In den Jahren 2021 bis 2023 haben wir Künstler:innen beauftragt, sich in Bildserien mit jener Region auseinanderzusetzen, aus der sich der Auftrag des Festivals ableitet: die kulturelle Belebung der verlassenen Industriebauten, dieser Zeugnisse nicht nur einer vergangenen Zeit, sondern auch eines vergangenen Bewusstseins und Weltbezugs. Kaum eine andere Gegend in Deutschland hat in den letzten hundert Jahren einen so radikalen Wandel erlebt wie das Ruhrgebiet. Und die Künste sind es, die noch immer zu begreifen suchen, was uns Menschen da widerfahren ist.
2021 folgte der Fotograf Tobias Zielony in seiner Serie Geister den Spuren seines Großvaters. Als Bergarbeiter in Gelsenkirchen war dieser Teil jener Kultur, die dem Ruhrgebiet bis heute seine prägende Gestalt gibt. 2022 suchte der Künstler Mischa Leinkauf die Übersicht über die Veränderungen und Zeitschichten zu erlangen, die sich über die Jahre in die Ruhr-Landschaft eingezeichnet haben. Er erklomm dafür die Dächer und Schornsteine der Industriebauten und entdeckte aus spektakulärer Höhe neue Sichtachsen.
2023 nun baten wir das Dokumentarfilmduo loekenfranke, das wie kein anderes sein Auge geschärft hat für den Strukturwandel und seine Folgen, mit der ihm eigenen Bildsprache die gegenwärtige Verfasstheit des »Reviers« einzufangen. Entstanden sind Bilder von geradezu mythischer Kraft.
Wie in weit entfernter Zeit, als Menschen Orientierung am Himmel suchten, Auguren aus der Formation des Vogelflugs den Willen der Götter herauslasen, erkennen wir auf den Bildern kleine Menschentrauben unterschiedlicher Altersgruppen, bewaffnet mit Ferngläsern und Spektiven, verloren in einer Naturlandschaft, den Blick gebannt in eine Richtung gewandt. Sie sind in Erwartung. Offenbar versuchen sie in der Ferne etwas zu erhaschen. Im Hintergrund ist die menschliche Ordnung noch sichtbar, aber sie ist nicht mehr bestimmend. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf etwas, mit dem eine Verbindung aufgenommen werden will, auf etwas, das sich der umstandslosen Verfügbarkeit entzieht, auf etwas, das – trotz allem – geblieben ist. Oder zurückgekehrt?
Auffällig ist das Licht, das die Jahres- oder Tageszeit vorgegeben hat, ein Licht, in dem keine Dauer liegt, das nicht länger währt als jener flüchtige Moment, der das Versprechen bereithält, dass die Kontaktaufnahme, der contact-call, zu diesem Unverfügbaren gelingen könnte - ist es doch ein Moment, der dem werktätigen Zeitmaß enthoben ist.
Schon seit vielen Jahren porträtiert das Duo in seinen Filmen gesellschaftliche Transformationsprozesse, die Verwandlung der Landschaften, das sich ändernde Verhältnis von Kultur und Natur, die Rolle des Menschen in all dem.
Zurzeit arbeitet loekenfranke an einer Langzeitdokumentation, die Birdwatcher beim Beobachten beobachtet. Nicht zufällig fällt diese populärer werdende Obsession der Vogelbeobachtung in unsere katastrophisch erfahrene Gegenwart. So erklärt die Literaturwissenschaftlerin Tanja van Hoorn: »Vögel sind in auffälliger Weise ein die Natur-Kulturgrenzen überschreitender, selbstreflexiver Spiegel, eine epistemische Figur, die im Zeichen der Verunsicherung und kritischen Überprüfung der eigenen Fähigkeiten aufgerufen wird.«
Die Vogelbeobachtung erzählt von dem Wissen, dass das Ausbleiben oder Vorkommen anderer Spezies über unser Überleben entscheiden wird – und auch darüber, dass es andere Ordnungen gibt als die menschengemachten. Dass sie gleichzeitig zur Bildung und Einübung ästhetischer Wahrnehmung befähigt, rückt sie zu den Künsten in zärtliche Nähe.