© Tammo Walter

Amanda Piña widmet sich in Exótica vergessenen Künstler:innen, die in Europa zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts als »fremd« gelesen und exotisiert wurden. Trotz ihrer großen Popularität, wurden diese Künstler:innen nicht in den Kanon der Tanzgeschichte aufgenommen und ihnen wurde verhältnismäßig wenig Platz in den Archiven zuerkannt, wodurch es teilweise schwierig ist, ihre Biografien zu rekonstruieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit haben wir kleine Portraits von ihnen zusammengestellt, welche hoffentlich Lust machen, ihnen weiter zu folgen. Wir beginnen mit La Sarabia und geben ihr den größten Raum, denn sie ist die Urgroßtante von Amanda Piña – und Amanda weiß einiges aus ihrem Familienarchiven zu erzählen.

La Sarabia

Es gab immer Gerüchte in meiner Familie über meine Urgroßtant Clemencia Piña, La Sarabia. Zumindest hielt ich es für Gerüchte, dass sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine berühmte Tänzerin in Paris war, dass sie vor dem letzten Russischen Zaren getanzt hatte und dass es sogar eine französische Briefmarke gab, die sie abbildete. Aber dann fanden wir während unserer Recherche über andere Tänzer:innen aus der Zeit so viel Material über meine Urgroßtante in der Französischen Nationalbibliothek. Sie war damals tatsächlich eine berühmte Künstlerin, doch als sie in Marseille starb, ging niemand aus meiner Familie zu ihrer Beerdigung; ich glaube, ihre Tochter, die auch Tänzerin war, begrub sie sogar in einem namenlosen Gemeindegrab. Und das verfolgt mich irgendwie. Was war passiert? Wie kann es sein, dass Du so berühmt bist und ein Land wie Frankreich repräsentierst und am Ende wirst du einfach ausrangiert? War es, weil sie das Land doch nur sehr bedingt repräsentierte und am Ende doch fremd blieb, auch wenn man sie das Gegenteil glauben machen wollte?

Clemencia Piña, La Sarabia
Clemencia Piña, La Sarabia | © BNF Paris

La Sarabia starb arm und verlassen in einem Gemeindegrab, doch ihr Leben muss unglaublich gewesen sein. Ihre Mutter verließ Mexico mit ihr als sie klein war auf der Flucht vor der Familie, weil sie ihren Mann verlassen hatte. Damals konntest du dich nicht einfach scheiden lassen. Ihre Mutter floh also nach Paris und führte dort ein ausschweifendes Leben, sie hatte nämlich viel Geld geerbt. Als das Geld irgendwann aufgebraucht war, verdiente ihre Tochter La Sarabia bereits Geld durch ihren Tanz. Sie wurde berühmt durch den Danza Española, auch »Espagnolade« genannt, ein spanischer Tanz, der damals selten war und als exotisch galt. Natürlich war sie keine Spanierin, sie war Mexikanerin, in ihren Adern floss indigenes Blut, aber sie gab vor Spanisch zu sein und verkörperte in ganz Europa sehr erfolgreich spanisches Ballett. Und sie hatte tatsächlich vor dem russischen Zaren getanzt. Irgendwas muss damals passiert sein, denn sie blieb ein halbes Jahr in Sankt Petersburg. Manche behaupten, der Zar verliebte sich in sie, aber das werden wir nie erfahren. Es ging ihr lange Zeit sehr gut, aber dann bekam La Sarabia ein Kind von einem Mann, den sie kennengelernt hatte, einem Mexikaner. Sie liebten sich, aber seine Familie war gegen die Hochzeit, weil es für sie nicht akzeptabel war, dass meine Urgroßtante Bühnenkünstlerin war. Sie konnten also nicht heiraten, und so zog meine Urgroßtante ihre Tochter ohne den Vater auf, der unter der Trennung litt und zumindest regelmäßig Geld schickte.

Manchmal denke ich, vielleicht sind wir alle ohne es zu wissen die Wiedergeburt einer Ahnin oder eines Ahnen? Die Frage, wie wir zu dem werden was wir sind, durch die Augen der Anderen, interessiert mich sehr. Amanda Piña

Meine Tante erzählte mir, dass sie nach Marseille reiste, um die Tochter von La Sarabia zu besuchen. Das war vor acht Jahren, Lidia Siria war ihr Name und sie war damals schon eine alte Dame. Als meine Tante klingelte, öffnete sie die Tür und schlug sie sofort wieder zu. Wenig später öffnete sie die Tür erneut und trug eine Federboa um den Hals, eine sehr alte Dame. Offenbar war ihr klar, dass meine Tante die letzte Piña war, die sie in ihrem Leben sehen würde. Also schenkte sie ihr einen Ring, den Ring ihrer Mutter La Sarabia. Und ein paar Jahre später gab meine Tante den Ring an mich weiter mit den Worten: Ich glaube, der ist für dich bestimmt. Und ich trage den Ring immer. Ich fühle mich mit meiner Urgroßtante sehr verbunden, es gibt viele Parallelen in unseren Biografien, obwohl so viel Zeit dazwischen liegt. Manche sagen, wir würden uns ähnlich sehen und tatsächlich gibt es Bilder von ihr, auf denen ich mich selbst erkenne. Manchmal denke ich, vielleicht sind wir alle ohne es zu wissen die Wiedergeburt einer Ahnin oder eines Ahnen? Die Frage, wie wir zu dem werden was wir sind, durch die Augen der Anderen, interessiert mich sehr. Wie viel Bewegungsspielraum bleibt uns innerhalb dieses Blicks? Es gibt eine gewisse Gewalt in jeder Selbst- und Fremdbezeichnung, die kulturellen Manifestationen innewohnt, weil ihr Maßstab immer der White Gaze war (ich glaube, der White Gaze ist männlich und heteronormativ). Und auch wir leben das noch heute, auch wenn sich viel verändert hat und die Kräfteverhältnisse in der Welt sich verschoben haben. Heute können wir all diese Diskussionen führen und ein Festival wie die Ruhrtriennale lädt mich ein, meine Arbeit vor überwiegend weißem Publikum zu zeigen. Und auch wenn da noch immer eine gewisse Brutalität mitschwingt, irgendwie ist es auch erfrischend und fantastisch wie wir heute durch all diese Beschränkungen navigieren können.

Ich glaube, es liegt für alle eine große Chance darin, ein Bewusstsein für den eigenen Blick zu erlangen. Amanda Piña

Was genau ist also heute dieser Blick, dieser White Gaze? Wie kann man ihn sichtbar machen und ihm dadurch seine Wirkung nehmen? Für mich ist der Motor für dieses Stück nicht nur das Andenken an diese wunderbaren Künstler:innen, ich will sie auch mit unseren heutigen Biografien verweben und von ihren Tänzen und ihrem Mut lernen. Und ich will den White Gaze reflektieren, unterwandern und in gewisser Weise zurückspielen, ohne dabei abschätzig zu sein. Ich glaube, es liegt für alle eine große Chance darin, ein Bewusstsein für den eigenen Blick zu erlangen. Wenn das Publikum beispielweise über seine Art zu schauen nachdenkt, und sich bewußt wird, durch wie viele Jahrhunderte dieser Blick geformt wurde und wie sehr dieser Blick die Welt wiederrum formt. Wollen wir die Welt der Anderen nur als ein Image konsumieren oder können wir uns durch diese Erfahrung der Zerbrechlichkeit der eigenen Welt bewußt werden? Wenn es eine Sensibilisierung in diese Richtung gibt, dann können wir daran wachsen und eine transzendente Erfahrung machen, die uns gemeinsam woanders hinbringt. Es kann der Beginn einer Reise sein, ein gemeinsames sinnliches Ritual, jenseits der Verfestigungen von Identitäten.

Amanda Piña

François Fé́ral Benga
François Fé́ral Benga | © J.C Mehú Tam-Tam -Photographies

Francois »Feral« Benga

François Benga wurde 1906 in Dakar geboren und zog als Siebzehnjähriger mit seinem Vater nach Paris. Der Senegal war damals französische Kolonie, Benga und sein Vater galten gemäß der damaligen rassistisch-kolonialen Anschauung nicht als Bürge, sondern als koloniale Subjekte, gefangen in einer prekären Situation, die kaum Möglichkeiten der Teilhabe bot. Bereits in den Zwanzigern fand Benga seinen Weg in die Pariser Revue Szene und begleitete Josephine Baker an den Tomtoms während ihrer berühmten »Bananentänze«. Es dauerte nicht lange und er stieg zum Star in den Folies Bergère auf. Sein Bühnenname war »Féral Benga«, was so viel bedeutete wie »der wilde Benga«. Im europäischen Konstrukt von Afrika repräsentierte Benga das maximal Andere und die mit Gefahr assoziierte Männlichkeit. Der europäische Blick interessierte sich weniger für sein enormes künstlerisches Potential oder seine performativen Fähigkeiten, er sah viel mehr das stark sexualisierte Objekt, den schwarzen Merkur, den schönen, schwarzen Adonis. In den Dreißigern tauchte er ein in die französische Avant-garde und wirkte als Schwarzer Engel in Cocteaus experimentellem Spielfilm Le sang d'un poète mit. 1934 unternahm er gemeinsam mit seinem Partner, dem britischen Anthropologen Geoffrey Gorer, eine Forschungsreise nach Westafrika, um für dessen nicht unproblematische Monografie Africa Dances verschiedene Tanzstile in einer Art Feldforschung zu »sammeln«. Obwohl er queer war, heiratete er kurz vor seinem Tod im Jahr 1957 noch und bekam einen Sohn. François Benga ist in Paris begraben.

Nyota Inyoka
Nyota Inyoka | © Lou Lou Roudanez

Nyota Inyoka

Die Tänzerin, Choreographin, Autorin und Pädagogin Nyota Inyoka wurde 1896 in Paris geboren. Ihre Lebensgeschichte bewegt sich zwischen Faktizität, Invention, Legendenbildung und Selbstbestimmung. Ihre Mutter war Französin, vom Vater behauptete sie zu Beginn ihrer Karriere, er wäre Ägypter, später er wäre Inder – wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht genau. Als ihren Geburtsort gab sie Pondicherry an und bezeichnete sich selbst als »danseuse hindoue«, Hindu-Tänzerin. In ihrer Blütezeit lebte sie als erfolgreiche Tänzerin äußerst mondän und verkehrte in den höchsten Pariser Kreisen, dennoch behielt ihre Existenz eine eigentümliche Fragilität. Ihre große Popularität änderte nichts daran, dass ihr Tod im Jahr 1971 nur äußerst knapp thematisiert wurde, vermutlich setzte das Vergessen ihrer Person bereits ab den 1960er Jahren ein. Bereits ab 1917 trat sie als Nioka-Nioka in den Folies Bergère auf, angekündigt als »Perle d’Asie« und ab den 1920er Jahren in üppigen Ausstattungsrevuen im Théâtre de l’Oasis unter der Leitung des Modeschöpfers Paul Poiret. 1931 fand in Paris die Internationale Kolonialausstellung statt, für die sie eine Galaveranstaltung zu Indien gestaltete. Weil Inyoka sich mit ihrem Programm aus Tänzen, deren indische Anmutung hauptsächlich auf einer Art Belebung historischer und ikonographischer Überlieferungen basierte, längst einen Namen gemacht hatte, wurde sie nun zur gleichsam offiziellen Repräsentantin der indischen Kultur. Ermutigt durch die positive Resonanz gründete sie eine Compagnie, die Ballets Nyota Inyoka, die ihr Debüt 1932 mit einem Programm rekonstruierter Tänze aus Indien, Ägypten und Äthiopien mit großem Erfolg im Théâtre du Vieux-Colombier feierte. Spätestens seit diesem Datum war sie als Künstlerin »durchgesetzt«. Ihre Compagnie blieb bis zum Ende von Inyokas Bühnenlaufbahn 1957 bestehen.

Leila Bederkhan
Leila Bederkhan | © Die bühne Theatremuseum wien

Leïla Bederkhan

Leïla Bederkhan wurde 1903 in Konstantinopel als Tochter eines kurdischen Vaters und einer österreichischen Mutter mit jüdischer Herkunft geboren. Sie entstammte dem Geschlecht der Bedr Khans und inszenierte sich in Europa als kurdische Prinzessin. Aufgewachsen ist sie in Ägypten, später zog sie in die Schweiz und debütierte dann in Wien, wo sie mit ihrer Mutter, einer Zahnärztin, lebte. Für ihr internationales Debut mietete sie das Konzerthaus in Wien, was Aufschluss über die finanziellen Mittel gibt, über die sie verfügte und die ihr ein ausgesprochen selbstbestimmtes Leben ermöglichten. Sie beherrschte mehrere Sprachen und reiste enorm viel: sie war in New York, Stockholm, Paris, machte Urlaub an der Côte d'Azur und im österreichischen Salzkammergut. Auch bei ihr vermischen sich Fakten und Legenden, die sie klug zu nutzen wusste, um die Marke der »orientalischen Prinzessin« erfolgreich zu lancieren. Wo es verlangt wurde, bediente sie den Exotismus, nutzte aber auch immer Elemente westlicher Tanzstile in ihren Choreografien, sowie westliche Instrumentierungen und Kostüme. Sie gab vor drusische, zoroastrische, indische, sowie ägyptische Tänze zu beherrschen und inszenierte sich als Repräsentantin diverser als »orientalisch« gelesener Kulturen. Der Höhepunkt ihrer Karriere war der Auftritt in der Mailänder Scala 1932, wo sie als Belkis in dem opulent ausgestatteten Ballett Belkis, Regina di Saba auftrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog sie sich von der Bühne zurück, gründete eine Tanzschule in einem Pariser Vorort und verstarb ebenda im Jahr 1986.

Herzlichen Dank an Sandra Chatterjee, Christina Gillinger-Correa Vivar, Franz Anton Cramer und Nicole Haitzinger, die gemeinsam im FWF-Forschungsprojekt Border-Dancing Across Time an der Universität Salzburg forschen und ihr Wissen großzügig in Gesprächen und durch ihre Publikationen mit uns geteilt haben.

 

AMANDA PIÑA war bereits 2021 mit Danza y Frontera Gast der Ruhrtriennale. Sie ist eine mexikanisch-chilenische Performerin, Choreografin und Kulturarbeiterin, die seit vielen Jahren in Wien und Mexiko-Stadt lebt und international arbeitet. In ihren Performances sowie Installationen, Workshops und Vorträgen untersucht sie mit anthropologischem Interesse die politische und soziale Kraft von Tanz und seine Verflechtungen zwischen Tradition und Moderne. Seit fast zehn Jahren sammelt sie in ihrem Langzeitprojekt Endangered Human Movements vom Aussterben bedrohte Bewegungspraktiken und befasst sich mit der Rolle von Gedächtnis und Archiv im Kontext dekolonialer Emanzipationsbewegung. Diesem Artikel liegt ein Gespräch mit der Dramaturgin Sara Abbasi zugrunde.