20 Jahre Ruhrtriennale

Was bleibt, was war wichtig und was aufregend?

Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Ruhrtriennale stellt die Dramaturgin Dorothea Neweling, die von 2002 bis 2017 für das Festival gearbeitet hat, hier im Auftrag der Ruhrtriennale einen persönlichen Rückblick zusammen.

Diese Retrospektive wird bis Ende 2022 regelmäßig erweitert. Tauchen Sie mit uns ein in die vielfältigen Erinnerungen der einzelnen Festivaljahre!

2002

Die industriellen Hinterlassenschaften im Ruhrgebiet aus den großen Zeiten des Bergbaus und der Stahlindustrie sind immens. Von 1989 bis 1999 hat die Internationale Bauausstellung IBA Emscher Park Zechen, Kraftzentralen, Waschkauen, Kokereien, Gebläse- und Maschinenhallen, Halden und Brachen sichtbar, zugänglich und nutzbar gemacht. Das Potential zum Wandel dieser Orte war freigelegt. Auf Initiative der Landesregierung wird die Ruhrtriennale gegründet: Ein Festival mit ebenso regionaler wie internationaler Ausstrahlung soll in den nun sogenannten »Industriespielstätten« jährlich im Sommer stattfinden. Am 31. August 2002 findet die Eröffnung der ersten Ausgabe der Ruhrtriennale unter künstlerischer Leitung von Gerard Mortier statt.

Mit einhundert Eisenbahnschwellen verleiht Agustín Ibarolla der Halde Haniel einen eigenen Rhythmus und einen Hauch von Poesie. In dieser ersten Installation steckt schon viel von der Idee und der Gestalt der Ruhrtriennale des Gründungsintendanten Gerard Mortier: Die Belebung der ehemaligen Industriestandorte des Ruhrgebiets mit ebenso politischer wie poetischer Kunst durch internationale Künstlerinnen und Künstler.

In Bottrop fordert Peter Sellars mit seiner Deutung der Children of Herakles eine Diskussion über Asyl und Immigration ein, in Duisburg kommt die Winterreise in einem Boxring zur Aufführung und Hanns Eislers Hollywood Elegien werden in der Salzfabrik auf Zollverein zu einem originären Erlebnis durch den Punkmusiker Schorsch Kamerun.

Agustín Ibarolla: »Totems« auf der Halde Haniel in Bottrop.
Agustín Ibarolla: »Totems« auf der Halde Haniel in Bottrop. | © Michael Kneffel
Peter Sellars: »The Children of Herakles«, Lichthof Bottrop, 2002
Peter Sellars: »The Children of Herakles«, Lichthof Bottrop, 2002 | © Ruth Walz
Oliver Herrmann: »Winterreise«, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord, 2002
Oliver Herrmann: »Winterreise«, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord, 2002 | © Manfred Vollmer
Schorsch Kamerun: »Hollywood Elegien«, Salzfabrik der Kokerei Zollverein Essen, 2002
Schorsch Kamerun: »Hollywood Elegien«, Salzfabrik der Kokerei Zollverein Essen, 2002 | © Mara Eggert

2003

Engel beschwören 2003 – der zweiten Saison der Ruhrtriennale von Gerard Mortier – die utopische Kraft und das humanistische Potenzial von Theater, Oper, Tanz und Kunst. Da sind zum Beispiel Olivier Messiaens Saint François D`Assise vor der großen Kathedralenkuppel von Ilija Kabakov in der Jahrhunderthalle Bochum und die 8-stündige Aufführung von Der seidene Schuh. Es entfaltet sich viel spirituelle Kraft in diesem zweiten Programm. Mit den Kreationen entsteht eine neue Kunstform aus Theater, Musik und Tanz. Zu den prägendsten Kreationen der Mortier-Jahre gehören Wolf in der Kraftzentrale Duisburg und Sentimenti in der Jahrhunderthalle Bochum. Mit dieser Geschichte einer Bergarbeiterfamilie verbindet sich das Festival explizit mit der Arbeitshistorie der Region. Mit der Konzertreihe Century of Song tritt das Festival den Beweis an, dass auch populäre Musik in dieses neue Festival gehört. Denn in unser aller Biografien und in die Geschichte des 20. Jahrhunderts haben sich Pop Songs fest eingeschrieben – und über viele Festivaljahre hin auch in die Geschichte der Ruhrtriennale.

Olivier Messiaen / Ilya Kabakov / Sylvain Cambreling: »Saint François D`Assise«, Jahrhunderthalle Bochum, 2003
Olivier Messiaen / Ilya Kabakov / Sylvain Cambreling: »Saint François D`Assise«, Jahrhunderthalle Bochum, 2003 | © Michael Kneffel
Paul Claudel / Stefan Bachmann »Der seidene Schuh«, Jahrhunderthalle Bochum, 2003
Paul Claudel / Stefan Bachmann »Der seidene Schuh«, Jahrhunderthalle Bochum, 2003 | © Sebastian Hoppe
Alain Platel: »Wolf«, Kraftzentrale Landschaftspark Duisburg-Nord, 2003
Alain Platel: »Wolf«, Kraftzentrale Landschaftspark Duisburg-Nord, 2003 | © Ursula Kaufmann
Johan Simons: »Sentimenti«, Jahrhunderthalle Bochum, 2003
Johan Simons: »Sentimenti«, Jahrhunderthalle Bochum, 2003 | © Ursula Kaufmann
»Century of Song« mit Suzanne Vega, Bill Frisell & Friends, Gießhalle Landschaftspark Duisburg-Nord, 2003
»Century of Song« mit Suzanne Vega, Bill Frisell & Friends, Gießhalle Landschaftspark Duisburg-Nord, 2003 | © Andreas Mader

2004

»Die Wiedererrichtung des Himmels« – so lautet 2004 der Titel der neuen Literaturreihe und so steht es als Leitmotiv über der Saison 2004. Die Programmbroschüre zeigt dazu unveröffentlichte Bilder aus dem Wolkenatlas von Gerhard Richter: Wolken, Himmel, ein offener Raum, voller Utopien. Dazu passt Peter Brooks »Tierno Bokar«, etwas, das mehr einer Meditation über den Umgang mit Gewalt gleicht als einer klassischen Theateraufführung. Dazu passen auf ganz andere Weise die aufwühlenden Szenen, die Ariane Mnouchkine in »Le dernier Caravansérail« findet – sie sind 20 Jahre später mehr als aktuell.

Mit der »Jungen Triennale« entsteht schließlich ein Programm eigens für Kinder und Jugendliche. Kooperationen mit der freien Szene werden im Sonderprogramm »Raum.Pfad« geknüpft. Zum Ende verabschiedet sich Mortier, der aus Salzburg ins Ruhrgebiet kam, mit einer fulminanten Aufführung von »La Damnation de Faust« an die Opéra in Paris. Er lässt uns aber bald darauf wissen: »À la Ruhr war es am schönsten!«. 

Peter Brook: »Tierno Bokar«, Gebläsehalle Landschaftfspark Duisburg-Nord, 2004
Peter Brook: »Tierno Bokar«, Gebläsehalle Landschaftfspark Duisburg-Nord, 2004 | © Ursula Kaufmann
Ariane Mnouchkine: »Le dernier Caravansérail«, Jahrhunderthalle Bochum, 2004
Ariane Mnouchkine: »Le dernier Caravansérail«, Jahrhunderthalle Bochum, 2004 | © Wolfgang Silveri
Junge Triennale: »Irrfahrten über Tage«, Kokerei Zollverein, 2004
Junge Triennale: »Irrfahrten über Tage«, Kokerei Zollverein, 2004 | © Wolfgang Silveri
Raum.Pfad: »Der Mann von oben«, SWB Hochaus Mülheim, 2004
Raum.Pfad: »Der Mann von oben«, SWB Hochaus Mülheim, 2004 | © Ursula Kaufmann
La Fura dels Baus: »La Damnation de Faust«, 2004, Jahrhunderthalle Bochum
La Fura dels Baus: »La Damnation de Faust«, 2004, Jahrhunderthalle Bochum | © Ursula Kaufmann

2005

Eine Ruhrtriennale-Intendanz dauert drei Jahre. Schon der ersten Ausgabe gegenüber zeigen sich die Zuschauer:innen aus dem Ruhrgebiet sehr aufgeschlossen. Offen für Unbekanntes und frei in ihrer Wahrnehmung probieren sie aus und machen Verrücktheiten mit. In diesem Sinne wird 2005 auch der Wechsel zum zweiten Intendanten von Neugierde begleitet. Berufen ist der deutsche Regisseur und Theatermacher Jürgen Flimm.

Flimm und sein Team gehen mit ihrem Programm über drei Jahre kultur- und geistesgeschichtlich rückwärts: Romantik – Barock – Mittelalter. Damit gibt das Festival sich und den eingeladenen Künstler:innen ein Thema auf.

Die erste Saison steht im Zeichen der deutschen Romantik und Verbindungslinien zur Frühzeit der Industrialisierung im Ruhrgebiet werden erkennbar. »Nächte unter Tage« von Andrea Breth und Christian Boltanski in der Mischanlage der Kokerei Zollverein ist ein Erforschen von unbekannter Tiefe, ein Begehen von Abgründen und wie ein zeitloses Schweben ohne romantische Verklärung. In Gladbeck inszeniert Alvis Hermanis Sorokins »Das Eis«. Auch dies eine Art suchendes Stationentheater. Zur »Schule der Romantik« kommen nach Bochum: Patti Smith (die natürlich auch ein Konzert gibt), Michel Houellebecq, Olga Neuwirth und Haroun Farocki. Eine überbordende und lustvolle Hommage an den Alpinismus – dessen Beginn mit der Romantik zusammenfällt – erfinden Sven-Eric Bechtolf und Franui mit »Steine und Herzen« für die Kraftzentrale in Duisburg. Von schöner Leichtigkeit und feinsinnigem Humor ist auch die Musiktheater-Kreation »Das Trojanische Boot« der Musikbande Mnozil Brass.

Andrea Breth und Christian Boltanski: »Nächte unter Tage«, Kokerei Zollverein Essen, 2005
Andrea Breth und Christian Boltanski: »Nächte unter Tage«, Kokerei Zollverein Essen, 2005 | © Bernd Uhlig
Alvis Hermanis »Das Eis«, Maschinenhalle Zeche Zweckel Gladbeck, 2005
Alvis Hermanis »Das Eis«, Maschinenhalle Zeche Zweckel Gladbeck, 2005 | © Ursula Kaufmann
»Schule der Romantik« mit Patti Smith, Jahrhunderthalle Bochum, 2005
»Schule der Romantik« mit Patti Smith, Jahrhunderthalle Bochum, 2005 | © Christoph Sebastian
Sven Eric Bechtolf: »Steine und Herzen«, Kraftzentrale Landschaftspark Duisburg-Nord, 2005
Sven Eric Bechtolf: »Steine und Herzen«, Kraftzentrale Landschaftspark Duisburg-Nord, 2005 | © Clemens Sippel
Mnozil Brass: »Das Trojanische Boot«, Jahrhunderthalle Bochum, 2005
Mnozil Brass: »Das Trojanische Boot«, Jahrhunderthalle Bochum, 2005 | © Ursula Kaufmann

2006

Von Beginn an wird die Ruhrtriennale finanziell durch Freunde, Stiftungen, Initiativen und Förderer großzügig unterstützt. Ein großes Engagement, das zu einer raschen Verankerung des Festivals in der regionalen, nationalen und europäischen Kulturlandschaft beiträgt.

Die Themensetzungen Romantik – Barock – Mittelalter für die Jahre 2005-2007 sind kein Gedächtnisakt und kein Vorgang des Bewahrens – die Suche nach Reibung und Gegenwartstauglichkeit macht die Verknüpfungen interessant. Nach der Romantik rückt 2006 der Barock in den Fokus. Den Anfang machen Johan Simons und Peter Vermeersch mit »Das Leben ein Traum« von 1653, das in Gladbeck als ein surreales Märchen stattfindet, in dem der Mensch in seine eigene Geschichte eingreifen kann. Die Partitur der Marienvesper von Monteverdi dient Alain Platel in »VSPRS« als Ausgangspunkt für eine Performance über Kontrolle und Verlust. Mit dem Barockgarten an der Jahrhunderthalle Bochum kommt (endlich) etwas Grün auf den Vorplatz – temporär erdacht stehen die Pappeln bis heute! »Rubens und das nichteuklidische Weib« lautet der auch nach Erleben der Aufführung rätselhaft bleibende Titel von Christian Stückls Inszenierung in der Duisburger Kraftzentrale. Bleibenden Eindruck davon hinterlassen haben die Tableaux vivants der Gemälde des übrigens in Oberhausen geborenen Peter Paul Rubens. Die vielleicht größte Anstrengung überhaupt unternimmt das Festival 2006 mit der Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns »Die Soldaten«. Eine 130 Meter lange Szenenfläche, auf Schienen fahrende Tribünen, 22 Solist:innen, allein das Schlagwerk füllt schon einen Orchestergraben... 2008 wurde die Produktion zum Lincoln Center Festival in der Armory Hall New York eingeladen – und ist heute noch als DVD-Aufzeichnung zu erleben.

Pedro Calderón / Johan Simons / Peter Vermeersch: »Das Leben ein Traum«, Maschinenhalle Zweckel Gladbeck, 2006
Pedro Calderón / Johan Simons / Peter Vermeersch: »Das Leben ein Traum«, Maschinenhalle Zweckel Gladbeck, 2006 | © Ursula Kaufmann
Alain Platel: »VSPRS«, Jahrhunderthalle Bochum, 2006
Alain Platel: »VSPRS«, Jahrhunderthalle Bochum, 2006 | © Ursula Kaufmann
Eröffnung des Barockgartens, Jahrhunderthalle Bochum, 2006
Eröffnung des Barockgartens, Jahrhunderthalle Bochum, 2006 | © Olaf Ziegler
Péter Esterházy / Philipp Stölzl: »Rubens und das nichteuklidische Weib«, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord, 2006
Péter Esterházy / Philipp Stölzl: »Rubens und das nichteuklidische Weib«, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord, 2006 | © Matthias Baus
Bernd Alois Zimmermann / David Pountney / Steven Sloane: »Die Soldaten«, Jahrhunderthalle Bochum, 2006
Bernd Alois Zimmermann / David Pountney / Steven Sloane: »Die Soldaten«, Jahrhunderthalle Bochum, 2006 | © Michael Kneffel

2007

Das Mittelalter ist der Schwerpunkt für das dritte Jahr der Intendanz Jürgen Flimm. Unabhängig von thematischen Überlegungen sind dabei die Konzerte der Reihe »Century of Song«. Als fester Bestandteil des Programms – seit 2002 kuratiert von Chefdramaturg Thomas Wördehoff – finden sie stets unter einem opulenten Kronleuchter statt. Ein Stückauftrag zum Thema geht an den Autor Wilhelm Genazino: »Courasche oder Gott lass nach«, die Premiere ist in der Duisburger Gebläsehalle. Dieser Raum ist auch der (ideale) Ort für die Aufführung eines anderen mittelalterlichen Stoffes: »Le vin herbé«. Die Regie für dieses weltliche Oratorium von Frank Martin aus dem Jahr 1941 über den Tristan und Isolde-Stoff übernimmt Willy Decker. Einen Werkauftrag erhält der junge Komponist Jörn Arnecke, der »Unter Eis« vertont, einen Text von Falk Richter, der auch Regie führt. Ebenfalls in der Jahrhunderthalle Bochum: Jan Fabres »Requiem für eine Metamorphose«: Bilder von Tod und Verwesung in einem uferlosen Blumenmeer. Der Tanz ist seit 2002 in jeder Saison eine wichtige Sparte im Programm der Ruhrtriennale. Bei PACT Zollverein kuratiert Stefan Hilterhaus das Programm. Choreograph:innen und ihre Kompanien aus aller Welt feiern Premiere im Ruhrgebiet – wie zum Beispiel 2007 Arbeiten von Wim Vandekeybus oder Trisha Brown.

»Century of Song«, Jahrhunderthalle Bochum, 2007
»Century of Song«, Jahrhunderthalle Bochum, 2007 | © Michael Kneffel
Wilhelm Genazino, Stephanie Mohr: »Courasche oder Gott lass nach«, Gebläsehalle Landschaftspark Duisburg-Nord, 2007
Wilhelm Genazino, Stephanie Mohr: »Courasche oder Gott lass nach«, Gebläsehalle Landschaftspark Duisburg-Nord, 2007 | © Marion Bührle
Frank Martin / Willy Decker / Friedemann Layer / Wolfgang Gussmann: »Le vin herbé «, Gebläsehalle Landschaftspark Duisburg-Nord, 2007
Frank Martin / Willy Decker / Friedemann Layer / Wolfgang Gussmann: »Le vin herbé «, Gebläsehalle Landschaftspark Duisburg-Nord, 2007 | © Clärchen und Matthias Baus
Jörn Arnecke, Falk Richter, Johannes Debus: Titel in »Unter Eis«, Jahrhunderthalle Bochum, 2007
Jörn Arnecke, Falk Richter, Johannes Debus: Titel in »Unter Eis«, Jahrhunderthalle Bochum, 2007 | © Michael Kneffel
Jan Fabre: »Requiem für eine Metamorphose«, Jahrhunderthalle Bochum, 2007
Jan Fabre: »Requiem für eine Metamorphose«, Jahrhunderthalle Bochum, 2007 | © Ursula Kaufmann

2008

Bereits im Jahr 2006 wird Marie Zimmermann als Nachfolgerin für die Jahre 2008-2010 benannt. Doch die Dramaturgin und erfahrene Festivalleiterin stirbt noch während der Vorbereitungen. Das Team um Jürgen Flimm verlängert daraufhin kurzfristig um ein weiteres Jahr. Zum Programm unter dem Titel Aus der Fremde gehören bereits geplante Projekte von Marie Zimmermann, Neuproduktionen, eine Auswahl an Gastspielen, Konzerte der Reihe Century of Song und Lesungen.

In der Duisburger Gebläsehalle baut Christoph Schlingensief die Oberhausener Herz-Jesu-Kirche nach und zelebriert dort seine Lungenkrebsdiagnose als autobiographische Liturgie. Schlingensiefs letzte Arbeit verschränkt radikal und pathetisch Kunst und Religion. Die Arbeit Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir wird 2009 zum Theatertreffen in Berlin eingeladen. Schorsch Kamerun inszeniert in einem Labyrinth aus milchigen Folientunneln Westwärts. Die Maschinenhalle Zweckel ein Quarantänelager? Sandra Hüller singt und spricht in diesem begehbaren Ausnahmezustand Gedichte und Schriften von Rolf Dieter Brinkmann. Alain Platel ist auch in der Saison 2008 zu Gast bei der Ruhrtriennale. Die Performance pitié. Erbarme Dich! sucht Mitgefühl und Mitleid im Angesicht des Todes und findet dafür berührende Bilder und intensive Momente. Die Fidena ist lange eine Partnerin der Ruhrtriennale. 2008 verbreiten lebensgroße Hasenfiguren in der Figurentheaterperformance Cuniculus. Eine Menschwerdung von Neville Trenter ihren Schrecken bei PACT Zollverein. Viscontis Rocco und seine Brüder wird von Ivo van Hove in der Jahrhunderthalle Bochum inszeniert. Die Geschichte der fünf Brüder erzählt von der Hoffnung auf Glück und der harten Realität der Migration und Entwurzelung: Die Bühne ist ein Boxring. Über den Festivalzeitraum 2008 ist in der Jahrhunderthalle Bochum ein offener Raum für Literatur aufgebaut. In Erinnerung an die verstorbene Festivalleiterin wird dort aus Maries Büchern gelesen.

Christoph Schlingensief, »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir«, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2008
Christoph Schlingensief, »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir«, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2008 | © David Baltze
Katja Eichbaum, Schorsch Kamerun: »Westwärts«, Maschinenhalle, Zeche Zweckel, 2008
Katja Eichbaum, Schorsch Kamerun: »Westwärts«, Maschinenhalle, Zeche Zweckel, 2008 | © Ursula Kaufmann
les ballets C de la B, Alain Platel, Fabrizio Cassol: »pitié! Erbarme dich!«, Jahrhunderthalle Bochum, 2008
les ballets C de la B, Alain Platel, Fabrizio Cassol: »pitié! Erbarme dich!«, Jahrhunderthalle Bochum, 2008 | © Ursula Kaufmann
Neville Tranter: »Cuniculus. Eine Menschwerdung«, PACT Zollverein, 2008
Neville Tranter: »Cuniculus. Eine Menschwerdung«, PACT Zollverein, 2008 | © Michael Kneffel
Ivo van Hove, »Rocco und seine Brüder«, Jahrhunderthalle Bochum, 2008
Ivo van Hove, »Rocco und seine Brüder«, Jahrhunderthalle Bochum, 2008 | © Jan Versweyveld
David Tushingham, Joachim Janner: »Maries Büchern«, Jahrhunderthalle Bochum, 2008
David Tushingham, Joachim Janner: »Maries Büchern«, Jahrhunderthalle Bochum, 2008 | © Birgit Hupfeld

2009

Die Ruhrtriennale folgt ihrem Anspruch auf permanente Erneuerung durch die Wahl des Musiktheaterregisseurs Willy Decker zum dritten Intendanten von 2009-2011. Der bekennende Buddhist ist der erste Festivalleiter, der auch eigene Inszenierungen zeigt. Wie von Hand geschrieben tauchen das Wort Urmomente und ein wie von einem Zen-Meister gemaltes Logo bei der Ruhrtriennale auf. Decker stellt den drei Jahren jeweils ein Wort voran: Aufbruch – Wanderung – Ankunft. Aufbruch sinnt dem Judentum nach, die Wanderung dem Islam und die Ankunft dem Buddhismus. In den von Spiritualität begleiteten Jahren 2009-2011 erscheint manches fern und unbekannt: Derwische, Rituale und Zeremonien, die Mystik der Sufi. Der Aufbruch gelingt Willy Decker zum Start des Festivals 2009 mit seiner Inszenierung von Arnold Schönbergs Moses und Aron in der Jahrhunderthalle Bochum unter Mitwirkung von Chorwerk Ruhr und den Bochumer Symphonikern. Die Leidensgeschichte des Juden Hiob nach Josef Roth gehört sicherlich zu den schönsten Inszenierungen von Regisseur Johan Simons. In Dritte Generation thematisieren zehn junge Spieler:innen aus Deutschland, Israel und Palästina ihre Herkünfte. Yael Ronen inszeniert sie sparsam und direkt. Ein besonderes Konzert stellt Jordi Savall für die Ruhrtriennale mit jüdischen und palästinensischen Musiker:innen und Texten über die dramatische Geschichte einer besonderen Stadt zusammen: Jerusalem. Die Stadt der zwei Frieden. In der Maschinenhalle Zweckel Gladbeck ist Sing für mich, Tod – ein Ritual für den Komponisten Claude Vivier zu erleben. Viviers Leben und Werk kreiste um Einsamkeit, Angst und um die Suche nach Liebe. Ein fiktives Land in weiter Ferne, fern jeder Zeit – das ist Autland. In diesem Musiktheaterstück trifft Johannes Ockeghems Kanon für 36 Stimmer aus dem 15. Jahrhundert auf Musik der Jetztzeit von Sergej Newski. Von der Ordnung zum Chaos zur Reizüberflutung.

Willy Decker, Bochumer Symphoniker, CHORWERK RUHR: »Moses und Aaron«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009
Willy Decker, Bochumer Symphoniker, CHORWERK RUHR: »Moses und Aaron«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009 | © Paul Leclaire
Johan Simons: »Hiob«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009
Johan Simons: »Hiob«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009 | © Ursula Kaufmann
Yael Ronen: »Dritte Generation«, PACT Zollverein, 2009
Yael Ronen: »Dritte Generation«, PACT Zollverein, 2009 | © Ursula Kaufmann
Jordi Savall, La Capella Reial De Catalunya, Hespèrion XXI: »Jerusalem«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009
Jordi Savall, La Capella Reial De Catalunya, Hespèrion XXI: »Jerusalem«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009 | © Michael Kneffel
Albert Ostermaier, Christoph Poppen, musikFabrik: »Sing für mich Tod«, Maschinenhalle, Zeche Zweckel, 2009
Albert Ostermaier, Christoph Poppen, musikFabrik: »Sing für mich Tod«, Maschinenhalle, Zeche Zweckel, 2009 | © Paul Leclaire
Beate Baron, Sergej Newski und Justyna Jaszczuk: »Autland«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009
Beate Baron, Sergej Newski und Justyna Jaszczuk: »Autland«, Jahrhunderthalle Bochum, 2009 | © Michael Kneffel

2010

Das Kulturhauptstadt 2010 versetzt das Ruhrgebiet für ein Jahr in eine kulturelle Ideallandschaft. Natürlich steuert auch die Ruhrtriennale ein besonderes Programm bei: So kommt es in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck zur Premiere der letzten Oper des damals 86-jährigen Hans Werner Henze: Gisela! oder: die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks. In Verrücktes Blut nimmt eine Lehrerin ihre Schüler:innen mit vorgehaltener Pistole als Geiseln und zwingt sie, Schillers Räuber zu spielen. Die Koproduktion mit dem Ballhaus Naunynstraße wird zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die Tanzperformance Vertical Road des von den Mythen des Islam inspirierten Choreographen Akram Khan sucht eine spirituelle Verbindung zwischen dem irdischen und dem himmlischen Leben. In Leila und Madschnun steht die vernichtende Realität des Krieges der Utopie einer verbotenen Liebe gegenüber. Viele Tonnen Sand machen für die musiktheatrale Erzählung aus der Jahrhunderthalle Bochum eine Wüste. Am gleichen Ort entsteht ein großer Raum unter einer schweren Platte, die einen Meter über dem Boden schwebt. Die Perspektive des Menschen in William Forsythe‘s The Defenders ist beklemmend. Kaum jemand hat die Mischanlage der Kokerei Zollverein je so schön in Himmel und Hölle versetzt wie Sue Buckmaster und ihre Kollaborant:innen von Theatre-Rites in Paradise. Alltag und Religion aus Orient und Okzident begegnen sich auch im Tanz. Le Cri der Schwestern Belaza verbindet das Kreiseln der Derwische mit der Bewegungssprache des zeitgenössischen Tanzes.

Hans Werner Henze, Michael Kerstan, Christian Lehnert: »Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks.«, Maschinenhalle Zweckel, 2010
Hans Werner Henze, Michael Kerstan, Christian Lehnert: »Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks.«, Maschinenhalle Zweckel, 2010 | © Ursula Kaufmann
Nurkan Erpulat, Jens Hillje: »Verrücktes Blut«, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2010
Nurkan Erpulat, Jens Hillje: »Verrücktes Blut«, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2010 | © Paul Leclaire
Akram Khan: »Vertical Road«, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2010
Akram Khan: »Vertical Road«, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2010 | © Paul Leclaire
Samir Odeh-Tamimi, Albert Ostermaier: »Leila und Madschnun«, Jahrhunderthalle Bochum, 2010
Samir Odeh-Tamimi, Albert Ostermaier: »Leila und Madschnun«, Jahrhunderthalle Bochum, 2010 | © Paul Leclaire
The Forsythe Company: »The Defenders«, Jahrhunderthalle Bochum, 2010
The Forsythe Company: »The Defenders«, Jahrhunderthalle Bochum, 2010 | © Dominik Mentzos
Sue Buckmaster, Theatre-Rites: »Paradise«, Mischanlage Kokerei Zollverein, 2010
Sue Buckmaster, Theatre-Rites: »Paradise«, Mischanlage Kokerei Zollverein, 2010 | © Volker Beushausen
Nacera Belaza: »Le Cri«, PACT Zollverein, 2010
Nacera Belaza: »Le Cri«, PACT Zollverein, 2010 | © Agathe Poupeney

2011

Luk Perceval: »Macbeth«, Maschinenhalle Zweckel, 2011
Luk Perceval: »Macbeth«, Maschinenhalle Zweckel, 2011 | © Armin Smailovic
Toshio Hosokawa, Calixto Bieito, musikFabrik: »Hanjo«, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2011
Toshio Hosokawa, Calixto Bieito, musikFabrik: »Hanjo«, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2011 | © Paul Leclaire
Toshiki Okada: »The Sonic Life of a Giant Tortoise«, PACT Zollverein, 2011
Toshiki Okada: »The Sonic Life of a Giant Tortoise«, PACT Zollverein, 2011 | © Kikuko Usuyama
Willy Decker, Chorwerk Ruhr, Duisburger Philharmoniker: »Tristan und Isolde«, Jahrhunderthalle Bochum, 2011
Willy Decker, Chorwerk Ruhr, Duisburger Philharmoniker: »Tristan und Isolde«, Jahrhunderthalle Bochum, 2011 | © Paul Leclaire
John Cage, Robert Moran, Chorwerk Ruhr, Ensemble Resonanz: »Buddha goes to Bayreuth«, Gasometer Oberhausen, 2011
John Cage, Robert Moran, Chorwerk Ruhr, Ensemble Resonanz: »Buddha goes to Bayreuth«, Gasometer Oberhausen, 2011 | © Ursula Kaufmann
Mönche aus dem Königreich Bhutan: »Die Streuung des Mandala«, Jahrhunderthalle Bochum, 2011
Mönche aus dem Königreich Bhutan: »Die Streuung des Mandala«, Jahrhunderthalle Bochum, 2011 | © Paul Leclaire

Auch der Regisseur Luk Perceval hat eine Beziehung zum Buddhismus. Sein Macbeth ist eine minimalistische, eindrückliche, ruhige Inszenierung in einer von einem imposanten Stapel Tische und verstreuten Soldatenstiefeln ansonsten leeren Maschinenhalle Zweckel. Toshio Hosokawas Oper Hanjo nach einem traditionellen japanischen Nô-Spiel handelt vom unendlichen Warten dreier Menschen. Ein uralter Stoff wird hier mit den Mitteln des westlichen Theaters neu belebt. Aus Japan nach Essen zu PACT Zollverein kommt der Choreograf Toshiko Okada mit The Sonic Life Of a Giant Tortoise. Ein Paar aus Tokio kämpft mit dem Alltag und gerät dabei in Kollision mit seiner (Zen)Philosophie eines gelungenen Lebens. Die tiefe, verzweifelte Liebe von Tristan und Isolde wird in Willy Deckers Inszenierung in Schwerelosigkeit und Einswerdung erlöst.
Was wäre die Ruhrtriennale ohne die Mitwirkung von Chorwerk Ruhr? Von Anbeginn trägt dieses herausragende Ensemble mit eigenen Konzerten und als Chor bei Musiktheaterproduktionen zum Erfolg des Festivals bei. Im 117 Meter hohen Gasometer Oberhausen findet mit dem Chorwerk Ruhr bei Buddha goes to Bayreuth ein spektakuläre Raum-Klang-Erfahrung statt. Auch unter der Leitung von Willy Decker ist das großartige Festival-Publikum den durchaus gewagten Weg zu den »Urmomenten« mitgegangen. Finalen Ausdruck findet dies in der enormen Resonanz auf das Streuen des Sand-Mandalas in der Jahrhunderthalle Bochum durch vier Mönche aus dem Königreich Buthan – die Besucher:innenströme wollen nicht abreißen. Das Ruhrtriennale-Team um Intendant Willy Decker verabschiedet sich mit der zeremoniellen Übergabe des südasiatischen Sandes in den Dortmund-Ems-Kanal.

2012

John Cage, Heiner Goebbels: »Europeras« 1&2, Jahrhunderthalle Bochum, 2012
John Cage, Heiner Goebbels: »Europeras« 1&2, Jahrhunderthalle Bochum, 2012 | © Wonge Bergmann
Boredoms, Halde Haniel, 2012
Boredoms, Halde Haniel, 2012 | © Ariette Armella
Romeo Castellucci: »FOLK.«, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2012
Romeo Castellucci: »FOLK.«, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2012 | © Wonge Bergmann
Mathilde Monnier, Dominique Figarella: »Soapéra«, Salzlager, UNESCO-Welterbe Zollverein, 2012
Mathilde Monnier, Dominique Figarella: »Soapéra«, Salzlager, UNESCO-Welterbe Zollverein, 2012 | © Marc Coudrais
Pavol Liska, Kelly Copper, Nature Theater of Oklahoma: »Life and Times – Episode 2«, PACT Zollverein, 2012
Pavol Liska, Kelly Copper, Nature Theater of Oklahoma: »Life and Times – Episode 2«, PACT Zollverein, 2012 | © Anna Stöcher/Burgtheater Wien
Klaus Biesenbach, Hans Ulrich Obrist: »12 Rooms«, Museum Folkwang, 2012
Klaus Biesenbach, Hans Ulrich Obrist: »12 Rooms«, Museum Folkwang, 2012 | © Jörg Baumann

»Kunst als Erfahrung, Theater als Realität.«, mit diesen Worten kündigt der Komponist, Theatermacher und Professor für Angewandte Theaterwissenschaft Heiner Goebbels das Programm der Ruhrtriennale von 2012-2014 an. Goebbels und sein Dramaturgie-Team setzen stark auf Musik und das Musiktheater, zeigen viel bildende Kunst, beziehen Museen als Spielorte ein und geben der Performance mehr Raum. Die Eröffnung 2012 ist ein Bekenntnis: Radikale Polyphonie und die Disziplin des Zufalls: Heiner Goebbels erste Regiearbeit bringt John Cage‘s so gut wie nie gespielte Opern Europeras 1&2 in die Jahrhunderthalle Bochum. Boredoms auf der Halde Haniel = Noise. Power. Performance. Folk. von Romeo Castellucci inszeniert das Drama der Gemeinschaft und das Drama des Alleinseins als Taufakt in einem Bassin in der Gebläsehalle in Duisburg. Die schöne Erinnerung an Soapéra von Mathilde Monnier ruft die Worte »Schaum« und »Zeit« ins Gedächtnis. Darüber hinaus lässt sich nur ungenügend beschreiben was da geschehen ist: Theater als Erfahrung. Life and Times 2 des New Yorker Nature Theatre Of Oklahoma ist Theater als Serie – Folge 2 von 10 läuft bei PACT Zollverein in Essen. Viel Publikum lockt der Live Art-Parcours 12 Rooms in das Museum Folkwang. Die Intimität der Räume, die Radikalität der Darstellung, die Kraft der Performer und auch der Humor der internationalen Künstler:innen hinterlassen einen bleibenden Eindruck.

2013

Das Unterlaufen von Genrezuweisungen ist die erklärte Absicht auch des Programms 2013, dem zweiten Jahr von Intendant Heiner Goebbels. test pattern ist das überwältigende Erlebnis der perfekten Synchronisation von reduziertem Bild und reduziertem Ton in der Kraftzentrale Duisburg. Über 22.000 Menschen haben diese 100 Meter-Version der Installation von Ryoji Ikeda im Landschaftspark Duisburg Nord besucht. Globaler Waffenhandel und seine Folgen für das Leben unterschiedlicher Menschen weltweit, davon erzählen die Situation Rooms der Performancegruppe Rimini Protokoll in Form einer einzeln begehbaren Augmented Reality-Installation. »Ein Theaterstück über das, was man nicht sieht.« heißt es im Untertitel zu der Aufführung 300 el x 50 el x 30 el. Bilder anstelle von Worten sind das lustvoll verfolgte Prinzip der Geschichtenerzähler-Gruppe FC Bergman aus Antwerpen. Die Premiere von Boris Charmatz´ Levée des conflits im Amphitheater auf der Halde Haniel hat im Dauerregen stattgefunden. Performer:innen und Zuschauer:innen haben sich vergemeinschaftet und bis zum Ende durchgehalten. Am nächsten Abend ist die Aufführung dann in den Lichthof der Bottroper Berufsschule umgezogen. Außergewöhnlich, selbst für ein produzierendes Festival wie die Ruhrtriennale, ist die Unternehmung, das unbekannte und ungespielte Meisterwerk Delusion of the Fury von Harry Partch aufzuführen. Der Inszenierung von Heiner Goebbels geht der Bau und das Erlernen der abenteuerlichen Instrumente für das 43-Ton-System des amerikanischen Ausnahmekomponisten durch das Ensemble MusikFabrik voraus. Ein weiteres bedeutendes Musiktheaterwerk, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, kommt gegen Ende der Saison 2013 in der Regie von Robert Wilson zur Aufführung. Der Komponist Helmut Lachenmann besucht persönlich die Proben und »kontrolliert« den Klang. Dan Perjowschis Kunst des Bezeichnens und Beschriftens von zuvor in Schwarz getauchten öffentlichen Flächen ist im Sommer 2022 auf der Documenta fifteen zu sehen, 2013 hat er mit wall window workshop die Wände und Fenster der Jahrhunderthalle Bochum zu einem temporären Kunstwerk werden lassen.

Ryoji Ikeda: »test pattern« [100 m version], Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2013
Ryoji Ikeda: »test pattern« [100 m version], Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2013 | © Wonge Bergmann
Rimini Protokoll: »Situation Rooms«, Turbinenhalle / Jahrhunderthalle Bochum, 2013
Rimini Protokoll: »Situation Rooms«, Turbinenhalle / Jahrhunderthalle Bochum, 2013 | © Jörg Baumann
FC Bergman: »300 el x 50 el x 30 el«, Salzlager, UNESCO-Welterbe Zollverein, 2013
FC Bergman: »300 el x 50 el x 30 el«, Salzlager, UNESCO-Welterbe Zollverein, 2013 | © Sofie Silbermann
Boris Charmatz: »Levée des conflits«, Halde Haniel, 2013
Boris Charmatz: »Levée des conflits«, Halde Haniel, 2013 | © Michael Kneffel
Harry Partch, Heiner Goebbels, Ensemble musikFabrik: Delusion of the Fury, Jahrhunderthalle Bochum, 2013
Harry Partch, Heiner Goebbels, Ensemble musikFabrik: Delusion of the Fury, Jahrhunderthalle Bochum, 2013 | © Wonge Bergmann
Robert Wilson, Helmut Lachenmann, hr-Sinfonieorchester, Chorwerk Ruhr: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, Dampfgebläsehaus, 2013
Robert Wilson, Helmut Lachenmann, hr-Sinfonieorchester, Chorwerk Ruhr: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, Dampfgebläsehaus, 2013 | © Julian Mommert
Dan Perjovschi: »www 2013«, Jahrhunderthalle Bochum, 2013
Dan Perjovschi: »www 2013«, Jahrhunderthalle Bochum, 2013 | © Rainer Schlautmann

2014

Die Junge Triennale hat während der Intendanz von Heiner Goebbels eine völlig neue Ausrichtung erfahren und wurde in »No education« umbenannt. Zentrum der Arbeit sind The Children´s Choice Awards, eine Initiative der kanadischen Forschungs- und Performancegruppe Mammalian Diving Reflex und Darren O'Donnell: die offizielle Festivaljury aus Kindern und Jugendlichen besucht und beurteilt alle Aufführungen des Festivals, trifft und befragt die Künstler:innen und vergibt Preise wie »Die Show, in der ich dachte wtf?«. Romeo Castellucci nennt es eine »Choreografie für 40 Maschinen mit Musik von Igor Strawinsky.« Sein Le Sacre du Printemps kommt mit einer Einspielung der Musik und ganz ohne Tänzer:innen aus: Es performen Maschinen und tierischer Knochenstaub ersetzt das Menschenopfer. Ohne die Aufführung Louis Andriessens De Materie auf einen Moment reduzieren zu wollen, so bleibt doch der langsame, von einem Leuchtzeppelin behütete Auftritt der Schafherde unvergesslich. Seit 2012 trägt Urbane Künste Ruhr mit einem künstlerischen Beitrag zum Programm der Ruhrtriennale bei. Es handelt sich dabei um Kunstwerke im öffentlichen Raum, meist partizipativ und oft prozesshaft angelegt. 2014 entsteht mit Melt ein auf Federn gebauter Steg aus spiegelnden Aluminiumplatten entlang der Hochofenstraße des Landschaftsparks Duisburg-Nord. Beginn 23 Uhr, Dauer viereinhalb Stunden, »Um größtmögliche Ruhe wird gebeten.« Bei dem »Nachtkonzert« in der Jahrhunderthalle Bochum mit dem Ensemble Modern wird Morton Feldmans For Philip Guston gespielt. Zuschauer:innen und Musiker:innen verschmelzen zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Das letzte der vielen außergewöhnlichen Konzerte zwischen 2012-2014 bildet noch einmal das programmatische Spektrum der musikalischen Werke der vergangenen drei Jahre ab: Das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam spielt Kompositionen von Zuidam, Varèse, Strawinsky, Ockeghem und Ligeti – sein Requiem setzt 2014 den Schlusston der Ruhrtriennale von Heiner Goebbels.

Darren O’Donnell: »The Children's Choice Awards«, 2014
Darren O’Donnell: »The Children's Choice Awards«, 2014 | © Stephan Glagla
Romeo Castellucci, Teodor Currentzis, MusicAeterna: Le Sacre du Printemps, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2014
Romeo Castellucci, Teodor Currentzis, MusicAeterna: Le Sacre du Printemps, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2014 | © Wonge Bergmann
Louis Andriessen, Heiner Goebbels, Ensemble Modern: »De Materie«, Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2014
Louis Andriessen, Heiner Goebbels, Ensemble Modern: »De Materie«, Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord, 2014 | © Wonge Bergmann
cantoni crescenti, Urbane Künste Ruhr: »Melt«, LandschaftsparkDuisburgNord, 2014
cantoni crescenti, Urbane Künste Ruhr: »Melt«, LandschaftsparkDuisburgNord, 2014 | © Sebastian Drüen
Morton Feldman, Ensemble Modern: »For Philip Guston«, Jahrhunderthalle Bochum, 2014
Morton Feldman, Ensemble Modern: »For Philip Guston«, Jahrhunderthalle Bochum, 2014 | © Wonge Bergmann
Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, Jahrhunderthalle Bochum, 2014
Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, Jahrhunderthalle Bochum, 2014 | © Michael Kneffel

2015

»Seid umschlungen!« rufen Johan Simons, Intendant der Ruhrtriennale 2015-2017, und sein Team den Menschen im Ruhrgebiet zu: Das Festival der Jahre 2015 bis 2017 begibt sich auf die Suche nach den Götterfunken (der Erkenntnis). Der Niederländer Simons ist dem Ruhrtriennale-Publikum wohlbekannt. Von Sentimenti, seiner ersten Inszenierung bei der Ruhrtriennale 2003, hin zu dem »Seid umschlungen«-Programm ergibt sich ein schöner Bogen: Im Zentrum der Mensch und seine Gefühle und das Ruhrgebiet, zu dem das Festival in den kommenden drei Jahren neue Verbindungen herstellt. Es beginnt mit Ritournelle, der langen Nacht der elektronischen Pop-Musik. Die Line-Ups der Jahre 2015-2017 locken neue Zuschauer:innengruppen an. Mit dem ersten Musiktheaterabend kommt 2015 ein Ort von kolossalen Ausmaßen als Ruhrtriennale-Spielstätte neu hinzu: In der stillgelegten Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken inszeniert Johan Simons Pasolinis Accattone. Die Dimensionen der Halle lassen den Menschen klein und nichtig erscheinen, Trost geben die Kantaten von J.S. Bach. Die Jahrhunderthalle Bochum ist wieder zentraler Spielort des Festivals. Das Atelier des niederländischen Künstlers Joep van Lieshout baut auf dem Vorplatz der Jahrhunderthalle ein raumgreifendes Festivalzentrum und gibt ihm den Titel The Good, the Bad, and the Ugly. In der Mischanlage der Kokerei Zollverein in Essen folgt ein radikaler ästhetischer Zugriff auf Monteverdis Oper Orfeo: Susanne Kennedy versetzt die Besucher:innen in sieben installativen Räumen in Zustände von Erwartung und Warten, Erschrecken und Befreiung. Wer zu Luigi Nonos Prometeo in der Kraftzentrale in Duisburg wollte, musste zuvor durch dichten Nebel gehen: Um die Orientierung zu verlieren? Um den Hörsinn für die Tragödie des Hörens zu sensibilisieren? Anne Teresa de Keersmaeker, die große belgische Tänzerin und Choreografin, ist regelmäßig bei der Ruhrtriennale. Die Quelle ihrer Choreografien ist immer die Musik; 2015 tritt nun ein Text sehr präsent in Erscheinung: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Zu den besucherstärksten Aufführungen des Festivals überhaupt gehört Johan Simons´ Rheingold in der Jahrhunderthalle Bochum. Die These lautet: Mit dem Rheingold erzählt Wagner die Geschichte des Ruhrgebiets.

»Ritournelle«, 2015
»Ritournelle«, 2015 | © Marcus Simaitis
Johan Simons, Philippe Herreweghe: »Accattone«, 2015
Johan Simons, Philippe Herreweghe: »Accattone«, 2015 | © Julian Röder
Atelier Van Lieshout: »The Good, the Bad, the Ugly«, 2015
Atelier Van Lieshout: »The Good, the Bad, the Ugly«, 2015 | © Heike Kandalowski
Susanne Kennedy: »Orfeo«, 2015
Susanne Kennedy: »Orfeo«, 2015 | © Julian Röder
Ingo Metzmacher, André Richard, Eva Veronica Born: »Prometeo«, 2015
Ingo Metzmacher, André Richard, Eva Veronica Born: »Prometeo«, 2015 | © Wonge Bergmann
Anne Teresa De Keersmaeker: »Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke«, 2015
Anne Teresa De Keersmaeker: »Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke«, 2015 | © Anne Van Aerschot
Johan Simons, Teodor Currentzis, Mika Vainio: »Das Rheingold«, 2015
Johan Simons, Teodor Currentzis, Mika Vainio: »Das Rheingold«, 2015 | © Michael Kneffel

2016

Um Künstler:innen und Zuschauer:innen eine kontinuierliche Verbindung mit Themen der künstlerischen Praxis zu ermöglichen, werden mit drei Künstlern Verabredungen über drei Jahre getroffen: Mit dem Choreografen Richard Siegal und den Regisseuren Luk Perceval und Ivo van Hove. Richard Siegal entwickelt bei der Ruhrtriennale eine Three Stages-Dante-Trilogie: Hölle, Fegefeuer, Paradies. »In medias res« ist die Fegefeuer-Station. Luk Perceval adaptiert 2015-2017 für die halboffene Gießhalle im Landschaftspark Duisburg-Nord als »Trilogie meiner Familie« den Romanzyklus »Die Rougon Macquart« von Émile Zola. Die Tragödie des Menschen im Zeitalter der Industrialisierung – was passt besser in das Ruhrgebiet als dieser Stoff? 2017 werden in einem 9-stündigen Theatermarathon die drei Teile »Liebe«, »Geld« und »Hunger« gezeigt. Parallel inszeniert Ivo van Hove über die drei Jahre drei Romane des in den Niederlanden berühmten, in Deutschland zu entdeckenden Autors Louis Couperus. Nach »Die stille Kraft« 2015 ist 2016 »Die Dinge, die vorübergehen« in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck zu sehen. Den Abschluss bildet 2017 »Kleine Seelen«. Mit der Uraufführung »Die Fremden« in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl kommt in der Regie des Intendanten eine Kreation aus Musik, Schauspiel und Film in einer gigantischen Industriehalle aufs Programm, die die Debatte um Kolonialismus und Rassismus und die Zuwanderung von Geflüchteten zum Inhalt hat. Das Problem sind wir – diese Erkenntnis bringt der verhandelte Perspektivwechsel zutage. Einen Machtwechsel unternimmt derweil die Junge Triennale: Mit »Teentalitarismus« wird eine Gruppe Kinder und Jugendliche mit eigenem Produktionsbüro und selbstbestimmtem Programm Teil des Festivalbetriebs. Für »Urban Prayers Ruhr« von Björn Bicker geht das Festival zu den Gläubigen in ihre Gotteshäuser zwischen Duisburg und Dortmund, Hamm und Dinslaken. Um die Kadaver dreier Pferde knieen ausgezehrte, versehrte Körper – Alain Platel und seine Tänzer:innen sind mit einer weiteren berührenden choreografischen Arbeit bei der Ruhrtriennale vertreten. »nicht schlafen« ist ein Ritual um Leiden und Tod mit der Musik von Gustav Mahler.

Richard Siegal: »in medias res«, 2016
Richard Siegal: »in medias res«, 2016 | © Ursula Kaufmann
Émile Zola, Luk Perceval: »Geld. Trilogie meiner Familie«, 2016
Émile Zola, Luk Perceval: »Geld. Trilogie meiner Familie«, 2016 | © Armin Smailovic
Ivo van Hove: »Die Dinge, die vorübergehen«, 2016
Ivo van Hove: »Die Dinge, die vorübergehen«, 2016 | © Jan Versweyveld
Johan Simons, Reinbert de Leeuw: »Die Fremden«, 2016
Johan Simons, Reinbert de Leeuw: »Die Fremden«, 2016 | © Julian Röder
Mit Ohne Alles, Mammalian Diving Reflex, Darren O'Connell: »Teentalitarismus«, 2016
Mit Ohne Alles, Mammalian Diving Reflex, Darren O'Connell: »Teentalitarismus«, 2016 | © Lukas Wenninger
Björn Bicker, Malte Jelden, ChorWerk Ruhr: »Urban Prayers Ruhr«, 2016
Björn Bicker, Malte Jelden, ChorWerk Ruhr: »Urban Prayers Ruhr«, 2016 | © Christoph Sebastian
Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: »nicht schlafen (Mahler-Projekt)«, 2016
Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: »nicht schlafen (Mahler-Projekt)«, 2016 | © Chris van der Burght

2017

2017 ist endlich auch der Hip-Hop bei der Ruhrtriennale angekommen. Dafür sorgt die vom Publikum heiß geliebte Theatermacherin Sue Buckmaster und ihre Gruppe Theatre Rites; »The Broke ´n´ Beat Collective« wird enthusiastisch gefeiert – nicht nur von Kindern und Jugendlichen. An drei Abenden lädt PACT Zollverein unter dem Titel »Episoden des Südens« zu einer Perspektivenuntersuchung ein. Künstler:innen, Intellektuelle und Publikum thematisieren das kolonial geprägte strukturelle Ungleichgewicht in der Welt. Dieses notwenige Überdenken althergebrachter Geografien wird sinnlich praktiziert, indem museale Exponate gemeinsam betrachtet und analysiert werden. Mit »Projecting [space[« betreibt die Choreografin Meg Stuart mit ihrer Kompanie Damaged Goods eine Performance-Werkstatt in der Lohberger Zechen-Werkstatt. Das Ergebnis dieser kollektiven Arbeit ist mehr als ein interessanter Vorstellungsbesuch, es ist eine gemeinschaftliche Erfahrung über Raum, Material, Körper, Energie. Die Performances des Tänzers Trajell Harell – so auch »Caen amour« – sind immer eine intellektuelle Beschäftigung mit Tanztraditionen und Erzählstrategien. Was in den Beschreibungen abstrakt klingen mag wird auf der Bühne zu einem tief berührenden Erlebnis. In der Kraftzentrale Duisburg umgibt ein »White Circle« aus vertikalen Leuchtstoffröhren das Publikum in der Installation des Labels raster-noton. archiv für ton und nichtton, Impulsgeber ist der Sound u.a. von Alva Noto. Die Jahrhunderthalle Bochum ist immer wieder Kulisse für die ganz große Oper. 2017 ist es »Pelléas et Mélisande« von Claude Debussy. Regie führt Krzysztof Warlikowski, es dirigiert Sylvain Cambreling, es spielen die Bochumer Symphoniker und es singen Chorwerk Ruhr sowie international renommierte Solist:innen. Seit 2016 fährt ein von Rimini Protokoll zu einem Zuschauer:innenraum umgebauter LKW durch das Ruhrgebiet. Der Truck führt zu sieben Alben (= Orten) mit jeweils sieben Tracks von lokalen wie internationalen Künstler:innen. Loekenfranke zeigt die »Compilation« von Truck Tracks Ruhr als künstlerischen Beitrag von Urbane Künste Ruhr in der Mischanlage der Kokerei Zollverein. 

Theatre-Rites, 20 Stories High: »The Broke `n`beat Collective«, 2017
Theatre-Rites, 20 Stories High: »The Broke `n`beat Collective«, 2017 | © Robert Day
»Episoden des Südens: the other way around«, 2017
»Episoden des Südens: the other way around«, 2017 | © Robin Junicke
Meg Stuart / Damaged Goods: »Projecting [space[«, 2017
Meg Stuart / Damaged Goods: »Projecting [space[«, 2017 | © Laura Van Severen
Trajal Harrell: »Caen Amour«, 2017
Trajal Harrell: »Caen Amour«, 2017 | © Robin Junicke
raster-noton: »White Circle«, 2017
raster-noton: »White Circle«, 2017 | © Daniel Sadrowski
Krzysztof Warlikowski: »Pelléas et Mélisande«, 2017
Krzysztof Warlikowski: »Pelléas et Mélisande«, 2017 | © Ben van Duin
Rimini Protokoll, loekenfranke, Urbane Künste Ruhr: »Truck Tracks Ruhr - The Compilation«, 2017
Rimini Protokoll, loekenfranke, Urbane Künste Ruhr: »Truck Tracks Ruhr - The Compilation«, 2017 | © Karsten_Enderlein

2018

2018 steht wieder ein Wechsel in der künstlerischen Leitung des Festivals an. Wie stets ist dieser mit dem programmatischen Anspruch auf Erneuerung verbunden. Berufen ist die Dramaturgin Stefanie Carp und als Artiste associé Regisseur Christoph Marthaler. Stefanie Carp bezeichnet das »Heute« als eine »Zwischenzeit«. Eine Zeit, die geprägt ist von Millionen migrierender Menschen und globalen Verteilungs- und Klimakriegen. Für ihr Programm lädt sie international ein: Künstler:innen vom afrikanischen und südamerikanischen Kontinent, aus Asien, Europa und Nordamerika. Den Anfang macht die Inszenierung The Head and The Load des Südafrikaners William Kentridge, der sich in seiner künstlerischen Praxis mit der Historie seines Landes beschäftigt. Die Inszenierung wirft Fragen auf: Wer darf wessen Geschichte erzählen und wer darf auf der Bühne stehen? Die Uraufführung Universe, incomplete der unvollendeten Universe Symphony von Charles Ives ist ein Meisterwerk aus dem Marthaler-Viebrock-Kosmos. Titus Engel dirigiert die Bochumer Symphoniker in der Bochumer Jahrhunderthalle. In dieser Saison prägen viele Choreograf:innen das Programm: Darunter die Tänzerin und Aktivistin Mamela Nyamza mit Black Privilege, der Choreograf Serge Aimé Coulibaly mit Kirina und Exodos / EΞΟΔΟΣ von Sascha Waltz. Großformatig ist auch Diamante: Dies ist der Name einer Arbeiter:innensiedlung im argentinischen Dschungel. Der Autor und Regisseur Mariano Pensotti errichtet in der Duisburger Kraftzentrale eine gleichnamige theatrale Siedlung. Was vormals die Werksiedlung im Ruhrgebiet war ist die private City des 21. Jahrhunderts. Schutzraum oder Überwachungsraum?

In ihrer ersten Saison löst Stefanie Carp auch weit beachtete Diskussionen aus. Zentral ist die Debatte um die Band Young Fathers und deren Verbindung zur BDS-Bewegung. Im Zuge dessen lädt das Festival zur Podiumsdiskussion »Freiheit der Künste« ein. Es geht um das Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst und um persönliche und gesellschaftliche Verantwortung im Kontext der deutschen Geschichte. Die Meinungen gehen weit auseinander, und es bleibt offen, ob eine Verständigung möglich sein wird.

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© Ursula Kaufmann
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© Walter Mair
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© Ursula Kaufmann
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© Paul Leclaire
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© Annette Hauschild
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© Caroline Seidel

2019

Die Ruhrtriennale 2018-2020 hat wieder ein Festivalzentrum. Das Architekten-Kollektiv raumlaborberlin entwickelt mit Teilen eines Flugzeugs eine temporäre Architektur vor der Jahrhunderthalle Bochum: Third Space – so der Titel – bietet im Innern des Fliegers eine Bar und einen Raum für interaktive und diskursive Formate. Eröffnet wird die Saison 2019 mit der Inszenierung des Artiste associé Christoph Marthaler Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend. Marthaler hat dafür in Bochum einen Raum gefunden, der ästhetisch perfekt zu seinen skurrilen, humorvoll-schönen Inszenierungen passt: Das 1974 eröffnete Audimax der Ruhr-Universität Bochum. Zu den sehr eindrücklichen Inszenierungen gehört das Musiktheaterstück Evolution von Kornél Mundruczó und Kata Wéber, das von dem Leben einer Jüdin und ihren Holocaust-Erfahrungen berichtet. Christiane Jatahy erzählt in The Lingering Now von dem Schicksal von Menschen und Ländern. Dabei überführt die Brasilianerin Dokumentarisches und Fiktives mit den Mitteln des Theaters und des Films in einen Dialog. Mit Chorwerk Ruhr hat die Ruhrtriennale in jeder Saison den besten Kammerchor Deutschlands im Programm. Mit dem Programm Coro mit Werken von Luciano Berio und Alessandro Streggio tritt Chorwerk Ruhr 2019 in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck auf. Der frühere Intendant Heiner Goebbels kehrt mit Everything that Happened and Would Happen inklusive einiger Objekte aus Europeras 1&2 zurück.

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© Sabrina Richmann
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© Matthias Horn
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© Heinrich Brinkmöller-Becker
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© Paul Leclaire
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© Christian Palm
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© Heinrich Brinkmöller-Becker

2020

2020 gibt es erneut eine Diskussion rund um das Thema BDS. Diesmal ausgelöst durch die Einladung des Eröffnungsredners Achille Mbembe. Dem kamerunischen Historiker und Philosophen wird im Kontext seiner Werke Antisemitismus vorgeworfen. Wenngleich Mbembe die Anschuldigungen deutlich von sich weist, löst seine Einladung eine nationale Debatte u.a. im deutschen Feuilleton aus.

Unabhängig davon kommt es nicht zur Eröffnung des Festivals: 2020 ist der Beginn der Corona-Pandemie. Wie viele andere Veranstaltungen auch, wird die Ruhrtriennale 2020 abgesagt. Was temporär bleibt, ist eine digitale Sammlung mit Video-, Audio und Textbeiträgen von Künstler:innen des 2020er Programms. Ausgewählte Produktionen können schließlich bei der Ruhrtriennale 2021 und anderen Institutionen, wie zum Beispiel dem Tanzhaus NRW, dem Festival Theater der Welt oder im Museum Folkwang, ermöglicht werden. Dazu gehören u.a. Archipel von Stephanie Thiersch und Brigitta Muntendorf, die neue Arbeit Los Años / Die Jahre von Mariano Pensotti und das Chorwerk Ruhr Konzert mit Mendelsohn-Bartholdys Elias.

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© Martin Rottenkolber
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© Isabel Machado Rios
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© Christian Palm

2021

2021 steht erneut ein Wechsel in der künstlerischen Leitung an: Intendantin für die Ruhrtriennale 2021 – 2023 ist Barbara Frey, die als ausgewiesene Schauspielregisseurin mit Der Untergang des Hauses Usher die Eröffnung des Festivals in der Maschinenhalle Gladbeck selbst übernimmt.

Wie immer folgen ruhrgebietsweit Premieren in Tanz, Musiktheater, Performance und Installationen. In der Jahrhunderthalle Bochum gehört dazu das Musiktheater Bählamms Fest. Die Inszenierung des irischen Kollektivs Dead Centre folgt mit eindrucksvollen Bildern und surrealen Szenen der beklemmenden Handlung um das Leben einer Familie auf dem Land. Diese Premiere wird begleitet von der Inbetriebnahme von gleich zwei neuen kreativen Orten auf demselben Gelände. Zum einen die Festivalbibliothek mit Buchempfehlungen der Künstler:innen der Saison und zum anderen die Pappelwaldkantine. Wer die Pappeln – einst zum Barockgarten erhoben – schon abgeschrieben hatte, wird eines viel Schöneren belehrt: mit wenigen Mitteln ist ein vormals unwirtlicher Ort zu einem romantischen Treffpunkt geworden.

Für viele Besucher:innen gehört A Divine Comedy von Florentina Holzinger sicherlich zu den bewegendsten Aufführungen der Saison. In der Kraftzentrale Duisburg findet ein Wagnis statt: mutig und künstlerisch aufwendig wird sich dort was getraut. Selten ist eine weibliche Perspektive auf die Welt mit so viel Power und Phantasie auf die Ruhrtriennale-Bühne gekommen (ehrlicherweise vielleicht bislang noch gar nicht).

Ein Kleinod von kontemplativer Kraft findet im Museum Folkwang statt: The Life Work der dänischen Choreografin Mette Ingvartsen. Berührend ist es, zu erleben, wie vier alte Japanerinnen gelassen in einem atmosphärisch dichten Raum in Kleinstbewegungen agieren, während aus dem Off Erinnerungen ihres langen Lebens hörbar werden. Erinnerungen an das Erwachsenwerden wiederum sind in der Turbinenhalle Bochum »ausgestellt«: In der Videoinstallation 21 porträtiert Mats Staub Erzählende als Zuhörende ihrer eigenen Worte. Eine der wenigen Auftragskompositionen von veritabler Länge in der Festivalgeschichte ist D • I • E von Michael Wertmüller. Wir nehmen Platz auf Drehstühlen in unmittelbarer Nähe des Dirigenten Titus Engel und umgeben von vier Gruppen Musiker:innen. Ein in der Epidemie selten gewordenes Erlebnis von Gemeinschaft.

Barbara Frey: »Der Untergang des Hauses Usher«, 2021
Barbara Frey: »Der Untergang des Hauses Usher«, 2021 | © Matthias Horn
Olga Neuwirth, Elfriede Jelinek, Leonora Carrington: »Bählamms Fest«, 2021
Olga Neuwirth, Elfriede Jelinek, Leonora Carrington: »Bählamms Fest«, 2021 | © Volker Beushausen
»Pappelwaldkantine«, 2021
»Pappelwaldkantine«, 2021 | © Sabrina Weniger
Florentina Holzinger: »A Divine Comedy«, 2021
Florentina Holzinger: »A Divine Comedy«, 2021 | © Katja Illner
Mette Ingvartsen: »The Life Work«, 2021
Mette Ingvartsen: »The Life Work«, 2021 | © Katja Illner
Mats Staub: »21 - Erinnerungen ans Erwachsenwerden«, 2021
Mats Staub: »21 - Erinnerungen ans Erwachsenwerden«, 2021 | © Sabrina Weniger
Michael Wertmüller, Albert Oehlen, Rainald Goetz: »D • I • E«, 2021
Michael Wertmüller, Albert Oehlen, Rainald Goetz: »D • I • E«, 2021 | © Volker Beushausen