© Bea Borgers

Mats Staub: Es gibt nur sehr wenige Stücke, die mich auch Jahre später noch die Emotionen verspüren lassen, die sie in mir hervorgerufen haben – ich sah to come (extended) am 31. März 2018 in Berlin, und ich erinnere mich gut an das anschließende Gefühl des Staunens. Ja, ich war schlichtweg von Freude erfüllt. Du hast dich im Rahmen mehrerer Projekte zwischen 2014 und 2017 mit Sexualität befasst. Spielte der Aspekt der Freude auch bei to come (extended) eine Rolle?

Mette Ingvartsen: Ich empfand Freude damals als etwas, was von grundlegender Bedeutung für uns ist. Im Laufe der Arbeit an diesem Projekt nahm die #MeToo-Bewegung allmählich an Fahrt auf; als mein Entschluss zu dieser Arbeit fiel, gab es sie noch gar nicht. Die Relationen zwischen Sexualität und politischen Begebenheiten in unserer Gesellschaft, Machtstrukturen und auch Machtmissbrauch offenbarten sich deutlich. Ich arbeitete damals an zwei Projekten. 21 pornographies betrachtet die Fragestellungen um Macht und Missbrauch und die Art und Weise, wie bereits bestehende Strukturen unser Empfinden von Intimität und Sexualität dominieren. Zur selben Zeit nahm ich die Arbeit an to come (extended) auf, das einen eher spielerischen Ansatz verfolgt und zum Imaginieren von Formen der Sexualität einlädt, die in der realen Welt möglicherweise noch nicht existieren. Das letzte Segment dieses Stücks widmet sich dem Gesellschaftstanz Lindy Hop, der in den 1930er-Jahren in den Schwarzen-Communitys der USA entstand und im Laufe der Zeit von vielen unterschiedlichen Menschen über Kontinente hinweg getanzt wurde. Es handelt sich um einen energiegeladenen Tanzstil, bei dem viel gesprungen wird. Es versetzt den Körper der Tanzenden also in einen fröhlichen Zustand. Ich empfinde Freude als eine Form des Widerstands gegen die allgemeine Unterdrückung des Körpers sowie der Freude und der Lust. Und ich empfinde sie als eine Art feministische Strategie, sich nicht in die Opferrolle zu begeben, neuartige Ansätze zuzulassen, die Dinge anders anzugehen und sich (zumindest vorübergehend) aus gewissen repressiven Gesellschaftsstrukturen zu lösen.

MS: Sexualität ist von so vielen Problemen umgeben, dass ein Fokus auf Freude und Empowerment keineswegs einfach ist. Es bedarf meiner Meinung nach einer Offenheit, die nur in einem geschützten Rahmen möglich ist. Im ersten Teil von to come (extended) tragen die 15 Tänzer:innen blaue Ganzkörperanzüge. Das erinnerte mich daran, dass die ehrlichen Unterhaltungen, die ich im Vorfeld von Intime Revolution führen durfte, nur möglich waren, weil alle Gesprächsteilnehmenden die Gewissheit hatten, dass ihre Berichterstattungen vollständig anonym bleiben würden.

MI: Wenn man innerhalb einer großen Gruppe mit sexuellem Material arbeitet, muss man sehr offen eingestellt und dem Gegenüber zugewandt sein; gleichzeitig muss ein klarer Rahmen abgesteckt werden, wie man verfahren möchte. Wir haben intensiv über die Gestaltung eines geschützten Arbeitsumfelds gesprochen. Natürlich kommt man sich bei Themen wie Intimität und Sexualität sehr nah. Obwohl wir also blaue Ganzkörperanzüge tragen und unsere Körper vollständig von Stoff bedeckt sind, gibt es doch ausgesprochen intime Situationen, in denen sich alle wohlfühlen müssen. Wir haben versucht, einen fantasievollen Ansatz zu verfolgen, bei dem jede:r jede Position einnehmen und sich somit von dem eigenen Geschlecht befreien kann. Durch den blauen Anzug entsteht tatsächlich eine gewisse Anonymität, die sehr befreiend wirkt. Man muss sich keine Gedanken darüber machen, wen man berührt oder von wem man berührt wird. Darüber hinaus entsteht eine Nähe, die man im nackten Zustand eventuell als unangenehm empfinden würde. Die blauen Anzüge ermöglichen zudem einen skulpturalen Ausdruck körperlicher Verbindungen, der in der Öffentlichkeit normalerweise nicht so leicht umzusetzen ist. Unser Projekt über die Freude fußt auf sexuellem Material und dem spielerischen Umgang damit, der es den Körpern erlaubt, jedwede Position einzunehmen, ohne dass man sich dabei als Mann oder als Frau begreifen müsste – als männlich, weiblich, nichtbinär oder als was auch immer man sich im realen Leben identifizieren würde. Innerhalb des Projekts kann man damit spielen und sich nach den eigenen Wünschen neu erfinden. Und ich denke, das war ein tolles Erlebnis für die Gruppe.

ICH EMPFINDE FREUDE ALS EINE FORM DES WIDERSTANDS GEGEN DIE ALLGEMEINE UNTERDRÜCKUNG DES KÖRPERS SOWIE DER FREUDE UND DER LUST. Mette Ingvartsen

MS: Der mittlere Teil macht auch Spaß. Die Performer:innen stehen nackt beieinander und stöhnen gemeinsam – doch es ist nicht ihr individuelles Stöhnen, sondern sie imitieren die über Kopfhörer vermittelten Geräusche eines nahenden Orgasmus.

MI: Ja, wir nennen das den »Orgasmus-Chor«, es ist eine Art multipler Orgasmus, der über vier oder fünf Minuten lang andauert. Darüber haben wir herausgefunden, dass Orgasmen sich in unterschiedlichen Ländern anders anhören. Im Westen gibt es eine ähnliche Tendenz der Orgasmus-Geräusche, aber es scheint Unterschiede zu geben, wie einzelne Kulturen sexuelles Vergnügen ausdrücken. Das knüpft an die Frage an, inwiefern unser sexueller Ausdruck etwas ist, das kulturell vermittelt wird. Und inwiefern der Einfluss durch heutzutage leicht zugängliche Filme oder pornografische Inhalte eine Rolle spielen.

MS: Ja, Pornografisches findet sich allerorts, aber durch das nochmalige Sehen von to come (extended) wurde mir bewusst, dass es einen eklatanten Mangel an Diversität in den visuellen Ausdrucksformen sexueller Akte gibt.

MI: Ja, Hollywood-Sexszenen sind zu alltäglichen Eindrücken geworden, und wir haben es alle gesehen – in beinahe jedem Film gibt es eine Szene, bei der man sich denkt: »Okay, das gab es schon mal«, und es sieht immer gleich aus. Ganz am Anfang habe ich mich damit beschäftigt, wie sexuelle Bilder innerhalb kapitalistischer und kommerzieller Wirtschaften eingesetzt werden; wie sexuelle Bilder unsere visuelle Kultur überschwemmen und wie sich das auf die Art und Weise auswirkt, wie wir im realen Leben Sex haben. Es gibt nämlich definitiv eine Verbindung zwischen sexuellen Bildern, die wir abrufen können, und dem, was sich tatsächlich in unseren Schlafzimmern abspielt. Für mich war to come (extended) also auch ein Stück über den Einfluss, den diese Mechanismen des Begehrens und der Emotion auf uns ausüben. Wie viel meines sexuellen Handelns kommt wirklich von mir? Wie viel ist erlernt, und wie viel steht unter dem Einfluss der zirkulierenden Bilder, auf die wir alle Zugriff haben? Außerdem behandelt das Stück die Frage, wie man mit diesen kollektiven Bildern umgeht, sie lenkt und wie man andere Bilder oder Ideen entwerfen könnte, wie man es eben auch machen könnte oder wie es auch aussehen könnte.

MS: Es gibt tatsächlich viele Analogien zwischen unseren beiden Werken, und ich freue mich sehr, dass das Publikum der Ruhrtriennale beide erleben wird – obwohl Intime Revolution sich nicht um den visuellen Aspekt dreht, sondern um Wörter, den Mangel an Sprachlichkeit im Bereich der Sexualität und den Versuch, diesen mithilfe von persönlichen Geschichten zu überwinden.

MI: Wenn man sich Geschichten anhört, auf die man vielleicht nicht ganz so einfach zugreifen kann, erweitert das durchaus den Wortbestand. Denn über Sexualität zu sprechen, fällt noch immer eher schwer; selbst in kommunikativen und intakten Paarbeziehungen. Und es ist interessant, dass Wörter Wörter hervorrufen können und auch das Vernehmen von Wörtern den eigenen Wortbestand bereichert. Genau das war meine Erfahrung bei zwei meiner anderen Performances, bei denen es ebenfalls um Sexualität geht. Ich wurde danach oft von Leuten angesprochen, die mir sehr intime Einblicke gaben. Mir sind also schon einige Geschichten zu Ohren gekommen. Wenn ich auf der Bühne über Sexualität spreche, dann sind das nicht zwangsläufig persönliche Erfahrungen, sondern es sind eher Geschichten. Aber allein dadurch, dass wir einen Raum geschaffen haben, um über diese Thematiken zu sprechen und sie zu versprachlichen, konnten sich entsprechende Möglichkeitsräume entfalten.

MS: Durch das Schaffen eines öffentlichen Raumes unterstreichst du die Idee, dass sexuelle Praktiken nicht nur etwas Intimes und Privates sind.

MI: Normalerweise ordnen wir Sexualität der privaten Sphäre zu, aber durch #MeToo ist uns bewusst geworden, dass Sexualität darüber hinaus einen großen Einfluss auf den öffentlichen Bereich ausübt und auch darauf, wie dieser organisiert wird. Machtstrukturen offenbaren sich auf sämtlichen politischen Ebenen; ob es um Krieg geht oder darum, wer das Land regiert und wie viele Frauen einen Platz im Parlament bekommen. Wirft man einen Blick auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit oder darauf, wie viele Frauen in der Unternehmungsleitung tätig sind, dann ist doch deutlich zu erkennen, dass noch immer Männer an der Spitze der einflussreichsten Unternehmen und Institutionen stehen. Und dieses Ungleichgewicht ist natürlich problematisch. Ich habe die Theorie, dass unser Umgang mit Sexualität innerhalb des intimen Kontextes sich stark auf Machtgefüge im öffentlichen Raum auswirkt. Die Mikro- und Makrostrukturen sind meiner Ansicht nach ausgeprägt miteinander verwoben. Und man kann durchaus etwas lernen, wenn man sich die intimsten Strukturen auf dem Feld der Sexualität und der Emotionen ansieht. In to come (extended) behandeln wir Aktivitäten, die man üblicherweise Paaren zuschreiben würde, und wir übertragen sie auf große Gruppen. Wenn also der sexuelle Akt, der normalerweise von zwei Menschen ausgeübt wird, im Gruppenkontext umgesetzt wird, dann entsteht daraus eine Orgie. Und was bedeutet das eigentlich? Darin liegt für mich auch eine Art Kritik in Bezug auf die Strukturen, die unsere gesellschaftliche Wahrnehmung von sexuellem Vergnügen dominieren. Doch die Kritik gilt darüber hinaus auch mitunter repressiven Familienstrukturen. Wird eine andere Form der Gleichberechtigung geschaffen oder eine andere Form der Flexibilität in Bezug auf Machtverschiebungen im intimen Raum, dann könnte
sich meiner Meinung nach ein Effekt auf die Funktionsweise von Makrostrukturen einstellen.

WIE VIEL MEINES SEXUELLEN HANDELNS KOMMT WIRKLICH VON MIR? WIE VIEL IST ERLERNT, UND WIE VIEL STEHT UNTER DEM EINFLUSS DER ZIRKULIERENDEN BILDER, AUF DIE WIR ALLE ZUGRIFF HABEN? Mette Ingvartsen

MS: Ich teile diese Ansichten. In einem unserer Interviews fiel der Satz: »Vielleicht begründet sich die Tragödie unserer Gesellschaft darin, dass die meisten Menschen nicht den Sex bekommen, den sie sich wünschen.« Ich denke, die Welt sähe völlig anders aus, wenn sich das ändern würde.

MI: Ja, mit Sicherheit.

MS: Als du vor fünf Jahren to come (extended) erarbeitet hast, war eine Pandemie bloss ein fiktives Horrorszenario und jetzt, wo wir zusammen sprechen, am 7. März 2022, scheint sich diese endlich einem Ende zuzuneigen, aber die Welt sieht in Europa gerade sehr düster aus.

MI: Ja, Corona wird plötzlich nebensächlich, was angesichts der aktuellen Geschehnisse auch natürlich ist, und man kann sich nur eingeschränkt darüber freuen, dass sich das Ende einer Periode einstellt, die uns lange Zeit beschäftigt hat, da die eine Krise von der nächsten abgelöst wird. In diesen Tagen gestaltet sich das Spüren der Freude, über die wir gesprochen haben, durchaus als komplexes Unterfangen; aber als ich überlegt habe, welche der älteren Gruppen-Performances ich gern noch einmal aufgreifen würde, erschien mir to come (extended) am sinnvollsten. Das Projekt weist Parallelen auf zu der Situation, in der wir uns während der letzten zwei Jahre befunden haben. Es gab keine Zusammenkünfte und keinen körperlichen Kontakt, und gegenseitiges Berühren und sogar die bloße Nähe zu anderen Menschen sind zu einer Gefahr geworden. Mein Gefühl sagt mir, dass es außerordentlich wichtig ist, wieder Freude zu empfinden und sich darüber zu freuen, wieder zusammen zu sein. Und in to come (extended) geht es genau darum; die Performance besteht aus Gruppenchoreografien und Gruppendynamiken und beschreibt, was sich nicht allein, sondern nur als Gruppe erreichen lässt. Es gibt nicht ein einziges Solo in der gesamten Performance, sondern ausschließlich kollektive Bewegungen innerhalb von Gruppenkonstellationen. Gewissermaßen lässt sich das als Statement gegenüber unserer aktuellen Situation auffassen, in der wir uns überlegen, wie wir unser Sozialleben wieder mit neuer Energie aufladen können. Ich denke nämlich, dass es genau das ist, was wir uns alle wünschen – zumindest wünsche ich es mir. Und es gibt vermutlich eine Menge Leute, die sich einen spielerischen sozialen Kontext wünschen, der ein Zusammenkommen erlaubt, weil wir darauf über einen langen Zeitraum hinweg verzichten mussten. Endlich scheint das wieder möglich zu sein, und wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt, an dem wir ausarbeiten können, wie wir ein Zusammensein gestalten möchten.

In to come (extended) hat sich METTE INGVARTSEN choreografisch mit der Sexualität in ihrer sozialen und politischen Sphäre beschäftigt. Auch MATS STAUB setzt sich im Rahmen seiner Arbeit Intime Revolution mit den sprachlichen Facetten von Sexualität auseinander. Gemeinsam sprechen sie über Vergnügen, Machtstrukturen und den kulturellen Einfluss auf Orgasmen.