MS: Der mittlere Teil macht auch Spaß. Die Performer:innen stehen nackt beieinander und stöhnen gemeinsam – doch es ist nicht ihr individuelles Stöhnen, sondern sie imitieren die über Kopfhörer vermittelten Geräusche eines nahenden Orgasmus.
MI: Ja, wir nennen das den »Orgasmus-Chor«, es ist eine Art multipler Orgasmus, der über vier oder fünf Minuten lang andauert. Darüber haben wir herausgefunden, dass Orgasmen sich in unterschiedlichen Ländern anders anhören. Im Westen gibt es eine ähnliche Tendenz der Orgasmus-Geräusche, aber es scheint Unterschiede zu geben, wie einzelne Kulturen sexuelles Vergnügen ausdrücken. Das knüpft an die Frage an, inwiefern unser sexueller Ausdruck etwas ist, das kulturell vermittelt wird. Und inwiefern der Einfluss durch heutzutage leicht zugängliche Filme oder pornografische Inhalte eine Rolle spielen.
MS: Ja, Pornografisches findet sich allerorts, aber durch das nochmalige Sehen von to come (extended) wurde mir bewusst, dass es einen eklatanten Mangel an Diversität in den visuellen Ausdrucksformen sexueller Akte gibt.
MI: Ja, Hollywood-Sexszenen sind zu alltäglichen Eindrücken geworden, und wir haben es alle gesehen – in beinahe jedem Film gibt es eine Szene, bei der man sich denkt: »Okay, das gab es schon mal«, und es sieht immer gleich aus. Ganz am Anfang habe ich mich damit beschäftigt, wie sexuelle Bilder innerhalb kapitalistischer und kommerzieller Wirtschaften eingesetzt werden; wie sexuelle Bilder unsere visuelle Kultur überschwemmen und wie sich das auf die Art und Weise auswirkt, wie wir im realen Leben Sex haben. Es gibt nämlich definitiv eine Verbindung zwischen sexuellen Bildern, die wir abrufen können, und dem, was sich tatsächlich in unseren Schlafzimmern abspielt. Für mich war to come (extended) also auch ein Stück über den Einfluss, den diese Mechanismen des Begehrens und der Emotion auf uns ausüben. Wie viel meines sexuellen Handelns kommt wirklich von mir? Wie viel ist erlernt, und wie viel steht unter dem Einfluss der zirkulierenden Bilder, auf die wir alle Zugriff haben? Außerdem behandelt das Stück die Frage, wie man mit diesen kollektiven Bildern umgeht, sie lenkt und wie man andere Bilder oder Ideen entwerfen könnte, wie man es eben auch machen könnte oder wie es auch aussehen könnte.
MS: Es gibt tatsächlich viele Analogien zwischen unseren beiden Werken, und ich freue mich sehr, dass das Publikum der Ruhrtriennale beide erleben wird – obwohl Intime Revolution sich nicht um den visuellen Aspekt dreht, sondern um Wörter, den Mangel an Sprachlichkeit im Bereich der Sexualität und den Versuch, diesen mithilfe von persönlichen Geschichten zu überwinden.
MI: Wenn man sich Geschichten anhört, auf die man vielleicht nicht ganz so einfach zugreifen kann, erweitert das durchaus den Wortbestand. Denn über Sexualität zu sprechen, fällt noch immer eher schwer; selbst in kommunikativen und intakten Paarbeziehungen. Und es ist interessant, dass Wörter Wörter hervorrufen können und auch das Vernehmen von Wörtern den eigenen Wortbestand bereichert. Genau das war meine Erfahrung bei zwei meiner anderen Performances, bei denen es ebenfalls um Sexualität geht. Ich wurde danach oft von Leuten angesprochen, die mir sehr intime Einblicke gaben. Mir sind also schon einige Geschichten zu Ohren gekommen. Wenn ich auf der Bühne über Sexualität spreche, dann sind das nicht zwangsläufig persönliche Erfahrungen, sondern es sind eher Geschichten. Aber allein dadurch, dass wir einen Raum geschaffen haben, um über diese Thematiken zu sprechen und sie zu versprachlichen, konnten sich entsprechende Möglichkeitsräume entfalten.
MS: Durch das Schaffen eines öffentlichen Raumes unterstreichst du die Idee, dass sexuelle Praktiken nicht nur etwas Intimes und Privates sind.
MI: Normalerweise ordnen wir Sexualität der privaten Sphäre zu, aber durch #MeToo ist uns bewusst geworden, dass Sexualität darüber hinaus einen großen Einfluss auf den öffentlichen Bereich ausübt und auch darauf, wie dieser organisiert wird. Machtstrukturen offenbaren sich auf sämtlichen politischen Ebenen; ob es um Krieg geht oder darum, wer das Land regiert und wie viele Frauen einen Platz im Parlament bekommen. Wirft man einen Blick auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit oder darauf, wie viele Frauen in der Unternehmungsleitung tätig sind, dann ist doch deutlich zu erkennen, dass noch immer Männer an der Spitze der einflussreichsten Unternehmen und Institutionen stehen. Und dieses Ungleichgewicht ist natürlich problematisch. Ich habe die Theorie, dass unser Umgang mit Sexualität innerhalb des intimen Kontextes sich stark auf Machtgefüge im öffentlichen Raum auswirkt. Die Mikro- und Makrostrukturen sind meiner Ansicht nach ausgeprägt miteinander verwoben. Und man kann durchaus etwas lernen, wenn man sich die intimsten Strukturen auf dem Feld der Sexualität und der Emotionen ansieht. In to come (extended) behandeln wir Aktivitäten, die man üblicherweise Paaren zuschreiben würde, und wir übertragen sie auf große Gruppen. Wenn also der sexuelle Akt, der normalerweise von zwei Menschen ausgeübt wird, im Gruppenkontext umgesetzt wird, dann entsteht daraus eine Orgie. Und was bedeutet das eigentlich? Darin liegt für mich auch eine Art Kritik in Bezug auf die Strukturen, die unsere gesellschaftliche Wahrnehmung von sexuellem Vergnügen dominieren. Doch die Kritik gilt darüber hinaus auch mitunter repressiven Familienstrukturen. Wird eine andere Form der Gleichberechtigung geschaffen oder eine andere Form der Flexibilität in Bezug auf Machtverschiebungen im intimen Raum, dann könnte
sich meiner Meinung nach ein Effekt auf die Funktionsweise von Makrostrukturen einstellen.