval und Ivo van Hove. Richard Siegal entwickelt bei der Ruhrtriennale eine Three Stages-Dante-Trilogie: Hölle, Fegefeuer, Paradies. »In medias res« ist die Fegefeuer-Station. Luk Perceval adaptiert 2015-2017 für die halboffene Gießhalle im Landschaftspark Duisburg-Nord als »Trilogie meiner Familie« den Romanzyklus »Die Rougon Macquart« von Émile Zola. Die Tragödie des Menschen im Zeitalter der Industrialisierung – was passt besser in das Ruhrgebiet als dieser Stoff? 2017 werden in einem 9-stündigen Theatermarathon die drei Teile »Liebe«, »Geld« und »Hunger« gezeigt. Parallel inszeniert Ivo van Hove über die drei Jahre drei Romane des in den Niederlanden berühmten, in Deutschland zu entdeckenden Autors Louis Couperus. Nach »Die stille Kraft« 2015 ist 2016 »Die Dinge, die vorübergehen« in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck zu sehen. Den Abschluss bildet 2017 »Kleine Seelen«. Mit der Uraufführung »Die Fremden« in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl kommt in der Regie des Intendanten eine Kreation aus Musik, Schauspiel und Film in einer gigantischen Industriehalle aufs Programm, die die Debatte um Kolonialismus und Rassismus und die Zuwanderung von Geflüchteten zum Inhalt hat. Das Problem sind wir – diese Erkenntnis bringt der verhandelte Perspektivwechsel zutage. Einen Machtwechsel unternimmt derweil die Junge Triennale: Mit »Teentalitarismus« wird eine Gruppe Kinder und Jugendliche mit eigenem Produktionsbüro und selbstbestimmtem Programm Teil des Festivalbetriebs. Für »Urban Prayers Ruhr« von Björn Bicker geht das Festival zu den Gläubigen in ihre Gotteshäuser zwischen Duisburg und Dortmund, Hamm und Dinslaken. Um die Kadaver dreier Pferde knieen ausgezehrte, versehrte Körper – Alain Platel und seine Tänzer:innen sind mit einer weiteren berührenden choreografischen Arbeit bei der Ruhrtriennale vertreten. »nicht schlafen« ist ein Ritual um Leiden und Tod mit der Musik von Gustav Mahler.







2017
2017 ist endlich auch der Hip-Hop bei der Ruhrtriennale angekommen. Dafür sorgt die vom Publikum heiß geliebte Theatermacherin Sue Buckmaster und ihre Gruppe Theatre Rites; »The Broke ´n´ Beat Collective« wird enthusiastisch gefeiert – nicht nur von Kindern und Jugendlichen. An drei Abenden lädt PACT Zollverein unter dem Titel »Episoden des Südens« zu einer Perspektivenuntersuchung ein. Künstler:innen, Intellektuelle und Publikum thematisieren das kolonial geprägte strukturelle Ungleichgewicht in der Welt. Dieses notwenige Überdenken althergebrachter Geografien wird sinnlich praktiziert, indem museale Exponate gemeinsam betrachtet und analysiert werden. Mit »Projecting [space[« betreibt die Choreografin Meg Stuart mit ihrer Kompanie Damaged Goods eine Performance-Werkstatt in der Lohberger Zechen-Werkstatt. Das Ergebnis dieser kollektiven Arbeit ist mehr als ein interessanter Vorstellungsbesuch, es ist eine gemeinschaftliche Erfahrung über Raum, Material, Körper, Energie. Die Performances des Tänzers Trajell Harell – so auch »Caen amour« – sind immer eine intellektuelle Beschäftigung mit Tanztraditionen und Erzählstrategien. Was in den Beschreibungen abstrakt klingen mag wird auf der Bühne zu einem tief berührenden Erlebnis. In der Kraftzentrale Duisburg umgibt ein »White Circle« aus vertikalen Leuchtstoffröhren das Publikum in der Installation des Labels raster-noton. archiv für ton und nichtton, Impulsgeber ist der Sound u.a. von Alva Noto. Die Jahrhunderthalle Bochum ist immer wieder Kulisse für die ganz große Oper. 2017 ist es »Pelléas et Mélisande« von Claude Debussy. Regie führt Krzysztof Warlikowski, es dirigiert Sylvain Cambreling, es spielen die Bochumer Symphoniker und es singen Chorwerk Ruhr sowie international renommierte Solist:innen. Seit 2016 fährt ein von Rimini Protokoll zu einem Zuschauer:innenraum umgebauter LKW durch das Ruhrgebiet. Der Truck führt zu sieben Alben (= Orten) mit jeweils sieben Tracks von lokalen wie internationalen Künstler:innen. Loekenfranke zeigt die »Compilation« von Truck Tracks Ruhr als künstlerischen Beitrag von Urbane Künste Ruhr in der Mischanlage der Kokerei Zollverein.







2018
2018 steht wieder ein Wechsel in der künstlerischen Leitung des Festivals an. Wie stets ist dieser mit dem programmatischen Anspruch auf Erneuerung verbunden. Berufen ist die Dramaturgin Stefanie Carp und als Artiste associé Regisseur Christoph Marthaler. Stefanie Carp bezeichnet das »Heute« als eine »Zwischenzeit«. Eine Zeit, die geprägt ist von Millionen migrierender Menschen und globalen Verteilungs- und Klimakriegen. Für ihr Programm lädt sie international ein: Künstler:innen vom afrikanischen und südamerikanischen Kontinent, aus Asien, Europa und Nordamerika. Den Anfang macht die Inszenierung The Head and The Load des Südafrikaners William Kentridge, der sich in seiner künstlerischen Praxis mit der Historie seines Landes beschäftigt. Die Inszenierung wirft Fragen auf: Wer darf wessen Geschichte erzählen und wer darf auf der Bühne stehen? Die Uraufführung Universe, incomplete der unvollendeten Universe Symphony von Charles Ives ist ein Meisterwerk aus dem Marthaler-Viebrock-Kosmos. Titus Engel dirigiert die Bochumer Symphoniker in der Bochumer Jahrhunderthalle. In dieser Saison prägen viele Choreograf:innen das Programm: Darunter die Tänzerin und Aktivistin Mamela Nyamza mit Black Privilege, der Choreograf Serge Aimé Coulibaly mit Kirina und Exodos / EΞΟΔΟΣ von Sascha Waltz. Großformatig ist auch Diamante: Dies ist der Name einer Arbeiter:innensiedlung im argentinischen Dschungel. Der Autor und Regisseur Mariano Pensotti errichtet in der Duisburger Kraftzentrale eine gleichnamige theatrale Siedlung. Was vormals die Werksiedlung im Ruhrgebiet war ist die private City des 21. Jahrhunderts. Schutzraum oder Überwachungsraum?
In ihrer ersten Saison löst Stefanie Carp auch weit beachtete Diskussionen aus. Zentral ist die Debatte um die Band Young Fathers und deren Verbindung zur BDS-Bewegung. Im Zuge dessen lädt das Festival zur Podiumsdiskussion »Freiheit der Künste« ein. Es geht um das Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst und um persönliche und gesellschaftliche Verantwortung im Kontext der deutschen Geschichte. Die Meinungen gehen weit auseinander, und es bleibt offen, ob eine Verständigung möglich sein wird.
2019
Die Ruhrtriennale 2018-2020 hat wieder ein Festivalzentrum. Das Architekten-Kollektiv raumlaborberlin entwickelt mit Teilen eines Flugzeugs eine temporäre Architektur vor der Jahrhunderthalle Bochum: Third Space – so der Titel – bietet im Innern des Fliegers eine Bar und einen Raum für interaktive und diskursive Formate. Eröffnet wird die Saison 2019 mit der Inszenierung des Artiste associé Christoph Marthaler Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend. Marthaler hat dafür in Bochum einen Raum gefunden, der ästhetisch perfekt zu seinen skurrilen, humorvoll-schönen Inszenierungen passt: Das 1974 eröffnete Audimax der Ruhr-Universität Bochum. Zu den sehr eindrücklichen Inszenierungen gehört das Musiktheaterstück Evolution von Kornél Mundruczó und Kata Wéber, das von dem Leben einer Jüdin und ihren Holocaust-Erfahrungen berichtet. Christiane Jatahy erzählt in The Lingering Now von dem Schicksal von Menschen und Ländern. Dabei überführt die Brasilianerin Dokumentarisches und Fiktives mit den Mitteln des Theaters und des Films in einen Dialog. Mit Chorwerk Ruhr hat die Ruhrtriennale in jeder Saison den besten Kammerchor Deutschlands im Programm. Mit dem Programm Coro mit Werken von Luciano Berio und Alessandro Streggio tritt Chorwerk Ruhr 2019 in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck auf. Der frühere Intendant Heiner Goebbels kehrt mit Everything that Happened and Would Happen inklusive einiger Objekte aus Europeras 1&2 zurück.
2020
2020 gibt es erneut eine Diskussion rund um das Thema BDS. Diesmal ausgelöst durch die Einladung des Eröffnungsredners Achille Mbembe. Dem kamerunischen Historiker und Philosophen wird im Kontext seiner Werke Antisemitismus vorgeworfen. Wenngleich Mbembe die Anschuldigungen deutlich von sich weist, löst seine Einladung eine nationale Debatte u.a. im deutschen Feuilleton aus.
Unabhängig davon kommt es nicht zur Eröffnung des Festivals: 2020 ist der Beginn der Corona-Pandemie. Wie viele andere Veranstaltungen auch, wird die Ruhrtriennale 2020 abgesagt. Was temporär bleibt, ist eine digitale Sammlung mit Video-, Audio und Textbeiträgen von Künstler:innen des 2020er Programms. Ausgewählte Produktionen können schließlich bei der Ruhrtriennale 2021 und anderen Institutionen, wie zum Beispiel dem Tanzhaus NRW, dem Festival Theater der Welt oder im Museum Folkwang, ermöglicht werden. Dazu gehören u.a. Archipel von Stephanie Thiersch und Brigitta Muntendorf, die neue Arbeit Los Años / Die Jahre von Mariano Pensotti und das Chorwerk Ruhr Konzert mit Mendelsohn-Bartholdys Elias.
2021
2021 steht erneut ein Wechsel in der künstlerischen Leitung an: Intendantin für die Ruhrtriennale 2021 – 2023 ist Barbara Frey, die als ausgewiesene Schauspielregisseurin mit Der Untergang des Hauses Usher die Eröffnung des Festivals in der Maschinenhalle Gladbeck selbst übernimmt.
Wie immer folgen ruhrgebietsweit Premieren in Tanz, Musiktheater, Performance und Installationen. In der Jahrhunderthalle Bochum gehört dazu das Musiktheater Bählamms Fest. Die Inszenierung des irischen Kollektivs Dead Centre folgt mit eindrucksvollen Bildern und surrealen Szenen der beklemmenden Handlung um das Leben einer Familie auf dem Land. Diese Premiere wird begleitet von der Inbetriebnahme von gleich zwei neuen kreativen Orten auf demselben Gelände. Zum einen die Festivalbibliothek mit Buchempfehlungen der Künstler:innen der Saison und zum anderen die Pappelwaldkantine. Wer die Pappeln – einst zum Barockgarten erhoben – schon abgeschrieben hatte, wird eines viel Schöneren belehrt: mit wenigen Mitteln ist ein vormals unwirtlicher Ort zu einem romantischen Treffpunkt geworden.
Für viele Besucher:innen gehört A Divine Comedy von Florentina Holzinger sicherlich zu den bewegendsten Aufführungen der Saison. In der Kraftzentrale Duisburg findet ein Wagnis statt: mutig und künstlerisch aufwendig wird sich dort was getraut. Selten ist eine weibliche Perspektive auf die Welt mit so viel Power und Phantasie auf die Ruhrtriennale-Bühne gekommen (ehrlicherweise vielleicht bislang noch gar nicht).
Ein Kleinod von kontemplativer Kraft findet im Museum Folkwang statt: The Life Work der dänischen Choreografin Mette Ingvartsen. Berührend ist es, zu erleben, wie vier alte Japanerinnen gelassen in einem atmosphärisch dichten Raum in Kleinstbewegungen agieren, während aus dem Off Erinnerungen ihres langen Lebens hörbar werden. Erinnerungen an das Erwachsenwerden wiederum sind in der Turbinenhalle Bochum »ausgestellt«: In der Videoinstallation 21 porträtiert Mats Staub Erzählende als Zuhörende ihrer eigenen Worte. Eine der wenigen Auftragskompositionen von veritabler Länge in der Festivalgeschichte ist D • I • E von Michael Wertmüller. Wir nehmen Platz auf Drehstühlen in unmittelbarer Nähe des Dirigenten Titus Engel und umgeben von vier Gruppen Musiker:innen. Ein in der Epidemie selten gewordenes Erlebnis von Gemeinschaft.






